Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Umsatzsteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Ausnahmefall, der auch bei Bekanntwerden ungewichtiger neuer Tatsachen eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO auf dem Gebiet der Umsatzsteuer rechtfertigt, liegt u. a. vor, wenn ein Steuerpflichtiger Fehler begeht, die bei Anwendung eines normalen Maßes an Sorgfalt hätten vermieden werden können.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 1; UStG § 5 Abs. 4 Ziff. 2

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Steuerpflichtige - Stpfl. -) hatte in ihren Umsatzsteuererklärungen für die Kalenderjahre 1958 bis 1960 bei der Berechnung der Umsatzsteuerschuld die auf die Verpackungsauslagen entfallenden Umsatzsteuern abgesetzt. Der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) hatte die Stpfl. entsprechend ihren Erklärungen veranlagt. Nach Rechtskraft der Umsatzsteuerveranlagungen stellte sich heraus, daß die Voraussetzungen für den Abzug gemäß § 5 Abs. 4 Ziff. 2 UStG nicht vorlagen. Auf Anfrage teilte die Stpfl. dem FA mit, "daß die Verpackungsmaterialien fast ausnahmslos von den Abnehmern nicht zurückgegeben werden und deshalb im Regelfall eine Entgeltsminderung nicht stattfindet". (Nach den Ausführungen der Stpfl. in der Revisionsinstanz scheidet die Rückgabe ganz aus, weil die Verpackung geringwertig ist und auf dem Transport und beim Auspacken beschädigt wird.) Daraufhin berichtigte das FA die Umsatzsteuerveranlagungen für 1958 bis 1960 nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO, indem es die ursprünglich veranlagten Umsatzsteuern um die zu Unrecht abgesetzten Beträge erhöhte, obwohl die bekanntgewordene neue Tatsache nach den im Urteil des Senats V 180/59 U vom 8. Februar 1962 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 74 S. 610 - BFH 74, 610 -, BStBl III 1962, 225) aufgestellten Richtlinien bei Annahme eines "Regelfalles" nicht "von einigem Gewicht" war (jährlich Mehrsteuern unter 1.000 DM und weniger als 10 v. H. der bisherigen Umsatzsteuern) und daher Berichtigungsveranlagungen nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO nicht "rechtfertigte". Das FA hielt jedoch unter Hinweis auf das Urteil des Senats V 211/61 U vom 8. Februar 1962 (BFH 74, 675, BStBl III 1962, 249) einen Regelfall nicht für gegeben.

Auf die Sprungberufung der Stpfl. setzte das Finanzgericht (FG) unter Aufhebung der Berichtigungsbescheide die ursprünglichen Umsatzsteuerbescheide für 1958 bis 1960 wieder in Kraft. Das FG trat zwar den oben angegebenen Entscheidungen des Senats bei, reihte aber im Gegensatz zum FA den Streitfall unter die Regelfälle ein. Es führte aus, "Ausnahmefälle" im Sinne des Urteils V 211/61 U vom 8. Februar 1962 (a. a. O.) könnten nur bei "erheblichem Verschulden" angenommen werden. Ein solches liege im Streitfall nicht vor.

Die Rb. des FA-Vorstehers, die nach Inkrafttreten der FGO als Revision zu behandeln ist (§§ 184 Abs. 2, 115 ff. FGO), wird auf unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts gestützt. Die Auffassung, daß die für eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO erforderliche neue Tatsache von einigem Gewicht sein müsse, ist nach Ansicht des FA rechtswidrig. Aus dem Urteil des Senats V 211/61 U vom 8. Februar 1962 (a. a. O.) ergebe sich ferner nicht, daß ein Regelfall nur bei wesentlichem Verschulden ausscheidet. Auch könne das Verschulden der Stpfl. bei Abgabe der unrichtigen Steuererklärungen nicht als unerheblich bezeichnet werden. Die Stpfl. habe beim Abzug der auf die Warenumschließungskosten entfallenden Umsatzsteuern mindestens "leichtfertig" gehandelt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung. Der an erster Stelle vom FA geltend gemachte Einwand, das Erfordernis der Gewichtigkeit der neuen Tatsache sei gesetzwidrig, greift nicht durch. Der Reichsfinanzhof (RFH) hat dieses Erfordernis schon vor Jahrzehnten (vgl. Urteil I A 19/30 vom 7. März 1930, RStBl 1930, 444) aufgestellt und der Bundesfinanzhof (BFH) hat in ständiger Rechtsprechung daran festgehalten. Die Gründe hierfür sind wiederholt dargelegt worden (vgl. z. B. BFH- Urteil V 180/59 U vom 8. Februar 1962, a. a. O.). Die kurzen Ausführungen des FA zu dieser Frage und sein Hinweis auf abweichende Auffassungen im Schrifttum und im Urteil des FG Hamburg I 39-42/63 vom 19. März 1963 (Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe B, 1963 S. 405) geben dem Senat keinen Anlaß, seinen Standpunkt nochmals zu begründen.

Dagegen ist den weiteren Ausführungen des FA in der Revisionsbegründung im Ergebnis zuzustimmen. Die Einschränkung, daß neue Tatsachen, wenn sie zu einer Berichtigungsveranlagung führen sollen, "von einigem Gewicht" sein müssen, beruht insbesondere auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen FA und Steuerpflichtigen, der aus dem über den einzelnen Rechtsnormen stehenden Prinzip von Treu und Glauben abgeleitet ist (BFH-Urteil V 180/59 U vom 8. Februar 1962, a. a. O.). Dieser Grund für die Einschränkung entfällt, wenn sich einer der Beteiligten nicht so verhält, wie nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erwartet werden kann (BFH-Urteil V 202/63 U vom 15. Oktober 1964, BFH 80, 525, BStBl III 1964, 662). Ein solcher Fall ist zweifellos gegeben, wenn ein Steuerpflichtiger sich eines Steuerdelikts (z. B. einer Steuerhinterziehung oder einer fahrlässigen Steuerverkürzung - §§ 396, 402 AO -) schuldig macht. Auf der anderen Seite gehören bloße Versehen, Irrtümer, falsche Rechtsauslegung und dergleichen nicht hierher. Andernfalls würden die Ausnahmefälle zur Regel, und die Beschränkung der Berichtigungsveranlagungen auf das Bekanntwerden von Tatsachen "von einigem Gewicht" verlöre jede Bedeutung. Das FA kann sich nicht darauf verlassen, daß dem Steuerpflichtigen keine Fehler unterlaufen, wie sie auch in einem ordnungsmäßig geführten Unternehmen infolge menschlicher Unzulänglichkeit vorkommen können.

Die Fehler dürfen aber nicht außerhalb einer durchschnittlichen Norm liegen, mit anderen Worten, es darf sich nicht um Fehler handeln, die bei Anwendung eines normalen Maßes an Sorgfalt hätten vermieden werden können. Das FA kann z. B. darauf vertrauen, daß der Unternehmer einfache und eindeutige Vorschriften, die von einer im Wirtschaftsleben stehenden Person nicht mißverstanden werden können, richtig anwendet und Maßnahmen trifft, die Fehler schwerer Art bei der Abgabe der Steuererklärungen ausschließen. Die Vertrauensgrundlage zwischen FA und Steuerpflichtigem ist u. a. gestört, wenn der Unternehmer bei Abgabe seiner Umsatzsteuererklärung eine Begünstigungsvorschrift anwendet, auf die er nach ihrem einfachen und klaren Wortlaut keinen Anspruch hat.

Ein solcher Fall ist hier gegeben. Nach § 5 Abs. 4 Ziff. 2 UStG können die Kosten der Warenumschließung vom Entgelt für steuerpflichtige Umsätze nur abgesetzt werden, wenn der Lieferer die Warenumschließung zurücknimmt und das Entgelt um den auf sie entfallenden Teil mindert. Diese Voraussetzungen trafen im Streitfall nicht zu. Die Vorschrift ist eindeutig und läßt keinen Raum für Auslegungen. Es kommt hinzu, daß in den Umsatzsteuererklärungsvordrucken zu den Zeilen, in denen die absetzbaren Entgelte anzugeben sind, darauf hingewiesen wird, daß es sich um Gutschriften für zurückgenommene Warenumschließungen handeln muß (Abschnitt B 7 m bzw. n des Vordrucks). Die Stpfl. kann sich nicht damit entschuldigen, daß die mit der Bearbeitung der Umsatzsteuersachen beauftragte Mitarbeiterin den Text des Vordrucks falsch aufgefaßt und der geschäftsführende Gesellschafter den Fehler nicht entdeckt habe. Derartige Fehler, die auf Nachlässigkeit und mangelnder Kontrolle beruhen, gehen zu Lasten des Unternehmers, der am Ende der Steuererklärung versichert, die Angaben nach bestem Wissen und Gewissen richtig und vollständig gemacht zu haben.

Da mithin die Stpfl. sich nicht so verhalten hat, wie nach den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens zwischen ihr und dem FA erwartet werden konnte, hat das FA, ohne daß es einer Prüfung bedurfte, ob ein Steuerdelikt vorliegt, zu Recht die Annahme eines Regelfalles abgelehnt und trotz der niedrigen Mehrsteuern die ursprünglichen Umsatzsteuerbescheide für 1958 bis 1960 gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO berichtigt. Unter Aufhebung der Vorentscheidung war daher die Sprungberufung (jetzt Klage) der Stpfl. gegen die Berichtigungsveranlagungen als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412216

BStBl III 1966, 635

BFHE 1966, 634

BFHE 86, 634

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