Entscheidungsstichwort (Thema)

Treu und Glauben; Drittgläubiger wird durch einen dem Steuerschuldner in Aussicht gestellten Erlaß zum Forderungsverzicht veranlaßt

 

Leitsatz (NV)

Stellt ein FA dem Steuerschuldner einen Steuererlaß unter der Bedingung in Aussicht, daß ein Drittgläubiger auf Forderungen ganz oder teilweise verzichtet, und wird der Drittgläubiger davon mit Willen des FA unterrichtet, so verstößt das FA gegen Treu und Glauben, wenn es nach dem durch seine Zusage veranlaßten Forderungsverzicht des Drittgläubigers einen Steuererlaß ablehnt und den Drittgläubiger für die ungekürzte Steuerschuld als Haftungsschuldner in Anspruch nimmt.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 4, 34-35, 69, 191 Abs. 5 Nr. 2

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist ein Kreditinstitut in der Rechtsform der AG. Sie wurde vom Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) als Haftungsschuldnerin für die Einkommensteuerschuld der Ärztin X in Anspruch genommen.

1. X betreibt seit 1981 eine selbständige Arztpraxis in A. Die Klägerin hatte ihr einen größeren Bankkredit gewährt. Für X Einkünfte im Jahr 1985 setzte das FA die Einkommensteuer mit Bescheid vom 28. Oktober 1987 auf 29418 DM fest. Aus dieser Steuerschuld bestanden im Jahre 1988 noch Zahlungsrückstände in Höhe von 17095,06 DM zuzüglich Säumniszuschlägen in Höhe von 6429 DM. Die Zahlungsrückstände waren entstanden, als die Klägerin sich im Februar 1988 geweigert hatte, eine Zahlungsanweisung der X zum Ausgleich der Steuerschulden auszuführen. Die Klägerin war zu einer weiteren Ausweitung der an X gewährten Kredite nicht bereit. Die Kreditverbindlichkeiten der X gegenüber der Klägerin beliefen sich damals auf 558000 DM. Zur Sicherung ihrer Forderungen ließ sich die Klägerin am 11.Februar 1981 sämtliche gegenwärtigen und künftigen Forderungen der X gegen die Kassenärztliche Vereinigung abtreten. Die Ansprüche aus den Honorarforderungen gegen Privatpatienten hatte X zur Sicherung weiterer Darlehensverbindlichkeiten an die . . .Bank abgetreten. Die laufenden Geschäftsunkosten der X wurden von einem Girokonto bei der Klägerin bestritten, wobei X die Zahlungsanweisungen erteilte und sämtliche Überweisungsaufträge unterzeichnete.

Einen Antrag der X auf Erlaß der Steuerschulden lehnte das FA mit Bescheid vom 17. März 1988 ab. Über die dagegen eingelegte Beschwerde ist noch nicht entschieden.

Während des Beschwerdeverfahrens teilte das FA dem steuerlichen Berater der X mit Schreiben vom 6. Oktober 1988 mit, ein Erlaß der Einkommensteuerschuld 1985 komme in Betracht, wenn die wirtschaftliche Existenz X nach dem Erlaß gesichert sei. Dazu sei es unerläßlich, bei der Klägerin ebenfalls einen Teilerlaß zu erwirken. Das FA regte eine gemeinsame Besprechung mit der Klägerin und dem Vertreter des FA an. Der steuerliche Berater der X teilte dem FA daraufhin mit Schreiben vom 16. Januar 1989 mit, daß die Klägerin einen Forderungsverzicht schriftlich abgelehnt habe. Im Beschwerdeverfahren teilte darauf die zuständige Oberfinanzdirektion (OFD) dem Bevollmächtigten der X mit Schreiben vom 30. Mai 1989 mit, daß ein Steuererlaß nicht in Betracht komme, wenn er nur zu einer besseren Befriedigung anderer Gläubiger führe. Die OFD stellte anheim, mit der Klägerin zu klären, ,,ob und ggf. in welchem Umfang sie im Hinblick auf ihre Sicherheiten damit einverstanden ist, zur Erlangung eines eventuellen Steuererlasses" für X auf ihre vorrangige Befriedigung zu verzichten. Nach eingehenden Verhandlungen der X mit der Klägerin verzichtete diese gegen Zahlung von 180000 DM auf ihre Restforderungen und trat die ihr überlassenen Sicherheiten an ein anderes Kreditinstitut ab. Darauf unterrichtete das FA den steuerlichen Berater der X mit Schreiben vom 1. August 1990 von seiner Absicht, nunmehr die rückständige Einkommensteuer 1985 in Höhe von 17095,06 DM zu erlassen, ,,nachdem nunmehr die (Klägerin) auf 61% ihrer Forderungen verzichtet hat". Das FA bat um Mitteilung, ob sich die Beschwerde der X damit erledigt habe. X antwortete mit Schreiben vom 15. August 1990, daß die Beschwerde ,,nach Erlaß der rückständigen Einkommensteuer 1985" als erledigt anzusehen sei.

Trotz der Erlaßankündigung erließ das FA keinen Erlaßbescheid. Es nahm vielmehr die Klägerin mit Haftungsbescheid vom 20. Dezember 1990 für Einkommensteuerschulden 1985 der X in Höhe von 23317,44 DM zuzüglich Säumniszuschlägen in Anspruch. Die Klägerin habe als Vermögensverwalterin der X die ihr obliegende Verpflichtung, die Steuern aus den ihrer Verwaltung unterliegenden Mitteln zu entrichten, nicht erfüllt (§§ 34, 69 Abs. 3 der Abgabenordnung - AO 1977 -). Die Stellung als Vermögensverwalterin habe sie durch die Globalzession der hauptsächlichen laufenden und künftigen Ansprüche der X erlangt.

2. Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage der Klägerin gab das Finanzgericht (FG) statt und hob den Haftungsbescheid auf.

3. Das FA stützt seine Revision auf Verletzung der §§ 34, 35, 69 AO 1977).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist unbegründet. Sie war zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Es kann dahinstehen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Haftung der Klägerin gemäß §§ 34, 35, 69 AO 1977 gegeben waren. Der Haftungsbescheid des FA vom 20. Dezember 1990 war schon deshalb aufzuheben, weil sein Erlaß gegen Treu und Glauben verstößt.

2. Der auch im Steuerrecht geltende Grundsatz von Treu und Glauben gebietet, daß im Steuerrechtsverhältnis jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nimmt und sich mit seinem eigenen früheren (nachhaltigen) Verhalten nicht in Widerspruch setzt (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 4. November 1975 VII R 28/92, BFHE 117, 317, 321), auf das der andere vertraut und aufgrund dessen er unwiderrufbar disponiert hat (BFH-Urteile vom 9. August 1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990, 992; vom 6. Februar 1991 I R 13/86, BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673, 675; vgl. auch Tipke/Lang, Steuerrecht, 13. Aufl., § 21, 4.1. S. 681).

3. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.

a) FA und OFD hatten mit ihren Schreiben vom 6. Oktober 1988 und vom 30. Mai 1989 einen Vertrauenstatbestand geschaffen.

In diesen Schreiben hatten FA und OFD bekundet, daß ein Steuererlaß in Betracht komme, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt seien. Zum einen müsse die wirtschaftliche Existenz der X nach einem etwaigen Steuererlaß gesichert sein und zum anderen dürfe der Erlaß nicht zur besseren Befriedigung anderer Gläubiger wirken. Letzteres sei anzunehmen, solange die Klägerin nicht bereit sei, auf eigene Forderungen zu verzichten. Die erste Voraussetzung einer hinreichenden Altersversorgung nach einem Steuererlaß bejahte die OFD im Schreiben vom 30. Mai 1989 bereits selbst, da X Ansprüche nach dem Fremdrentengesetz besaß. Damit blieb als weitere Voraussetzung eines Steuererlasses nur der von der Steuerverwaltung geforderte Forderungsverzicht der Klägerin. X und ihre Berater konnten nach dem Schreiben des FA vom 6. Oktober 1988 darauf vertrauen, daß das FA nach dem von der Klägerin ausgesprochenen Forderungsverzicht über rd. 270000 DM einen Billigkeitserlaß aussprechen werde. Den gleichen Eindruck mußte das Schreiben der OFD vom 30. Mai 1989 vermitteln, in dem die OFD anheimstellte, mit der Klägerin zu klären, ob und in welchem Umfang diese ,,zur Erlangung eines eventuellen Steuererlasses auf vorrangige Befriedigung verzichte". Dieser Eindruck entsprach im übrigen auch dem Willen des FA. Das ergibt sich nicht zuletzt aus dem Schreiben des FA vom 1. August 1990, in dem das FA wegen des inzwischen erfolgten Forderungsverzichts der Klägerin den bevorstehenden Steuererlaß ankündigte.

b) Das vertrauensbildende Verhalten der Steuerbehörde war auch nachhaltig.

Die Behörden der Steuerverwaltung brachten durch die Schreiben vom 6. Oktober 1988, 30. Mai 1989 und 1. August 1990 während rd. zweieinhalb Jahren kontinuierlich zum Ausdruck, daß die Einkommensteuerschulden der X erlassen werden könnten, wenn sich die Klägerin mit einem substantiierten Forderungsverzicht an der Sanierung beteiligte. Übereinstimmende Äußerungen während eines solchen Zeitraums erfüllen das Merkmal der ,,Nachhaltigkeit".

c) Das Vertrauensverhältnis erstreckte sich auch auf die Klägerin.

Zwar waren die Schreiben vom 6. Oktober 1989 und vom 30. Mai 1989 nicht an die Klägerin, sondern an X bzw. deren Bevollmächtigten gerichtet. Die Schreiben sollten jedoch nach dem Willen des FA Grundlage der Verhandlungen zwischen X und der Klägerin sein. Das ergibt sich aus der im Schreiben vom 6. Oktober 1988 vom FA angeregten Besprechung unter Beteiligung der Klägerin. Es ergibt sich verstärkt auch aus der im Schreiben der OFD vom 30. Mai 1989 angeregten Besprechung X mit der Klägerin. Es entsprach der Absicht des FA und der OFD, daß X bzw. ihre Bevollmächtigten die Stellungnahmen der Steuerverwaltung bei der Klägerin als zusätzliches Argument für einen Forderungsverzicht verwenden sollten. Das FA muß auch das Schreiben der OFD gegen sich gelten lassen, da aus der Sicht der Klägerin die Steuerverwaltung als eine Einheit anzusehen ist.

d) Nach der Rechtsprechung des BFH setzt die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben regelmäßig voraus, daß sich der Steuerpflichtige und die Verwaltungsbehörde als Partner eines konkreten Rechtsverhältnisses gegenüberstehen (vgl. u.a. die Urteile vom 10. Juni 1975 VIII R 50/72, BFHE 116, 103, 105, BStBl II 1975, 789, in BFHE 117, 317, 321; vom 25. Oktober 1977 VII R 5/74, BFHE 124, 105, 107, 108, BStBl II 1978, 274; in BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 1990).

Auch diese Voraussetzung liegt vor. Das Rechtsverhältnis zwischen dem FA und der Klägerin ergab sich aus dem von der Steuerverwaltung angenommenen Haftungsverhältnis gemäß §§ 34, 35, 69 AO 1977. Insoweit ist ohne Bedeutung, daß der Haftungsbescheid erst erging, nachdem die Behörden der Steuerverwaltung den Vertrauenstatbestand geschaffen hatten. Ein Vertrauensverhältnis kann durch ein konkretes, personenbezogenes Verhalten gegenüber einem bestimmten Haftungsschuldner auch dann begründet werden, wenn die vertrauensbildenden Umstände der Geltendmachung des Haftungsanspruchs zeitlich vorausgehen.

e) Das FA setzte sich mit seinem eigenen Verhalten in Widerspruch, wenn es trotz des geforderten Forderungsverzichts der Klägerin den angekündigten Steuererlaß nicht gewährte und die Klägerin als Haftende für die zum Erlaß vorgesehenen Einkommensteuerschulden X in Anspruch nahm. Zwar bezog sich das vertrauensbildende Verhalten des FA vorrangig nur auf den angekündigten Steuererlaß und nicht auf die Nichtgeltendmachung eines Haftungsanspruchs. Beide Handlungen sind jedoch rechtlich verknüpft. Durch den angekündigten Steuererlaß wäre die Einkommensteuerschuld der X erloschen und damit der Geltendmachung eines Haftungsanspruchs die Grundlage entzogen worden. Ein Haftungsbescheid kann nicht mehr ergehen, wenn die Steuer erlassen worden ist (§ 91 Abs. 5 Nr.2 AO 1977).

f) Die Klägerin hat im Vertrauen auf die Absichten des FA auch disponiert.

Das FG hat festgestellt, daß das Verhalten des FA zumindest mitursächlich für den Forderungsverzicht war. Damit ist die Kausalität der vertrauensbildenden Schreiben des FA für die Disposition des Forderungsverzichts ausreichend festgestellt. Es ist nicht erforderlich, daß das vertrauensbildende Verhalten die einzige Ursache für die Disposition des Haftungsschuldners darstellt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 418429

BFH/NV 1993, 573

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