Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen des Erlasses berichtigter Bescheide gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977

 

Leitsatz (NV)

Erlässt das FA gegen eine Körperschaft mit satzungsmäßigen Untergliederungen einen einheitlichen Körperschaftsteuerbescheid in der Annahme, dass sie lediglich einen Betrieb gewerblicher Art unterhält und hebt das FG diesen Bescheid mit der Begründung auf, die Körperschaft unterhalte für jede Untergliederung jeweils einen eigenen Betrieb gewerblicher Art, kann das FG hieraus nachträglich die steuerlichen Folgerungen durch Erlass gesonderter Bescheide ziehen.

 

Normenkette

AO 1977 § 18 Abs. 1 Nr. 2, § 20 Abs. 1, § 174 Abs. 4 S. 1, § 180 Abs. 1 Nr. 2b; KStG § 1 Abs. 1 Nr. 6

 

Verfahrensgang

FG Baden-Württemberg (EFG 1999, 798)

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine Landesärztekammer mit Geschäftsleitung im Bezirk des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―), ist als Körperschaft des öffentlichen Rechts Berufsvertretung der Ärzte auf Landesebene. Sie hat in Übereinstimmung mit ihrer Satzung Untergliederungen in Form von Bezirksärztekammern (BÄK) gebildet. Diese vermitteln für ihre Mitglieder Versicherungen.

Zwischen der Klägerin und dem FA war streitig, ob die Klägerin oder die BÄK Steuersubjekt seien und ob die BÄK jeweils Betriebe gewerblicher Art (BgA) unterhielten. Für das Streitjahr 1988 erließ das FA einen Körperschaftsteuerbescheid gegen die Klägerin, in dem es von lediglich einem BgA ausging. Diesen Bescheid hob das Finanzgericht (FG) mit rechtskräftigem Urteil auf. Es entschied, dass die Klägerin zwar Steuersubjekt sei, jedoch in Form der BÄK jeweils BgA vorlägen. Daher müssten unterschiedliche (an die Klägerin zu richtende) Körperschaftsteuerbescheide mit jeweils gesonderten Steuerfestsetzungen ergehen.

Daraufhin erließ das FA am 7. Juli 1998 unter Berufung auf § 174 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) für jeden der BgA (BÄK) einen gesonderten Bescheid, der an die Klägerin unter Bezeichnung des jeweiligen BgA "Versicherungen" gerichtet war. Dagegen hat die Klägerin erneut Klage mit dem Antrag erhoben, die Bescheide aufzuheben. Diese Klage ist Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits.

Das FG wies die Klage ab. Auf die in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 798 abgedruckten Entscheidungsgründe wird verwiesen.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung von § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977. Sie beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung und alle Körperschaftsteuerbescheide aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision der Klägerin war als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Das FG hat zu Recht entschieden, dass das FA gemäß § 174 Abs. 4 AO 1977 befugt war, die angefochtenen Bescheide zu erlassen, und dass diese nicht wegen des Erfordernisses gesonderter Feststellungen der Gewinne der BgA rechtswidrig sind.

1. Nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 können, wenn aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Dies gilt auch dann, wenn der Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird (§ 174 Abs. 4 Satz 2 AO 1977).

Diese Bestimmung eröffnet u.a. die Möglichkeit, Folgerungen aus einem bestimmten Sachverhalt, die zunächst nicht im "richtigen" Bescheid, sondern in einem anderen Verfahren gezogen worden sind, durch Erlass eines richtigen Bescheids nachzuholen (Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 8. Juli 1992 XI R 54/89, BFHE 168, 231, BStBl II 1992, 867, m.w.N.). § 174 Abs. 4 AO 1977 erfasst somit auch die Fälle, in denen die Finanzbehörde aus einem bestimmten Sachverhalt die steuerrechtlichen Folgerungen ziehen will, sich dabei aber darüber irrt, welches Steuersubjekt (welcher Steuerpflichtige = Inhaltsadressat) oder welches Besteuerungsobjekt betroffen ist (BFH-Urteil vom 26. Oktober 1994 II R 84/91, BFH/NV 1995, 476). Irrig ist die Beurteilung eines Sachverhaltes, wenn sie sich nachträglich als unrichtig erweist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 16. Februar 1996 I R 150/94, BFHE 180, 8, BStBl II 1996, 417; vom 18. Februar 1997 VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647). Ob der Fehler im tatsächlichen oder rechtlichen Bereich anzusiedeln ist, ist unerheblich (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 174 AO Anm. 39). Hat das FG den zunächst angefochtenen Bescheid aufgehoben, ist die Finanzbehörde an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der Aufhebung zugrunde liegt (§ 100 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz FGO; vgl. auch Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 174 AO Anm. 25).

2. a) Im Streitfall hat das FA mit den angefochtenen Bescheiden aus dem vorgegebenen Sachverhalt innerhalb der Frist des § 174 Abs. 4 Satz 3 AO 1977 die im vorangegangenen Urteil des FG vom 15. Januar 1998 6 K 501/97 vorgegebenen steuerlichen Folgerungen nachvollzogen. Danach waren Körperschaftsteuerbescheide für jeden BgA, wenn auch gerichtet an die Klägerin als Steuersubjekt, zu erlassen. Das FG hat sich dabei auf die BFH-Urteile vom 13. März 1974 I R 7/71 (BFHE 112, 61, BStBl II 1974, 391) und vom 4. Dezember 1991 I R 74/89 (BFHE 166, 342, BStBl II 1992, 432) gestützt, wonach eine Körperschaft des öffentlichen Rechts Steuersubjekt wegen jedes einzelnen Betriebes i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 6 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) ist. Das Einkommen der einzelnen Betriebe sei daher gesondert zu ermitteln und die Körperschaftsteuer jeweils entsprechend festzusetzen.

Mit dem Erlass "richtiger" Bescheide hat das FA dem gesetzgeberischen Zweck des § 174 Abs. 4 AO 1977 entsprochen, bei einer antragsgemäßen Änderung oder Aufhebung eines Steuerbescheides zugunsten des betroffenen Steuerpflichtigen die Durchsetzung des sich aus demselben Sachverhalt ergebenden richtigen Steueranspruchs zu ermöglichen (BFH-Urteile in BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647; vom 10. März 1999 XI R 28/98, BFHE 188, 409, BStBl II 1999, 475; Tipke/Kruse, a.a.O.). Der Steuerpflichtige, der die Aufhebung eines Steuerbescheides erwirkt hat, soll innerhalb eines Jahres an seinem Rechtsstandpunkt auch insoweit festgehalten werden, als dieser für ihn anderweitig zu nachteiligen steuerlichen Konsequenzen führt (vgl. dazu Klein/ Rüsken, Abgabenordnung, 7. Aufl., § 174 Anm. 51).

b) Ein ―vom FA zunächst als solcher beurteilter― einheitlicher BgA der Klägerin ist ein von ihren BgA "Vermittlungen" zu unterscheidendes Steuerrechtsobjekt. Die jeweilige Besteuerung erfolgt im Rahmen verschiedener Besteuerungsverfahren, in denen der "bestimmte Sachverhalt" geregelt werden könnte und vorliegend geregelt worden ist (BFH-Urteil in BFHE 168, 231, BStBl II 1992, 867). Die angefochtenen Bescheide sind somit "andere" Bescheide (BFH-Urteil vom 11. Juli 1991 IV R 52/90, BFHE 165, 449, BStBl II 1992, 126, 127). Sie bedeuten keine bloße Änderung des nämlichen Bescheids, die durch § 174 Abs. 4 AO 1977 nicht gerechtfertigt wäre. Der Tatsache, dass es sich vorliegend um getrennte Steuerfestsetzungen handelt, kommt keine Bedeutung zu (vgl. auch Klein/Rüsken, a.a.O., Anm. 52). Andererseits sind die BgA als Steuerobjekte der geänderten Bescheide nicht "Dritte" i.S. des § 174 Abs. 5 AO 1977. Dritter ist nur derjenige, der in dem fehlerhaften Bescheid nicht als Steuerschuldner angegeben ist (BFH-Urteil vom 5. Mai 1993 X R 111/91, BFHE 171, 400, BStBl II 1993, 817). Steuerschuldnerin war und ist in beiden Fällen die Klägerin.

3. Eine gesonderte Feststellung der Gewinne der BgA der Klägerin war nicht veranlasst. Die Voraussetzungen des § 180 Abs. 1 Nr. 2 b AO 1977 liegen nicht vor. Die Geschäftsleitung der Klägerin im Sinne des Mittelpunkts ihrer geschäftlichen Oberleitung (§ 10 AO 1977) befindet sich unstreitig an ihrem Sitz im Bezirk des beklagten FA. Nach den den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG umfasst die Geschäftsleitung der Klägerin auch die Geschäftsleitung ihrer Betriebe gewerblicher Art. In Bezug auf diese Feststellungen hat die Klägerin keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen vorgebracht. Das beklagte FA ist somit sowohl für die Feststellung der Einkünfte aller BgA (§ 18 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977) als auch für die Besteuerung des sich daraus ergebenden Einkommens der Klägerin zuständig (§ 20 Abs. 1 AO 1977).

4. Ein Antrag, die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das außergerichtliche Vorverfahren für notwendig zu erklären, ist im Revisionsverfahren unzulässig. Die Entscheidung nach § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO gehört sachlich zum Kostenfestsetzungsverfahren; zuständig hierfür ist das Gericht des ersten Rechtszuges (vgl. etwa BFH-Urteil vom 28. April 1998 VIII R 22/95, BFHE 186, 214, BStBl II 1998, 560).

 

Fundstellen

Haufe-Index 603052

BFH/NV 2001, 1099

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