Leitsatz (amtlich)

Werden hinterzogene Lohnsteuerbeträge von einem Arbeitnehmer nach § 223 AO nachgefordert, so sind Steuerermäßigungsgründe, die der Arbeitnehmer im Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren hätte geltend machen können, auch noch nach Ablauf der Frist für den Antrag auf Durchführung eines Lohnsteuer-Jahresausgleichs zu berücksichtigen.

 

Normenkette

AO §§ 144, 223, 392; FGO § 76

 

Tatbestand

I. Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist ledig und an seinem Wohnort als Kraftfahrer beschäftigt. Bei einer Lohnsteueraußenprüfung stellte der Prüfer fest, daß auf der Lohnsteuerkarte 1968 für den Kläger ein auffallend hoher Freibetrag eingetragen war. Eine Rückfrage des Prüfers beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt M – West – FA-W –) ergab, daß bei der Lohnsteuerstelle keine Unterlagen über Eintragungsverfahren für den Kläger – auch nicht für die Jahre vor 1968 – vorhanden waren.

Bei den Eintragungen auf der allein vorhandenen Lohnsteuerkarte 1968 stellte das FA-W fest, daß

  1. die bei der Eintragung des Freibetrages verwendete Blockschritt beim FA-W nicht üblich war,
  2. die Unterschrift für den zuständigen Beamten der Lohnsteuerstelle unleserlich war und die Schriftzüge unbekannt waren,
  3. das aufgedruckte Dienstsiegel eine unleserliche FA-Bezeichnung aufwies.

Außerdem fiel auf, daß die auf den Lohnsteuerkarten 1961 bis 1965 und 1967 eingetragenen Jahresbeträge entgegen den Anweisungen (Abschn. 49 Abs. 1 LStR nicht aufgerundet waren, sondern auf Pfennigbeträge lauteten.

Das FA-W schloß aus den gesamten Umständen, daß die Freibeträge auf den Lohnsteuerkarten ab 1960 von einer nicht zuständigen Person unrechtmäßig eingetragen worden seien. Es forderte durch gesonderte Bescheide die aufgrund der Freibeträge nicht einbehaltene Lohnsteuer für die Jahre 1960 bis einschließlich 1968 in voller Höhe nach.

II. Entscheidung des Finanzgerichts (FG)

Die Klage blieb – ebenso wie der Einspruch – erfolglos.

Das FG führte aus: Der Kläger habe von 1960 bis einschließlich 1968 dadurch Lohnsteuer hinterzogen, daß er mit Hilfe einer unbefugten Person nicht gerechtfertigte Freibeträge auf seinen Lohnsteuerkarten habe eintragen lassen. Es sah die Steuerhinterziehung aufgrund folgender Feststellungen als erwiesen an: Das FA-W habe alle Lohnsteuerkarten und Anträge auf Lohnsteuerermäßigung bis zurück zum Jahre 1960 aufbewahrt. Die Lohnsteuerunterlagen für die letzten drei Jahre (bis 1965) seien in der Lohnsteuer stelle selbst, die Unterlagen für die weiter zurückliegenden Jahre in der Registratur im Keller abgelegt. Lohnsteuerunterlagen des Klägers hätten trotz intensiver Nachforschungen nicht gefunden werden können. Dies lege die Vermutung nahe, daß beim FA-W niemals Lohnsteuervorgänge des Klägers vorhanden gewesen seien. Die Eintragungen und das Dienstsiegel auf der Lohnsteuerkarte 1968 erbrächten den vollen Beweis dafür, daß der Freibetrag für 1968 nicht vom FA-W eingetragen sein könne. Durch Sachverständigengutachten sei erwiesen, daß das vom Eintragenden verwendete Dienstsiegel kein Dienstsiegel des FA-W, sondern das Siegel Nr. 7 des FA-S gewesen sei. Außerdem sei die Unterschrift der Person, die den Freibetrag eingetragen habe, allen vernommenen Beamten des FA-W unbekannt.

Nach Aussagen des Sachgebietsleiters und einer Sachbearbeiterin der Lohnsteuerstelle des FA-S sei es ausgeschlossen, daß der Lohnsteuerfreibetrag irrtümlich durch das FA-S eingetragen worden sei. Bei der Lohnsteuerstelle des FA-S gebe es keine Lohnsteuervorgänge unter dem Namen des Klägers.

Für die Täterschaft des Klägers spreche auch sein Verhalten nach der Aufklärung des Sachverhalts durch die Lohnsteueraußenprüfung.

Die Lohnsteuerfreibeträge seien auch nicht in der Höhe anzuerkennen, in der sie für die betreffenden Jahre rekonstruiert werden könnten. Eine solche Anerkennung würde im Ergebnis auf einen nachträglichen Lohnsteuer-Jahresausgleich durch das FG hinauslaufen, für den es keine Rechtsgrundlage gebe.

III. Revision des Klägers

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Das FG habe sämtliche ungeklärten Umstände des Falles zu seinen Ungunsten verwertet und den in diesem Verfahren geltenden Grundsatz des in dubio pro reo nicht beachtet. Hierin sieht der Kläger auch eine Verletzung materiellen Rechts. In der mündlichen Verhandlung trug der Kläger vor, er habe unstreitig den Freibetrag auf die Lohnsteuerkarte 1968 nicht selbst eingetragen, sondern seinen Antrag auf Lohnsteuerermäßigung durch einen Dritten ausarbeiten und einreichen lassen.

Zu Unrecht habe die Vorinstanz unterstellt, daß die Lohnsteuerkarten 1960 bis 1967, die dem Arbeitgeber vorgelegen hätten, ebenso wie die Lohnsteuerkarte 1968 ausgesehen hätten. Hiergegen spreche, daß diese Karten bei mehreren Lohnsteueraußenprüfungen nicht beanstandet worden seien.

Die Nachforderung der Lohnsteuer ohne Berücksichtigung von Ermäßigungsgründen besitze Strafcharakter. Nicht der Kläger habe im Streitfall verspätet Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich gestellt, sondern das FA-W habe die Lohnsteuer nachträglich angefordert. Soweit im Streitfall Lohnsteuer überhaupt nachgefordert werden dürfe, sei die Nachforderung auf den – nach Abzug der Werbungskosten, Sonderausgaben usw. – tatsächlich geschuldeten Steuerbetrag zu beschränken.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung und die Nachforderungsbescheide in Form der Einspruchsentscheidung ersatzlos aufzuheben, hilfsweise, die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA-W beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

IV. Entscheidung des Senats

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

1. Nachforderungen von Steuern sind gemäß § 223 AO bis zum Ablauf der Verjährungsfrist zulässig, soweit nicht die Vorschriften des § 222 AO Platz greifen oder sonst etwas Abweichendes vorgeschrieben ist. Da im Streitfall kein förmlicher – im Gesetz selber vorgesehener schriftlicher – Bescheid ergangen ist, können die zu Unrecht nicht abgeführten Lohnsteuerbeträge nach § 223 AO nachgefordert werden.

2. Die nachgeforderten Steuern sind nicht verjährt. Der Anspruch auf Lohnsteuer verjährt gemäß § 144 AO in fünf Jahren, bei hinterzogenen Beträgen in zehn Jahren. Die Frage, ob – als Voraussetzung der zehnjährigen Verjährungsfrist–eine Steuerhinterziehung vorliegt, kann im Besteuerungsverfahren geprüft werden, auch wenn ein Strafverfahren nicht oder noch nicht durchgeführt ist (BFH-Urteile vom 9. April 1964 II 7/61 S, BFHE 79, 241, BStBl III 1964, 318; vom 6. April 1962 III 339/59, Steuerrechtsprechung in Karteiform – StRK –; Reichsabgabenordnung, § 396, Rechtsspruch 37). Das FG war somit berechtigt, in dem Steuerprozeß über die Steuerfestsetzung dir Frage der Steuerhinterziehung selbständig zu prüfen.

3. Zutreffend hat das FG im Streitfall eine Steuerhinterziehung des Klägers im Sinne des § 392 AO (§ 396 AO a. F.) darin gesehen, daß dieser von 1960 bis einschließlich 1968 durch Eintragung von Freibeträgen auf seinen Lohnsteuerkarten mit Hilfe einer unbefugten Person ungerechtfertigt Steuervorteile erschlichen hat. Die verfahrensrechtlichen Rügen des Klägers gegen die Feststellungen der Vorinstanz greifen nicht durch.

a) Der BFH darf die Sachverhaltsfeststellungen des FG einschließlich deren Würdigung nur daraufhin prüfen, ob sie aufgrund eines ordnungsgemäßen Verfahrens zustande gekommen sind und ob sie Widersprüche oder Verstöße gegen die Denkgesetze oder allgemeinen Erfahrungssätze aufweisen. Dabei ist die Prüfung darauf beschränkt, ob die tatsächlichen Feststellungen und die Beweiswürdigung möglich waren, ob also das FG zu seinem Ergebnis kommen konnte.

Es ist nicht zu beanstanden, daß die Vorinstanz das Fehlen sämtlicher Lohnsteuerunterlagen des Klägers als Beweisanzeichen dafür gewertet hat, daß Lohnsteueranträge des Klägers beim FA nicht bearbeitet wurden. Mit dem FG sieht es der Senat als so gut wie ausgeschlossen an, daß sämtliche Lohnsteuerunterlagen des Klägers sowohl aus den in der Lohnsteuerstelle selbst geführten – laufenden – Akten als auch aus den im Keller aufbewahrten Akten der zurückliegenden Jahre verschwunden sein sollen. Zu Recht hat das FG in der Verwendung des Dienstsiegels Nr. 7 des FA-S, in der Eintragung des Freibetrages in Blockschrift, in der allen zuständigen Beamten unbekannten Unterschrift unter der Eintragung des Freibetrages und in dem Fehlen einer genauen Datumsangabe weitere Indizien dafür gesehen, daß das FA-W den Freibetrag nicht auf der Lohnsteuerkarte 1968 eingetragen hat. Mit zutreffender Begründung hat das FG auch eine irrtümliche Eintragung des Freibetrages durch das FA-S abgelehnt. Schließlich konnte das FG auch das Verhalten des Klägers bei seiner Vernehmung durch das FA-W als Indiz für eine Täterschaft des Klägers würdigen. Es ist nicht zu beanstanden, daß das FG zum Ablauf der Tat im einzelnen keine Feststellungen getroffen hat. Hierzu war es insbesondere auch deshalb nicht in der Lage, weil der Kläger – auch in der mündlichen Verhandlung vor dem FG – kaum etwas zur Aufklärung des Sachverhalts beigetragen hat. Bei dem Vortrag im Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten vom 10. Januar 1973, wonach eine vom Kläger beauftragte dritte Person die entscheidende Rolle bei der falschen Eintragung auf der Lohnsteuerkarte 1968 gespielt haben soll und wo der Kläger erstmalig selbst einzuräumen scheint, daß die Eintragung auf der Lohnsteuerkarte 1968 falsch war, handelt es sich um neues Vorbringen in der Revisionsinstanz, das der Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO nicht berücksichtigen kann. In der Gesamtwürdigung des Sachverhalts durch das FG ist weder ein Denkfehler noch ein Verstoß gegen Erfahrungssätze zu erkennen.

Im Hinblick auf die zahlreichen Merkwürdigkeiten des Falles ist es nicht zu beanstanden, daß das FG auch für die Jahre 1960 bis 1967 eine Steuerhinterziehung des Klägers durch unrechtmäßige Eintragung der Lohnsteuerfreibeträge auf den Lohnsteuerkarten bejaht hat, ohne daß ihm die Lohnsteuerkarten für diese Jahre vorlagen. Zu Recht weist das FG in diesem Zusammenhang auf das Fehlen sämtlicher Lohnsteuerunterlagen des Klägers, die außergewöhnliche Höhe der eingetragenen Freibeträge und darauf hin, daß die Jahresbeträge auf den Lohnsteuerkarten 1961 bis 1965 und 1967 entgegen den Anweisungen (Abschn. 49 Abs. 1 LStR) nicht aufgerundet waren, sondern auf Pfennigbeträge lauteten. Nach Auffassung des Senats konnte das FG zu seinen Feststellungen kommen. Daß es dazu kommen mußte, ist nicht erforderlich (BFH-Urteil vom 26. Oktober 1962 II 42/59 U, BFHE 76, 56, BStBl III 1963, 21).

b) Auch der Einwand des Klägers, das FG habe alle ungeklärten Umstände des Sachverhalts zu seinen Ungunsten verwertet und den Grundsatz des in dubio pro reo nicht beachtet, greift nicht durch. Kann die Steuerbehörde einen Steueranspruch nur noch darauf stützen, daß es sich um hinterzogene Beträge im Sinne des § 144 AO handelt, so gilt für die Vorfrage des Vorliegens einer Steuerhinterziehung auch im Besteuerungsverfahren vor der Finanzbehörde und im Steuerprozeß der strafverfahrensrechtliche Grundsatz des in dubio pro reo (Urteil des BFH vom 10. Oktober 1972 VII R 117/69, BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, aufgrund der Absonderlichkeiten des behaupteten Sachverhalts und des Verhaltens des Klägers nach Aufdeckung der Tat brauchte die Vorinstanz im Streitfall keinen Zweifel an der Begehung einer Steuerhinterziehung durch den Kläger zu haben. Die in der Revisionsinstanz unangreifbaren tatsächlichen Feststellungen des FG und dessen Sachverhaltswürdigung tragen die von der Vorinstanz gezogenen rechtlichen Schlußfolgerungen.

4. Das FG hat es abgelehnt, nach Ablauf der Frist für den Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich gegenüber der Nachforderung von Lohnsteuer Ermäßigungsgründe (Werbungskosten, Sonderausgaben usw.) zu berücksichtigen, die der Kläger bereits im Lohnsteuerermäßigungsverfahren oder Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren hätte geltend machen können. Durch das Urteil vom 26. Januar 1973 VI R 136/69 (BFHE 108, 338) hat der Senat indes entschieden, daß das FA im Nachforderungsverfahren steuerermäßigende Besteuerungsgrundlagen auch noch nach Ablauf der Frist für den Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich insoweit berücksichtigen muß, als der Arbeitnehmer die Ermäßigungsgründe im Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren hätte vorbringen können. Denn Steuern können nach § 223 AO nur insoweit nachgefordert werden, als ein Steueranspruch materiell besteht. Der Grundsatz, daß im Nachforderungsverfahren von der materiell richtigen Steuerschuld auszugehen ist, wird – wie der Senat in der Entscheidung VI R 136/69 dargelegt hat – von der Fristversäumnis nur in dem Sinne berührt, als das Nachforderungsverfahren nicht zu einer – dem Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren vorbehaltenen – Erstattung einbehaltener Lohnsteuern führen kann. Diese Grundsätze sind auch auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden. Das Nachschieben von Ermäßigungsgründen ist im Streitfall nicht dadurch ausgeschlossen, daß im vorliegenden Fall eine Steuerhinterziehung Anlaß für die nicht rechtzeitige Geltendmachung der Ermäßigungsgründe im Lohnsteuerermäßigungsverfahren oder Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren war. Auch bei einem Arbeitnehmer, der im Lohnsteuerermäßigungsverfahren ungerechtfertigte steuerliche Vorteile erschlichen hat, ist eine Nachforderung von Lohnsteuer nach § 223 AO nur insoweit zulässig, als ein Steueranspruch materiell tatsächlich besteht. Die Nichtanerkennung nachträglich geltend gemachter Ermäßigungsgründe würde im Ergebnis auf eine Bestrafung des Steuerhinterziehers im Steuerfestsetzungsverfahren hinauslaufen. Die Vorentscheidung, die von einer anderen Rechtsauffassung ausgeht, war deshalb aufzuheben.

Die Sache ist nicht entscheidungsreif, weil das FG – von seinem Standpunkt zu Recht – zu der Höhe der nachträglich geltend gemachten Ermäßigungsgründe keine Feststellungen getroffen hat. Die Sache wird deshalb zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Das FG wird bei der weiteren Ermittlung zu berücksichtigen haben, daß der Kläger durch sein steuerunehrliches Verhalten eine zeitnahe Festsetzung der von ihm geschuldeten Lohnsteuer verhindert hat. Deshalb trägt der Kläger das Risiko, wenn er infolge Zeitablaufs die ihm, entstandenen Werbungskosten, Sonderausgaben usw. nicht mehr nach weisen oder glaubhaft machen kann.

 

Fundstellen

Haufe-Index 514850

BFHE 1973, 343

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