Leitsatz (amtlich)

In Österreich erlittene Vorjahresverluste sind im Rahmen des § 10d EStG bei der Bemessung des inländischen Steuersatzes nach Art. 15 Abs. 3 DBA-Österreich zu berücksichtigen.

 

Normenkette

EStG § 2 Abs. 2 S. 1, §§ 10 d, 32a; DBA AUT Art. 15 Abs. 3

 

Tatbestand

Die Revisionsbeklagten (Steuerpflichtigen) sind Eheleute. Sie sind in der BRD unbeschränkt steuerpflichtig. Im Jahre 1961 erzielten sie inländische Einkünfte in Höhe von 26 554 DM. Im gleichen Jahr hatte die Ehefrau aus einem Mitunternehmeranteil an einem österreichischen Unternehmen einen laufenden Gewinnanteil von umgerechnet 6 797 DM und einen Veräußerungsverlust von 67 041 DM. Der Revisionskläger (das FA) berücksichtigte bei der Besteuerung der inländischen Einkünfte für das Jahr 1961 im Rahmen des Progressionsvorbehalts nach Art. 15 Abs. 3 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom 4. Oktober 1954 – DBA-Österreich – (BStBl I 1955, 370) die ausländischen (positiven und negativen) Einkünfte und ermittelte den Einkommensteuersatz mit 0 v. H.

Bei der Veranlagung für das Jahr 1962 wandte das FA den Progressionsvorbehalt nicht an. Für das auf Grund inländischer Einkünfte erzielte Einkommen von 20 925 DM setzte das FA die Einkommensteuerschuld auf 3 718 DM fest.

Im Streitjahr 1963 erzielten die Steuerpflichtigen auf Grund inländischer Einkünfte ein Einkommen von 10 709 DM. Sie begehrten die Anrechnung des im Veranlagungszeitraum 1961 in Österreich erlittenen Veräußerungsverlustes. Das FA lehnte die Berücksichtigung dieses Verlustes ab und setzte die Einkommensteuer aus einem inländischen Einkommen von 10 709 DM fest. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.

Auf die Klage der Steuerpflichtigen hob das FG die Einspruchsentscheidung des FA auf und setzte die Einkommensteuer 1963 auf 0 DM fest. Zur Begründung seiner in EFG 1969, 64 veröffentlichten Entscheidung führte es insbesondere aus, daß der in Art. 15 Abs. 3 DBA-Österreich festgelegte Progressionsvorbehalt auch die Berücksichtigung österreichischer Verluste bei der Bemessung des deutschen Steuersatzes erlaube. Diese Verlustberücksichtigung sei nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht auf den Veranlagungszeitraum beschränkt. Art. 15 Abs. 3 DBA-Österreich lege vielmehr fest, daß derjenige Steuersatz anzuwenden sei, der dem „Gesamteinkommen” der steuerpflichtigen Person entspreche. Was unter Gesamteinkommen zu verstehen sei, sei mangels einer im Abkommen enthaltenen Definition dem innerstaatlichen Recht zu entnehmen. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 EStG sei Einkommen der Gesamtbetrag der Einkünfte nach Ausgleich mit Verlusten und nach Abzug der Sonderausgaben (§§ 10 bis 10d EStG). Da der Abzug nach § 10d EStG das Einkommen mitbestimme, sei er bei der Ermittlung des Einkommensteuersatzes nach Art. 15 Abs. 3 DBA-Österreich zu berücksichtigen.

Der Ansatz des österreichischen Verlustes sei auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil dadurch der Einkommensteuersatz auf 0 v. H. absinke, denn aus dem Wortlaut des Art. 15 Abs. 3 DBA-Österreich ergebe sich nicht, daß die Bemessung des Steuersatzes nach dem Gesamteinkommen nur bis zur Grenze der sogenannten Proportionalzone zulässig sei. Da auch innerhalb dieser Proportionalzone bei gleichbleibender Belastung der Einkommensspitze der durchschnittliche Steuersatz progressiv ansteige, eine „indirekte” Progression somit auch hier bestehe, erscheine es auch als sinnvoll, den Progressionsvorbehalt innerhalb der sogenannten Proportionalzone anzuwenden.

Mit der Revision beantragt das FA, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen. Es rügt die unrichtige Anwendung des Art. 15 Abs. 3 DBA-Österreich. Ein Auslandsverlust aus früheren Veranlagungszeiträumen könne im Rahmen der Ermittlung des Steuersatzes kraft Progressionsvorbehalts nicht berücksichtigt werden. Dies ergebe sich aus Abschn. 185 EStR, der allgemein auf die Grundsätze des Abschn. 20 der Richtlinien vom 21. Februar 1957 für die Anwendung des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen vom 22. Juli 1954 – DBA-USA – (BStBl I 1957, 154) verweise. Nach diesen Richtlinien seien aber bei der Ermittlung des Steuersatzes, der auf das in der Bundesrepublik steuerpflichtige Einkommen anzuwenden ist, nur die ausländischen Verluste zu berücksichtigen, die auf den Veranlagungszeitraum entfallen. Dies entspreche nach dem Erlaß des Finanzministeriums Baden-Württemberg S 1301 – 58/56 vom 7. August 1957 auch dem Ergebnis der Besprechungen mit Vertretern des österreichischen Finanzministeriums, bei denen Fragen der Anwendung des Art. 15 Abs. 3 DBA-Österreich erörtert worden seien.

Die Auffassung der beteiligten Staaten erscheine im Gegensatz zu der Meinung des FG, welches im Wege der Auslegung des Begriffs „Gesamteinkommen” im DBA-Österreich den Verlustabzug zugelassen habe, auch deshalb berechtigt, weil die in § 10d EStG geforderte Ordnungsmäßigkeit der Buchführung bei ausländischen Verlusten nicht nachprüfbar sei.

Hinzu komme, daß ein ausländischer Verlust nicht über den Progressionsvorbehalt dazu führen dürfe, daß der Steuersatz auf 0 v. H. absinke, so daß von den der inländischen Besteuerung unterliegenden positiven Einkünften eine Einkommensteuer nicht zu erheben sei. Nach Auffassung der Steuerreferenten der obersten Finanzbehörden der Länder könne sich der Progressionsvorbehalt, der nur tariflichen Charakter habe, bei ausländischen Verlusten nur bis zur Proportionalzone des Einkommensteuertarifs auswirken. Liege der zu versteuernde Einkommensbetrag bei Anwendung der Splittingtabelle – wie im vorliegenden Falle – unter 16 020 DM, so sei für die Berücksichtigung des ausländischen Verlustes kein Raum.

Die Steuerpflichtigen beantragen die Zurückweisung der Revision. Sie machen sich im wesentlichen die Gründe des FG-Urteils zu eigen und führen ergänzend aus, daß jedes Doppelbesteuerungsabkommen ein Vertragswerk für sich sei. Auslegungsgrundsätze eines Abkommens könnten nicht unmittelbar auf ein anderes Abkommen übertragen werden. Zudem handle es sich bei den vom FA zitierten EStR und den Richtlinien zum DBA-USA nur um Verwaltungsanweisungen, die nicht als geltendes Recht der Prozeßbeurteilung zugrunde gelegt werden dürften.

Die vom FA geltend gemachte Unmöglichkeit, die geforderte Ordnungsmäßigkeit der Buchführung festzustellen, halte einer sachlichen Prüfung nicht stand. Der Begriff der Ordnungsmäßigkeit der Buchführung sei für das österreichische und für das deutsche Steuerrecht gleich auszulegen. Die Gewißheit, daß es sich bei einem Verlust um einen solchen handle, der auf Grund ordnungsmäßiger Buchführung ermittelt worden ist, könne sich das FA ohne weiteres auf Grund des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Rechtsschutz und Rechtshilfe in Abgabesachen (BStBl I 1955, 434) verschaffen.

Sowohl die Steuerpflichtigen als auch das FA haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Der Senat hat mit dem Urteil I R 109/68 vom heutigen Tage (BStBl II 1970, 660) entschieden, daß Art. 15 Abs. 3 DBA-Österreich in Verbindung mit den inländischen Vorschriften über den Steuertarif (§ 32a EStG) ein Absinken des auf das inländische Einkommen anzuwendenden Steuersatzes auf 0 v. H. gebieten kann, wenn die in Österreich erlittenen Verluste das Gesamteinkommen auf weniger als 1 710 DM vermindern. Auf die Begründung dieser Entscheidung wird – um Wiederholungen zu vermeiden – Bezug genommen.

Für den vorliegenden Fall ist darüber hinausgehend von Bedeutung, ob – wie das FA meint – bei Anwendung des Progressionsvorbehalts stets nur die im Ausland im laufenden Veranlagungszeitraum erlittenen Verluste zu berücksichtigen sind (so Abschn. 20 der Richtlinien zum DBA-USA, a. a. O.) oder ob auch ein bereits in vorhergehenden Veranlagungszeiträumen in Österreich erlittener Verlust gemäß § 10d EStG bei der Festsetzung des deutschen Steuersatzes berücksichtigt werden darf. Diese Frage ist im zuletzt genannten Sinne zu entscheiden.

Vorinstanz:

Auch der Sinn der Vorschrift rechtfertigt dieses Ergebnis. Durch den in nahezu allen modernen Doppelbesteuerungsabkommen enthaltenen Progressionsvorbehalt soll sichergestellt werden, daß die Besteuerung nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit, die in den meisten Staaten u. a. durch progressive Gestaltung des Steuertarifs bewirkt wird, trotz der Zu- und Aufteilung des Steuerguts auf mehrere Staaten erhalten bleibt. Die gesamte Steuerkraft soll erfaßt werden (vgl. den das DBA-Österreich betreffenden koordinierten Erlaß der Freien und Hansestadt Hamburg vom 6. August 1957, BStBl II 1957, 135). Die Verteilung von Einkunftsquellen auf verschiedene Staaten soll sich auf den Steuersatz nicht auswirken, d. h. derjenige, der Einkünfte aus mehreren Staaten bezieht, die kraft Doppelbesteuerungsabkommen auch in mehreren Staaten besteuert werden, soll nicht einem günstigeren oder ungünstigeren Steuersatz unterliegen als derjenige, der gleichhohe Einkünfte nur in ein und demselben Staat zu versteuern hat. Der Steuersatz für die im Wohnsitzstaat zu besteuernden Einkünfte ist daher so zu bemessen, wie wenn die im Abkommen steuerbefreiten ausländischen Einkünfte die Steuer im Rahmen der deutschen unbeschränkten Steuerpflicht getragen hätten (vgl. Debatin „Steuerbefreiung mit Progressionsvorbehalt als Methode zur Vermeidung der Doppelbesteuerung” im Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters 1965 S. 41 [43] – AWD 1965, 41 [43] –). Die Anwendung des Progressionsvorbehalts muß bei Berücksichtigung dieses Ausgangspunktes immer dazu führen, daß die der deutschen Besteuerung verbleibenden Einkünfte derjenigen prozentualen Steuerbelastung unterworfen werden, die sich ergeben würde, wenn ein Doppelbesteuerungsabkommen nicht vorhanden wäre.

Im vorliegenden Falle würden die Steuerpflichtigen, falls ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Österreich nicht bestünde, gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 EStG mit ihren sämtlichen Einkünften, d. h. auch mit den in Österreich erzielten Einkünften, der deutschen Einkommensteuer unterliegen. Österreichische Verluste könnten mit anderen, auch mit inländischen positiven Einkünften verrechnet werden. Soweit eine Verrechnung mangels positiver Einkünfte im laufenden Veranlagungszeitraum nicht möglich wäre, könnten die in Österreich erlittenen Verluste gemäß § 10d EStG im Folgejahr wie Sonderausgaben abgezogen werden, sofern die Voraussetzungen dieser Vorschrift im übrigen vorliegen. Denn die Anwendung des § 10d EStG ist bei unbeschränkter Steuerpflicht nicht auf Verluste beschränkt, die mit inländischen Einkünften in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen. Dies ergibt sich einmal daraus, daß der Wortlaut des § 10d EStG eine Beschränkung der abzugsfähigen Verluste im Gegensatz zu § 50 Abs. 1 Satz 3 EStG nicht enthält. Zum anderen rechtfertigt aber auch der Sinn der Vorschrift, die einen Ausgleich von durch die Abschnittsbesteuerung entstehenden Härten ermöglichen soll, eine Anwendung auf alle der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte. Hinzu kommt, daß ab dem Veranlagungszeitraum 1969 gemäß § 2 des Gesetzes über steuerliche Maßnahmen bei Auslandsinvestitionen der deutschen Wirtschaft (BStBl I 1969, 480) sogar bei Vorhandensein eines Doppelbesteuerungsabkommen der Verlustabzug nach § 10d EStG zulässig ist.

Ist aber die Berücksichtigung von Auslandsverlusten im Rahmen des § 10d EStG bei unbeschränkter Steuerpflicht ohne Bestehen eines Doppelbesteuerungsabkommens uneingeschränkt zulässig, so sind bei Bestehen eines Doppelbesteuerungsabkommens die Auswirkungen dieser Vorschrift auf den Steuersatz im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu beachten. Dies muß unabhängig davon gelten, ob der ausländische Staat, in dem die Vorjahresverluste entstanden sind, einen Abzug dieser Verluste im Folgejahr zuläßt; denn der Progressionsvorbehalt zielt nur auf die Aufrechterhaltung der deutschen prozentualen Steuerbelastung ab. Die deutschen Steuersätze sind aber nur durch die ausländischen Einkünfte, nicht aber durch deren Besteuerung (insbesondere den Besteuerungszeitraum) im Ausland beeinflußbar.

Schließlich führt die Berücksichtigung des Verlustabzugs im Rahmen des Progressionsvorbehalts nicht zu einer unangebrachten doppelten Verlustauswirkung. Eine solche würde nur vorliegen, wenn durch ein und denselben Verlust die Steuerbemessungsgrundlage doppelt vermindert würde. Dies ist nicht der Fall. Die zweifache Auswirkung eines Verlustes – Verringerung der Bemessensgrundlage einerseits und Senkung des auf die verbleibenden Einkünfte anzuwendenden Steuersatzes andererseits – ist bei progressiv gestalteter Einkommensteuer zwangsläufig (vgl. Urteil des BFH I 29/65 vom 9. November 1966, BFH 87, 273, BStBl III 1967, 88).

Das FA weist zwar zutreffend darauf hin, daß die Richtlinien zum DBA-USA, a. a. O., die hinsichtlich des Progressionsvorbehalts von der Verwaltung allgemein angewendet werden, nur die Berücksichtigung von im laufenden Veranlagungszeitraum erlittenen Auslandsverlusten vorsehen. Eine Begründung für diese einschränkende Auslegung enthalten die Richtlinien indes nicht.

Obwohl insoweit die von der Vorinstanz angestellten rechtlichen Erwägungen nicht zu beanstanden sind, kann die Vorentscheidung keinen Bestand haben; denn es ist ihr nicht zu entnehmen, ob die Gewinnermittlung in Österreich auf Grund ordnungsmäßiger Buchführung erfolgt war. Die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen somit nicht aus, um die daran geknüpfte Rechtsfolge zu decken. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (vgl. BFH-Urteil II R 36/67 vom 5. März 1968, BFH 92, 416, BStBl II 1968, 610).

 

Fundstellen

Haufe-Index 557331

BStBl II 1970, 755

BFHE 1970, 572

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