Entscheidungsstichwort (Thema)

Zu den Voraussetzungen der Verwirkung des Gewerbesteueranspruchs

 

Leitsatz (NV)

Der Gewerbesteueranspruch ist auch dann nicht verwirkt, wenn die Einkünfte des Steuerpflichtigen nicht nur in dem dem Erhebungszeitraum entsprechenden Veranlagungszeitraum, sondern auch im darauf folgenden Jahr einkommensteuerlich als nichtgewerblich behandelt worden sind.

 

Normenkette

AO 1977 § 169 Abs. 2 Nr. 2, § 184 Abs. 1; EStG §§ 15, 18; GewStG § 2

 

Verfahrensgang

FG Nürnberg

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Unternehmensberater. In den Einkommensteuererklärungen 1984 und 1985 deklarierte er seine Einkünfte als solche aus freiberuflicher Tätigkeit. Erstmals bei Durchführung der Einkommensteuerveranlagung 1986 (Einkommensteuerbescheid vom 17. März 1988) behandelte das damals zuständige Finanzamt X den Kläger als Gewerbetreibenden. Die hiergegen nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hat der Kläger zurückgenommen.

Der inzwischen zuständig gewordene Beklagte und Revisionsbeklagte (FA Y) erließ daraufhin unter dem Datum vom 6. Juni 1991 für die Jahre 1984 und 1985 Gewerbesteuermeßbescheide. Den hiergegen gerichteten Einspruch begründete der Kläger damit, daß die Festsetzung von Gewerbesteuermeßbeträgen rechtswidrig sei, da bei der Einkommensteuerveranlagung 1984 und 1985 das FA Einkünfte aus selbständiger Arbeit zugrunde gelegt habe.

Die hiergegen nach erfolglosem Einspruch gerichtete Klage hatte hinsichtlich des Gewerbesteuermeßbescheides 1984 Erfolg. Das Finanzgericht (FG) vertrat die Auffassung, das FA habe das Recht, einen Gewerbesteuermeßbescheid für das Jahr 1984 zu erlassen, verwirkt. Die Voraussetzungen für den Eintritt der Verwirkung bestimmten sich grundsätzlich nach den Umständen des Einzelfalles. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe im Urteil vom 22. Juni 1971 VIII 23/65 (BFHE 103, 77, BStBl II 1971, 749) darauf abgestellt, wann der Steuerpflichtige den Steuerbescheid für den nächsten Veranlagungszeitraum erhalten habe. Von diesem Zeitpunkt an könne er darauf vertrauen, daß seine bisher als freiberuflich angesehenen Einkünfte des vorangegangenen Veranlagungszeitraums endgültig als solche aus selbständiger Tätigkeit angesehen und damit nicht der Gewerbesteuer unterworfen würden. Im Streitfall habe der Kläger bei Erhalt des Einkommensteuerbescheides 1985 darauf vertrauen dürfen, daß das FA für das Vorjahr 1984 endgültig von Einkünften aus selbständiger Tätigkeit ausgehe.

Hiergegen richtet sich die Revision des FA, die auf die Verletzung von materiellem Bundesrecht gestützt wird.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Abweisung der Klage.

Entgegen der Auffassung des FG war das FA berechtigt, für das Streitjahr 1984 einen Gewerbesteuermeßbescheid zu erlassen.

1. Zutreffend hat das FG festgestellt, daß die vierjährige Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 184 Abs. 1 der Abgabenordnung -- AO 1977 --) bei Erlaß des streitigen Gewerbesteuermeßbescheides 1984 am 6. Juni 1991 noch nicht abgelaufen war. Die Festsetzungsfrist beginnt, sofern eine Steuererklärung einzureichen ist, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Jahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977). Die Pflicht zur Abgabe einer Gewerbesteuererklärung ergibt sich aus § 14a des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) i. V. m. § 25 der Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung. Mithin begann die Festsetzungsfrist mit Ablauf des 31. Dezember 1987 und endete mit Ablauf des 31. Dezember 1991. Zutreffend hat das FG entschieden, daß es nicht darauf ankommt, ob der Kläger annahm oder annehmen durfte, zur Abgabe einer Steuererklärung nicht verpflichtet zu sein (vgl. Urteil des FG Baden-Württemberg vom 15. Oktober 1987 III K 301/85, Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1988, 278).

2. Nicht zu folgen vermag der Senat den rechtlichen Ausführungen des FG, mit denen es die Verwirkung des Anspruchs auf Erlaß eines Gewerbesteuermeßbescheides für das Jahr 1984 begründet hat.

Verwirkung tritt ein, wenn ein Berechtigter durch sein Verhalten einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen hat, daß nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung seines Rechts als illoyale Rechtsausübung empfunden werden muß (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 4 AO 1977 Tz. 67 m. w. N.; Kühn/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Anhang, § 4 AO 1977 Anm. 5b cc). Ein Vertrauenstatbestand wird insbesondere nicht dadurch geschaffen, daß das FA in vorangegangenen Jahren den gleichen Sachverhalt rechtlich im Sinne des Steuerpflichtigen beurteilt hat (vgl. Senatsurteil vom 14. März 1991 IV R 135/90, BFHE 164, 408, BStBl II 1991, 769 m. w. N.). Aber auch die rechtliche Quali fikation von Einkünften in einem Einkommensteuerbescheid, der für den dem Er hebungszeitraum entsprechenden Veranlagungszeitraum ergangen ist, begründet keine Bindung des FA für die Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages. Wollte man anders entscheiden, würde man den Einkommensteuerbescheid gegenüber dem Gewerbesteuermeßbescheid die Qualität eines Grundlagenbescheides zumessen, die ihm -- abgesehen von der Sonderregelung des § 35b GewStG nicht zukommt (vgl. Senatsbeschluß vom 8. August 1974 IV S 17/74, BFHE 113, 8, BStBl II 1974, 639; Hofmeister in Blümich, Gewerbesteuergesetz, § 35b Rdnr. 22). In diesem Sinne hat der Senat für die Gewerbesteuerpflicht einer privaten Handelsschule und eines Kinderheims entschieden, deren Einkünfte in den für die jeweiligen Streitjahre ergangenen Einkommensteuerbescheiden als freiberuflich angesehen worden waren (Urteile vom 27. April 1961 IV 336/59 U, BFHE 73, 34, BStBl III 1961, 281; vom 7. Juni 1984 IV R 180/81, BFHE 141, 451, BStBl II 1984, 780; Abschn. 86 Abs. 4 der Gewerbesteuer-Richtlinien; Hofmeister in Blümich, a. a. O., § 14 Rdnr. 28).

Dieselben Erwägungen müssen gelten, wenn die fraglichen Einkünfte nicht nur in dem dem Erhebungszeitraum entsprechenden Veranlagungszeitraum einkommensteuerlich als nichtgewerblich behandelt worden sind, sondern auch in dem darauffolgenden Jahr, also bezogen auf den Streitfall nicht nur bei der Einkommensteuerveranlagung 1984, sondern auch im Einkommensteuerbescheid 1985. Nichts anderes folgt aus dem vom FG zitierten BFH-Urteil in BFHE 103, 77, BStBl II 1971, 749. Dieses Urteil (in dem die Voraussetzungen für eine Verwirkung des Anspruchs auf Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages als nicht erfüllt angesehen wurden) bezieht sich auf das Senatsurteil vom 5. März 1970 IV 213/65 (BFHE 100, 1, BStBl II 1970, 793). Dort hat der Senat ausgeführt, daß er eine Verwirkung noch nicht annehmen würde, "wenn der Steuerpflichtige sich nur auf die Behandlung seiner Einkünfte bei der Einkommensteuerveranlagung sollte berufen können". Den entscheidenden Grund dafür, im Fall des Urteils in BFHE 100, 1, BStBl II 1970, 793 einen Vertrauenstat bestand zu bejahen, sah der Senat darin, daß das FA -- abgesehen von der einkommensteuerlichen Behandlung -- auf das Vorstelligwerden des Steuerpflichtigen hin im Jahre 1952 eine gewerbesteuerliche Entscheidung getroffen hatte, von der der Steuerpflichtige habe annehmen dürfen, daß sie sich künftig im Unterlassen von Gewerbesteuerbescheiden niederschlagen werde. Lediglich als zusätzliches Erfordernis hat der Senat seinerzeit angenommen, daß der durch die "gewerbesteuerliche Entscheidung" geschaffene Vertrauenstatbestand einer Gewerbesteuermeßbetrags-Veranlagung erst vom Ergehen des Einkommensteuerbescheides für das auf den maßgeblichen Erhebungszeitraum folgende Jahr an entgegenstehe.

3. Die Sache ist entscheidungsreif. Das FG hat nicht festgestellt, daß das seinerzeit zuständige FA dem Kläger gegenüber eine gewerbesteuerliche Entscheidung im Sinne des Senatsurteils in BFHE 100, 1, BStBl II 1970, 793 getroffen hat. Der Kläger hat dies auch nicht behauptet. Allerdings hat das FG im Tatbestand seines Urteils ausgeführt, der Kläger habe seinen Einspruch damit begründet, er habe bei Beginn seiner Tätigkeit im Jahre 1973 beim FA vorgesprochen und seine Arbeit im einzelnen geschildert. Daraufhin sei entschieden worden, daß es sich um Einkünfte aus selbständiger Arbeit handle. Abgesehen davon, daß sich ein solcher Vortrag des Klägers den dem Senat vorliegenden Akten nicht entnehmen läßt, kann aus ihm auch nicht geschlossen werden, daß das damals zuständige FA eine gewerbesteuerliche Entscheidung getroffen hat, die geeignet wäre, die Voraussetzungen der Verwirkung des Anspruchs auf Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages 1984 zu begründen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420926

BFH/NV 1996, 449

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