Entscheidungsstichwort (Thema)

Erfordernis der tatrichterlichen Feststellung und einzelfallbezogenen Begründung einer Leichtfertigkeit i. S. von § 378 Abs. 1 AO 1977

 

Leitsatz (NV)

1. Ob eine Behinderung oder Krankheit die Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit eines Menschen derart beeinträchtigt, daß eine Leichtfertigkeit bei Nichterfüllung (bestimmter) steuerlicher Pflichten ausgeschlossen ist, bedarf -- abgesehen von insgesamt fehlender Geschäfts- und Prozeßfähigkeit -- der einzelfallbezogenen Feststellung und Begründung, d. h. der konkreten Darlegung, welche Beeinträchtigung in welcher Weise die Einsichtsfähigkeit in bezug auf die in Frage stehende Pflicht herabgesetzt hat.

2. Die hartnäckige Mißachtung der grundsätzlich jedem Steuerpflichtigen obliegenden Informations- und Erkundigungspflicht kann dazu führen, daß Leichtfertigkeit i. S. von § 378 Abs. 1 AO 1977 auch bei erweislichem Irrtum über Anwendbarkeit und Reichweite steuerlicher Vorschriften anzunehmen ist.

 

Normenkette

AO 1977 § 149 Abs. 1, § 169 Abs. 2 S. 2, § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, § 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4, § 378 Abs. 1; VStG § 19

 

Verfahrensgang

FG Düsseldorf

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Gesamtrechtsnachfolger nach seiner 1987 verstorbenen Ehefrau, die zum streitigen Hauptveranlagungszeitpunkt Eigentümerin von drei Grundstücken gewesen war. Nachdem der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) aufgrund einer Kontrollmitteilung des zuständigen Erbschaftsteuerfinanzamts Kenntnis davon erlangt hatte, daß die Ehefrau zum Zeitpunkt ihres Todes Inhaberin nicht unbeträchtlicher Sparguthaben gewesen war, wurde der Kläger unter Übersendung der Erklärungsvordrucke aufgefordert, die Vermögensteuer erklärung u. a. auf den 1. Januar 1983 abzugeben. Wegen deren Nichtabgabe schätzte das FA die Besteuerungsgrundlagen nach § 162 der Abgabenordnung (AO 1977) auf den vorgenannten Stichtag und setzte durch Bescheid vom 18. Dezember 1990 gegen den Kläger "als Gesamtrechtsnachfolger für Herrn A. Y und Frau B. Y" eine Jahressteuer in Höhe von X DM fest.

Hiergegen wandte sich der Kläger mit seinem Einspruch vom 15. Januar 1991. Diesen begründete er im April 1991 unter gleichzeitiger Abgabe der Vermögensteuererklärung auf den 1. Januar 1983 damit, daß es sich bei den als Kapitalvermögen erfaßten Bankguthaben nicht um "Vermögensbildung" handele, weil dieses Geld nach dem Willen seiner verstorbenen Ehefrau jahrzehntelang zweckgebunden für die Instandsetzung des baufälligen Elternhauses R-Straße ... angespart worden sei.

Durch Einspruchsentscheidung vom 16. Dezember 1991 erhöhte das FA die ursprünglich auf den 1. Januar 1983 festgesetzten Jahressteuerbeträge, nachdem es den Kläger zuvor auf seine Verböserungsabsicht hingewiesen hatte.

Das Finanzgericht (FG) ermäßigte die Vermögensteuerjahresschuld für 1983 auf den ursprünglich festgesetzten Betrag von X DM und wies die Klage im übrigen ab. Zur Begründung der Teilstattgabe führt die Vorentscheidung aus, das FA habe die Vermögensteuer 1983 mit seiner Einspruchsentscheidung vom 16. Dezember 1991 wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist nicht mehr erhöhen dürfen. Die reguläre (vierjährige) Festsetzungsfrist sei unter Berücksichtigung einer Anlaufhemmung von drei Jahren gemäß § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 am 31. Dezember 1990 abgelaufen. Die Voraussetzungen einer fünfjährigen Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 lägen nicht vor. Es könne nicht festgestellt werden, daß der Kläger den subjektiven Tatbestand der leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO 1977) verwirklicht habe. Vielmehr sei das FG aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens, insbesondere auch des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks, zu der Überzeugung gelangt, daß der Kläger subjektiv noch heute die Vermögensteuerpflicht für die Sparguthaben verneine, ohne deren Ansatz keine Vermögensteuerpflicht bestehe. Aufgrund der Besonderheiten des Streitfalles könne der Vorwurf einer leichtfertigen Steuerverkürzung auch nicht daraus abgeleitet werden, daß das FA dem Kläger die Erklärungsvordrucke vor dem 31. Dezember 1990 zugesandt habe. Angesichts des Alters des 1909 geborenen Klägers und seiner schweren Behinderung verblieben erhebliche Zweifel an seiner Fähigkeit, die mögliche Steuerpflichtigkeit der Sparguthaben zu erkennen. Das FG könne namentlich in Anbetracht der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten ärztlichen Bescheinigung aus 1982 über den im selben Jahr erlittenen Hirninfarkt nicht die Überzeugung gewinnen, daß der Kläger die vermögensteuer liche Relevanz der Sparguthaben habe erkennen können, selbst wenn er im Besitz entsprechender Erklärungsvordrucke gewesen sei. Der Lauf der Festsetzungsfrist sei nicht nach § 171 Abs. 3 AO 1977 durch Einspruchseinlegung gegen den Vermögensteuerbescheid auch hinsichtlich des hierin nicht festgesetzten Teils des -- materiell-rechtlich entstandenen -- Steueranspruchs gehemmt worden.

Mit seiner hiergegen gerichteten Revision rügt das FA fehlerhafte Anwendung des § 171 Abs. 3 Sätze 1 und 2 i. V. m. § 367 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 und beantragt,

das Urteil des FG hinsichtlich der Vermögensteuerfestsetzung 1983 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger hält die Rechtsauffassung des FG zur Auslegung des § 171 Abs. 3 AO 1977 für zutreffend und beantragt,

die Revision des FA zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

1. Zutreffend ist das FG zunächst davon ausgegangen, daß die regelmäßige Festsetzungsfrist wegen Nichtabgabe der nach § 149 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 i. V. m. § 19 des Vermögensteuergesetzes (VStG) vorgeschriebenen Steuererklärung mit Ablauf des Jahres 1986 begann. Dies ergibt sich aus § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977, wonach die Festsetzungsfrist spätestens mit Ablauf des dritten Kalenderjahres beginnt, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer (hier gemäß § 5 Abs. 2 VStG) entstanden ist.

2. Im Streitfall ist daher jedenfalls dann auch hinsichtlich des erstmals mit der Einspruchsentscheidung im Dezember 1991 festgesetzten Teilbetrags der Vermögensteuer 1983 noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten, wenn eine leichtfertige Steuerverkürzung (§ 378 i. V. m. § 370 AO 1977) vorliegt und die Festsetzungsfrist deswegen gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 fünf Jahre beträgt.

Das FG hat das Vorliegen einer leichtfertigen Steuerverkürzung zwar verneint. Seine Begründung hält jedoch insoweit revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Seine Entscheidung ist deshalb aufzuheben.

a) Der Kläger hat -- wovon auch das FG ausgeht -- den objektiven Tatbestand der (leichtfertigen) Steuerverkürzung verwirklicht. Nach § 378 Abs. 1 i. V. m. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 handelt ordnungswidrig, wer als Steuerpflichtiger die Finanzbehörden (leichtfertig) über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis läßt und dadurch gemäß § 370 Abs. 4 AO 1977 Steuern verkürzt. Der Kläger hat durch Nichtabgabe der (gemeinsamen) Vermögensteuererklärung auf den streitigen Hauptveranlagungsstichtag verhindert, daß die Vermögensteuer rechtzeitig und in der gesetzlich geschuldeten Höhe festgesetzt worden ist.

Die Nichtabgabe der Vermögensteuererklärung erfolgte -- wie § 378 Abs. 1 i. V. m. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 weiterhin voraussetzt -- auch objektiv pflichtwidrig. Gemäß § 149 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 i. V. m. § 19 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b VStG der im Streitjahr geltenden Fassung haben natürliche unbeschränkt vermögensteuerpflichtige Personen, die mit anderen Personen zusammenveranlagt werden (§ 14 VStG), eine Vermögensteuererklärung über ihr Gesamtvermögen abzugeben, wenn dieses den Betrag übersteigt, der sich bei Ansatz von je 70 000 DM (hier also insgesamt 140 000 DM) ergibt. Da sich im konkreten Fall allein die Sparguthaben auf rd. 230 000 DM beliefen und außerdem der der Ehefrau zugerechnete Grundbesitz hinzukam, war die vorbezeichnete Grenze für eine Erklärungspflicht deutlich überschritten. Infolge Nichterfüllung dieser Pflicht hat der Kläger das FA über das Vorhandensein von Vermögen, das zu einer Vermögensteuerpflicht führt, in Unkenntnis gelassen. Darüber hinaus war der Kläger gemäß § 149 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 zur Abgabe der Vermögensteuererklärung auf den 1. Januar 1983 auch deshalb verpflichtet, weil er hierzu durch Schreiben des FA vom 15. Oktober 1990 unter Fristsetzung bis zum 12. November 1990 aufgefordert worden war.

b) Der Tatbestand des § 378 Abs. 1 i. V. m. § 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 AO 1977 ist nur erfüllt, wenn die Steuerverkürzung "leichtfertig" begangen wird.

Leichtfertigkeit stellt eine besondere, qualifizierte Form der Fahrlässigkeit dar (vgl. Klein/Orlopp, Abgabenordnung -- einschließlich Steuerstrafrecht --, 5. Aufl. 1995, § 378 Anm. 4 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs; Rüping in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl. 1995, § 378 AO 1977 Rz. 30). Leichtfertig handelt, wer diejenige Sorgfalt außer acht läßt, zu der er nach den besonderen Umständen des Falles und seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen verpflichtet und imstande ist, obwohl sich ihm hätte aufdrängen müssen, daß dadurch eine Steuerverkürzung eintreten wird (Kohlmann, Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht einschließlich Verfahrensrecht, 6. Aufl., § 378 AO 1977 Rdnr. 61, m. w. N.).

Ob ausgehend von diesen Grundsätzen im Einzelfall Leichtfertigkeit vorliegt, ist im wesentlichen Tatfrage. Die für ihre Beurteilung ggf. erforderlichen Feststellungen hat das FG zu treffen.

aa) Hinsichtlich des Zeitraums 1983 bis Mitte Oktober 1990 hat das FG leichtfertiges Verhalten des Klägers lediglich "aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens, insbesondere auch des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks", aus dem sich zeige, der Kläger verneine "noch heute" die Vermögensteuerpflicht der ihm zuzurechnenden Sparguthaben, verneint. Das FG führt weder aus, auf welches -- konkret zu beschreibendes -- Verhalten des Klägers es abstellt, noch aufgrund welcher Umstände sein Auftreten in der mündlichen Verhandlung den Rückschluß auf seine -- retrospektiv -- zu beurteilende Einsichts- und Erkenntnisfähigkeit zuläßt.

bb) Das FG ist der Auffassung, der Kläger habe auch nach Erhalt der Erklärungsvordrucke -- in denen ausdrücklich nach inländischen Zahlungsmitteln, Bargeld, Guthaben usw. gefragt ist -- die mögliche vermögensteuerliche Relevanz der Sparguthaben nicht erkannt. Das FG schließt dies allein und ohne weitere Begründung aus dem Alter des Klägers, seiner nicht näher beschriebenen körperlichen Behinderung und dem 1982 erlittenen Hirninfarkt. In dieser Allgemeinheit ist die vom FG gezogene Schlußfolgerung jedoch revisionsrechtlich nicht haltbar. Alter, Behinderung und Krankheit können zwar Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit eines Menschen derart beeinträchtigen, daß eine Leichtfertigkeit bei Nichterfüllung (bestimmter) steuerlicher Pflichten ausgeschlossen ist. Dies bedarf jedoch -- abgesehen von insgesamt fehlender Geschäfts- und Prozeßfähigkeit -- der einzelfallbezogenen Begründung, d. h. der konkreten Darlegung, welche Beeinträchtigung in welcher Weise die Einsichtsfähigkeit in bezug auf die in Frage stehende Pflicht herabgesetzt hat. Eine allgemeine Vermutung, Alter und Behinderung schlössen die ordnungsgemäße Erfüllung steuerlicher Pflichten aus, besteht nicht.

3. Die Sache ist nicht spruchreif. Der erkennende Senat ist mangels ausreichender tatrichterlicher Feststellungen zu der Frage, ob der subjektive Tatbestand der leichtfertigen Steuerverkürzung erfüllt ist, daran gehindert, in der Sache selbst zu entscheiden. Das FG wird die dazu notwendigen Feststellungen im zweiten Rechtsgang -- ausgehend von der Rechtsauffassung des erkennenden Senats -- nachzuholen haben. Dabei wird es insbesondere zu berücksichtigen haben, daß auch eine feste -- aber irrige -- Rechtsüberzeugung des Steuerpflichtigen Leichtfertigkeit nicht ausschließt, vielmehr auch in diesem Falle den Steuerpflichtigen eine Informations- und Erkundigungspflicht treffen kann (vgl. hierzu Kühn/Hofmann, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 17. Aufl., § 378 AO 1977 Bem. 3 a, m. w. N.; Rüping in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 378 AO 1977 Rz. 37, m. w. N. in Fn. 17). Deren hartnäckige Mißachtung kann dazu führen, daß Leichtfertigkeit i. S. von § 378 Abs. 1 AO 1977 auch in Fällen von erweislichem Irrtum über Anwendbarkeit und Reichweite steuerlicher Vorschriften anzunehmen ist (Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 21. Oktober 1971 4 St 514/71 Owi, Betriebs-Berater 1971, 1544). Insoweit wird das FG bei seiner nunmehrigen Sachverhaltswürdigung auch zu untersuchen haben, ob und inwieweit der Kläger tatsächlich trotz Zusendung der Erklärungsvordrucke außerstande war, anhand der darin enthaltenen Fragen die zumindest mögliche Steuerpflichtigkeit seiner Sparguthaben aufgrund einer Parallelwertung in der Laiensphäre zu erkennen.

4. Offenbleiben muß, ob der erkennende Senat -- mit der Revision -- der Auffassung des I. Senats im Urteil vom 10. März 1993 I R 93/92, BFHE 175, 481, BStBl II 1995, 165 folgen könnte, daß ein uneingeschränkter Rechtsbehelfsantrag den Ablauf der Festsetzungsfrist auch hinsichtlich eines mit dem angefochtenen Steuerbescheid nicht festgesetzten Teilbetrags des Steueranspruchs nach § 171 Abs. 3 AO 1977 hemmt.

Die Frage des Umfangs einer Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist ist gegenüber der Frage der Dauer der Frist nachrangig.

 

Fundstellen

Haufe-Index 421462

BFH/NV 1996, 731

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