Entscheidungsstichwort (Thema)

Abgrenzung von steuerfreien und steuerpflichtigen Umsätzen eines Kieferorthopäden: Für eine Heilbehandlung vom Arzt selbst angefertigte kieferorthopädische Apparate, Vorgaben der 6. EG-Richtlinie, Abgrenzung zwischen Lieferung und Dienstleistung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Überlassung der von einem Kieferorthopäden bei der Heilbehandlung für einen Patienten selbst angefertigten kieferorthopädischen Apparate ist regelmäßig Teil des steuerfreien Umsatzes aus der Tätigkeit als Zahnarzt.

 

Orientierungssatz

1. Der Einsatz von selbst anfertigten kieferorthopädischen Apparaten ist Teil der zahnärztlichen Dienstleistung, wenn die Apparate für die Behandlung unentbehrlich sind oder die Heilbehandlung in maßgeblichem Umfang unterstützen und nur für die Zwecke der einzelnen Behandlung von dem behandelnden Zahnarzt oder in seinem Labor angefertigt werden.

2. Sofern von einem Kieferorthopäden selbst angefertigte kieferorthopädische Apparate nicht zur Verwirklichung einer Heilbehandlung eingesetzt worden sind, liegt eine steuerpflichtige Lieferung der Apparate an die Patienten vor; insoweit ist es unbeachtlich, wenn sich der Arzt das zivilrechtliche Eigentum an den Apparaten vorbehalten hat.

3. Die Steuerbefreiungsvorschrift des § 4 Nr. 14 Satz 1 und 4 UStG 1980 betrifft bei richtlinienkonformer Auslegung nach Maßgabe der vorrangigen Bestimmung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c Richtlinie 77/388/EWG nur Dienstleistungen durch Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin. Die Steuerbefreiung schließt grundsätzlich keine Lieferungen von Gegenständen ein. Ob ein bestimmter Umsatz als Lieferung eines Gegenstandes oder als Dienstleistung zu beurteilen ist, richtet sich nach dem im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu ermittelnden Wesen des Vorgangs. Maßgebend sind der Umfang und die Bedeutung von Dienstleistungen für den Gesamtvorgang (vgl. EuGH-Rechtsprechung).

 

Normenkette

EWGRL 388/77 Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c; UStG 1980 § 3 Abs. 1, 9, § 4 Nr. 14 Sätze 1, 4 Buchst. b

 

Verfahrensgang

FG Berlin

 

Tatbestand

I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) zu 1 und 2 betreiben eines Gemeinschaftspraxis. In dieser ist der Kläger zu 2 als Kieferorthopäde tätig. Für kieferorthopädische Behandlungen stellen die Kläger in einem in der Praxis unterhaltenen Labor kieferorthopädische Apparate her. Nach einer Betriebsprüfung begehrten sie, die kieferorthopädischen Umsätze --entgegen der eigenen bisherigen Beurteilung-- als steuerfrei zu behandeln. Sie machten dazu im Einspruchsverfahren u.a. geltend, sie hätten keine von der Steuerbefreiung ausgenommenen Umsätze durch Lieferung kieferorthopädischer Behandlungsmittel (Zahnspangen) ausgeführt. Die Patienten müßten diese Gegenstände nach der Behandlung zurückgeben. Sie, die Kläger, bewahrten die Gegenstände für die Beurteilung der weiteren Behandlung und zur Abwehr möglicher Schadensersatzansprüche auf und vernichteten sie dann. Das Eigentum an den Gegenständen hätten sie nicht übertragen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) wies den Einspruch zurück.

Die Klage gegen die Steuerfestsetzungen für 1986 bis 1989 hatte keinen Erfolg, weil die darin besteuerten Laborumsätze nach Ansicht des Finanzgerichts (FG) zutreffend als Lieferungen von kieferorthopädischen Apparaten durch einen Zahnarzt nach § 4 Nr. 14 Satz 4 des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1980) beurteilt worden seien. Steuerpflichtige Lieferungen würden --so führte das FG u.a. weiter aus-- von dem Zahnarzt auch ausgeführt, wenn er Eigentümer der bei einer kieferorthopädischen Behandlung verwendeten Apparate bleibe. Das FA habe mit Recht darauf hingewiesen, daß die wirtschaftlich verbrauchten, zu keiner weiteren Nutzung mehr geeigneten Zahnspangen nur zur Entsorgung zurückgenommen worden seien. Die Rücknahme lasse nicht die von den Klägern vertretene Schlußfolgerung einer reinen Gebrauchsüberlassung zu. Daß die Zahnspangen in der Zahnarztpraxis nicht nach Patienten geordnet aufbewahrt worden seien, sondern völlig unsortiert "für das Finanzamt" vor späterer Entsorgung gesammelt würden, führe ebenfalls nicht dazu, die Abgabe der Zahnspangen an die Patienten als reine Gebrauchsüberlassung zu beurteilen.

Mit der Revision rügen die Kläger Verfahrensfehler und unrichtige Anwendung von § 4 Nr. 14 Satz 4 UStG 1980. Sie vertreten weiter die Auffassung, daß sie die kieferorthopädischen Apparate nicht geliefert hätten, weil das Eigentum daran nicht übertragen worden sei. Sie hätten die bei der Behandlung verwendeten kieferorthopädischen Apparate nach Abschluß der jeweiligen Behandlungsstufe von den Patienten zurückerhalten, um den nächsten Behandlungsschritt vorzubereiten und um Schadensersatzansprüchen besser entgegentreten zu können.

Die Kläger beantragen, die Vorentscheidung aufzuheben und der Klage stattzugeben.

Das FA ist der Revision entgegengetreten.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). In der Vorentscheidung des FG sind die hier zu beurteilenden Umsätze insgesamt als steuerpflichtig angesehen worden. Die bisher vorhandenen Feststellungen reichen jedoch nicht aus, um dies abschließend zu entscheiden.

1. Nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG 1980 sind die Umsätze aus der Tätigkeit als Zahnarzt steuerfrei. Dies gilt nach § 4 Nr. 14 Satz 4 Buchst. b UStG 1980 nicht für die Lieferung oder Wiederherstellung von Zahnprothesen (aus Unterpositionen 9021.21 und 9021.29 des Zolltarifs --ZT--) und kieferorthopädischen Apparaten (aus Unterposition 9021.19 ZT), soweit sie der Unternehmer in seinem Unternehmen hergestellt oder wiederhergestellt hat.

Die Vorschrift setzt Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c und e der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) um. Danach befreien die Mitgliedstaaten unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen, von der Steuer:

-

die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die

im Rahmen der Ausübung der von den betreffenden

Mitgliedstaaten definierten ärztlichen und

arztähnlichen Berufe erbracht werden (Buchst. c),

-

... die Lieferungen von Zahnersatz durch Zahnärzte und

Zahntechniker (Buchst. e).

Nach Art. 28 Abs. 3 i.V.m. Anhang E Nr. 2 Richtlinie

77/388/EWG können die Mitgliedstaaten die in Art. 13

Teil A Abs. 1 Buchst. e Richtlinie 77/388/EWG

bezeichneten Umsätze während einer Übergangszeit (Art.

28 Abs. 4 Richtlinie 77/388/EWG) weiter besteuern.

Ob und welche Umsätze die Kläger durch Lieferungen von

kieferorthopädischen Apparaten ausgeführt haben, kann

nach den vorhandenen Feststellungen nicht abschließend

beurteilt werden. In der Vorentscheidung werden

"Laborumsätze", "kieferorthopädische Umsätze",

"kieferorthopädische Laborumsätze", "Prothetikumsätze"

und "Umsätze aus Lieferungen und Wiederherstellungen

von kieferorthopädischen Apparaten" erwähnt. Es werden

außerdem "kieferorthopädische Behandlungsmittel" und

"Zahnspangen" aufgezählt, ohne daß der Vorentscheidung

eindeutige Feststellungen zu entnehmen sind, ob es

sich dabei um die in der Unterposition 9021.19 ZT

erwähnten kieferorthopädischen Apparate handelt. Da

die Vorentscheidung eine materiell-rechtliche Prüfung

--auch zur Höhe der ggf. nach § 4 Nr. 14 Satz 4

Buchst. b UStG 1980 steuerpflichtigen Umsätze-- nicht

ermöglicht, ist sie aufzuheben.

2. Nach der erneuten Verhandlung wird das FG bei

seiner Entscheidung beachten müssen:

a) Die Steuerbefreiungsvorschrift des § 4 Nr. 14 Satz

1 und 4 UStG 1980 betrifft bei richtlinienkonformer

Auslegung nach Maßgabe der vorrangigen Bestimmung des

Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c Richtlinie 77/388/EWG

nur Dienstleistungen durch Heilbehandlungen im Bereich

der Humanmedizin. Die Steuerbefreiung schließt

grundsätzlich keine Lieferungen von Gegenständen ein.

Das ergibt sich aus der Stellung und dem Zusammenhang,

in dem die Steuerbefreiungsvorschrift des Art. 13 Teil

A Abs. 1 Buchst. c Richtlinie 77/388/EWG steht. Sie

folgt der Steuerbefreiung für Krankenhausleistungen

und schließt --anders als andere

Steuerbefreiungsvorschriften-- keine Lieferungen ein.

Es handelt sich, wie der Gerichtshof der Europäischen

Gemeinschaften (EuGH) entschieden hat (Urteil vom 23.

Februar 1988 Rs. 353/85, Kommission/Vereinigtes

Königreich, Slg. 1988, 831, Steuerrechtsprechung in

Karteiform --StRK--, 6. USt-Richtl. (EWG), Art. 13,

Rechtsspruch 9, Rdnr. 33), um Leistungen, die

außerhalb von Krankenanstalten im Rahmen einer auf

Vertrauen gegründeten Beziehung zwischen Patient und

Behandelndem erbracht werden, wobei diese Beziehung

normalerweise in dessen Praxisräumen zum Tragen kommt.

b) Ob ein bestimmter Umsatz als Lieferung eines

Gegenstandes oder als Dienstleistung zu beurteilen

ist, richtet sich nach dem im Rahmen einer

Gesamtbetrachtung zu ermittelnden Wesen des Vorgangs

(vgl. EuGH-Urteil vom 2. Mai 1996 Rs. C-231/94,

Faaborg-Gelting Linien, Slg. 1996, I-2395, 2406, StRK,

6. USt-Richtl. (EWG), Art. 9, Rechtsspruch 8, Rdnrn.

12 bis 14). Maßgebend sind der Umfang und die

Bedeutung von Dienstleistungen für den Gesamtvorgang.

Danach wird der Umsatz durch kieferorthopädische

Behandlung von der Dienstleistung des Kieferorthopäden

geprägt. Die kieferorthopädische Heilbehandlung ist

darauf gerichtet, Mißbildungen des Kiefers zu

erkennen, zu korrigieren oder zu vermindern. Der

Zahnarzt untersucht dabei, ob und wodurch der

Fehlbildung begegnet werden kann. Wenn er ihr durch

den Einsatz von kieferorthopädischen Apparaten

entgegenwirkt, ist die Überlassung dieser Gegenstände

Teil der Heilbehandlung. Die Behandlung ist ohne ihren

Einsatz nicht fachgerecht. Das gilt jedenfalls, wenn

die Apparate für die Behandlung unentbehrlich sind

oder die Heilbehandlung in maßgeblichem Umfang

unterstützen und nur für die Zwecke der einzelnen

Behandlung von dem behandelnden Zahnarzt oder in

seinem Labor angefertigt werden. Lieferungen von

Gegenständen sind unter den bezeichneten

Voraussetzungen nicht gegeben. Die zahnärztliche

Dienstleistung ist steuerfrei und umfaßt auch die

Überlassung der zur Heilbehandlung von dem Arzt

angefertigten Gegenstände (ebenso Eckhardt/Weiß,

Umsatzsteuergesetz, § 4 Nr. 14 Rz. 63).

Dadurch unterscheidet sich die mit

kieferorthopädischen Apparaten unterstützte

Heilbehandlung von der in dem Urteil des Senats vom

28. November 1996 V R 23/95 (BFHE 181, 540)

beurteilten zahnärztlichen Leistung, bei der

Zahnprothesen geliefert worden waren. Die

Zahnprothesen waren nicht Teil einer einheitlichen

Dienstleistung und konnten wegen des in § 4 Nr. 14

Satz 4 UStG 1980 enthaltenen Aufteilungsgebots auch

nicht als Nebenleistung (durch Lieferung) zur

steuerfreien zahnärztlichen Tätigkeit angesehen

werden.

c) Für den Fall, daß das FG selbst unter Beachtung der

dargelegten Grundsätzebei der erneuten Entscheidung

(z.B. für einen Teil der von den Klägern überlassenen

kieferorthopädischen Apparate) zu der Überzeugung

kommen sollte, daß sie nicht zur Verwirklichung der

Heilbehandlung eingesetzt worden sein sollten, können

Lieferungen dieser Gegenstände nicht schon deshalb

ausgeschlossen werden, weil die Kläger sich das

Eigentum daran vorbehalten haben.

Nach ständiger Rechtsprechung überträgt der

Unternehmer dem Abnehmer bei der Lieferung eines

Gegenstands (§ 3 Abs. 1 UStG 1980) die

Verfügungsmacht, wenn er ihm Substanz, Wert und Ertrag

wirtschaftlich zuwendet (ständige Rechtsprechung, vgl.

z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 8.

November 1995 XI R 63/94, BFHE 179, 189, BStBl II

1996, 114 - Weinrebenlieferung). Sofern und solange

der bürgerlich-rechtliche Eigentümer über den

wirtschaftlichen Gehalt des Gegenstands nicht mehr

verfügt, weil er ihn einem Abnehmer zugewendet hat,

sind die Voraussetzungen für eine Lieferung erfüllt,

selbst wenn sich der Lieferer das Eigentum vorbehalten

hat (vgl. auch BFH-Beschluß vom 18. Dezember 1980 V B

24/80, BFHE 132, 147, BStBl II 1981, 197 zu 1. -

Abzahlungsverkauf). Das gilt für kieferorthopädische

Apparate, die von einem Patienten bestimmungsgemäß ge-

und verbraucht werden. Nach Beendigung der Benutzung

ist der Gegenstand regelmäßig wirtschaftlich

verbraucht. Er kann als Spezialanfertigung von anderen

Patienten grundsätzlich nicht oder nicht gleichwertig

benutzt werden. Eine der umsatzsteuerrechtlichen

Beurteilung des Vorgangs als Lieferung widersprechende

zivilrechtliche Zuordnungsvereinbarung (vgl. dazu

BFH-Urteil vom 7. Mai 1987 V R 56/79, BFHE 150, 85,

BStBl II 1987, 582 zu II. 2. a, m.w.N. -

Flaschenpfand) hat keine rechtserhebliche Bedeutung.

 

Fundstellen

Haufe-Index 66818

BFH/NV 1998, 677

BFH/NV 1998, 677-678 (Leitsatz und Gründe)

BStBl II 1998, 584

BFHE 185, 71

BFHE 1998, 71

BB 1998, 1094

BB 1998, 526

DB 1998, 503

DStRE 1998, 181

DStRE 1998, 181-183 (Leitsatz und Gründe)

HFR 1998, 486

StE 1998, 150

UR 1998, 275

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