Leitsatz (amtlich)

Ein Einfamilienhaus wird nicht dadurch in seiner Eigenart wesentlich beeinträchtigt, daß in einem selbständigen Gebäudeteil, der weder nach seinem Umfang noch nach seinem Baucharakter dem Grundstück das Gepräge gibt, eine Arztpraxis ausgeübt wird (Anschluß an BFHE 99, 493).

 

Normenkette

BewG i.d.F. vor BewG 1965 § 52 Abs. 1; BewDV i.d.F. vor BewG 1965 § 32 Abs. 1 Nr. 3; BewDV i.d.F. vor BewG 1965 § 32 Abs. 1 Nr. 4

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Eigentümerin eines bebauten Grundstücks mit einer Fläche von 2 300 qm. Das Gebäude ist ein einheitlicher, durch Flachdach abgeschlossener Baukörper, der in mehrere Abschnitte gegliedert ist. Von der Straße aus gesehen auf der linken Seite befindet sich eine Doppelgarage. Daran schließt ein zweigeschossiges Wohnhaus mit einer Wohnfläche von 268 qm an. Im anschließenden Mittelteil liegt zur Straßenseite ein Lichthof, der durch eine Mauer, die dieselbe Höhe wie das Erdgeschoß des Wohnteils hat, zur Straßenseite abgeschlossen ist. Hinter diesem Lichthof liegt zur Gartenseite ein überdachtes Schwimmbad. Der an Lichthof und Schwimmbad anschließende rechte Gebäudeteil ist eingeschossig ausgeführt; er enthält sieben Räume mit einer Nutzfläche von ca. 120 qm, in denen der inzwischen verstorbene Ehemann der Klägerin am 1. Januar 1970 eine Arztpraxis ausübte. Im Wohnteil des Gebäudes wurden ein Raum von rund 16 qm Fläche ausschließlich freiberuflich und die Diele gelegentlich als Warteraum für Privatpatienten benutzt. Zwischen dem öffentlichen Straßengrund und dem Gebäude der Klägerin wurden aufgrund einer Auflage der Baubehörde neun befestigte und markierte Parkplätze für PKW sowie Einstellplätze für Fahrräder und Motorräder angelegt.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) stellte für das Grundstück der Klägerin zum 1. Januar 1970 die Grundstückshauptgruppe Einfamilienhaus fest.

Einspruch und Klage, mit denen die Klägerin beantragte, das Grundstück in die Grundstückshauptgruppe der gemischtgenutzten Grundstücke einzuordnen, hatten keinen Erfolg.

Die Revision der Klägerin rügt unrichtige Anwendung der Abgrenzungsmerkmale von Einfamilienhaus und gemischtgenutztem Grundstück. Ihr Haus, so führt sie aus, befinde sich in einem Siedlungsgebiet mit dörflichem Charakter, das keine unmittelbare räumliche Verbindung zur Stadt habe. Neubauten seien dort praktisch nicht errichtet worden. Die Bevölkerung setze sich aus Landwirten und kleinen Gewerbetreibenden zusammen. Dies müsse bei der Anwendung der Verkehrsauffassung berücksichtigt werden. Zwar entspreche es bei Landpraxen der Regel, daß Wohnräume und Praxisräume vereint seien. Der berufliche genutzte Teil des Hauses der Klägerin mit Bestrahlungsräumen, EKG-Räumen und den besonderen elektrischen Installationen für eine Arztpraxis gebe dem Grundstück jedoch ein besonderes Gepräge. Die Praxisräume seien für Wohnzwecke völlig ungeeignet. Die Vorentscheidung vernachlässige auch zu Unrecht die Stellplätze für Fahrzeuge vor dem Haus, die tagsüber ständig besetzt seien.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung, die Einspruchsentscheidung und die Artfeststellung des Einheitswertbescheids zum 1. Januar 1970 aufzuheben und die Artfeststellung gemischtgenutztes Grundstück zu treffen, hilfsweise, die Sache an das FG zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat keinen Erfolg.

1. Für die Entscheidung des Rechtsstreits sind das BewG und die BewDV i. d. F. vor dem BewG 1965 anzuwenden (Art. 2 Abs. 4 des Gesetzes zur Änderung des BewG vom 13. August 1965, BGBl I 1965, 851, BStBl I 1965, 375). Nach § 52 Abs. 1 BewG i. V. m. § 32 Abs. 1 Nr. 3 BewDV ist das Grundstück der Klägerin nur dann in die Grundstückshauptgruppe der gemischtgenutzten Grundstücke einzuordnen, wenn es nicht die Merkmale eines Einfamilienhauses erfüllt. Wohngrundstücke, die nach ihrer baulichen Gestaltung nicht mehr als eine Wohnung enthalten, sind grundsätzlich als Einfamilienhäuser anzusehen (§ 32 Abs. 1 Nr. 4 BewDV). Auf dem Grundstück der Klägerin befindet sich unstreitig nur eine Wohnung.

Die Eigenschaft als Einfamilienhaus könnte bei einem solchen Wohngrundstück allerdings dadurch entfallen, daß durch eine teilweise unmittelbare Nutzung für öffentliche, gewerbliche oder freiberufliche Zwecke (vgl. § 55 BewG) die Eigenart als Einfamilienhaus nach der Verkehrsauffassung wesentlich beeinträchtigt wird (vgl. § 32 Abs. 1 Nr. 4 Satz 4 BewDV). Ob dies der Fall ist, hängt teils von der zutreffenden Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs "die Eigenart als Einfamilienhaus nach der Verkehrsauffassung nicht wesentlich beeinträchtigt" und teils von der Tatsachenfeststellung und -würdigung durch den Tatrichter ab. Soweit es auf Tatsachenfeststellungen und -würdigungen ankommt, kann das Revisionsgericht nur überprüfen, ob sie gegen Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstoßen. Das Revisionsgericht kann deshalb nicht seine eigene Tatsachenwürdigung an die Stelle der Würdigung des FG setzen, wenn diese zwar nicht zwingend, aber immerhin möglich ist (Entscheidung des BFH vom 1. April 1971 IV R 195/69, BFHE 102, 85 [88], BStBl II 1971, 522).

2. Zutreffend hat das FG den Rechtsstandpunkt eingenommen, daß die Verkehrsauffassung i. S. des § 32 Abs. 1 Nr. 4 BewDV die gerichtsbekannte Anschauung ist, die urteilsfähige und unvoreingenommene Bürger von einer Sache haben oder gewinnen, wenn sie mit ihr befaßt werden (BFH-Entscheidung vom 27. Mai 1970 III R 65/68, BFHE 99, 493, BStBl II 1970, 678). Sie bedarf, weil sie gerichtskundig ist, keiner besonderen Ermittlung durch den Tatrichter.

3. Das FG hat auch ohne Rechtsirrtum angenommen, die Eigenart als Einfamilienhaus werde nicht wesentlich beeinträchtigt, wenn der Wohncharakter dem Grundstück aufgrund seiner Bebauung und Nutzung das Gepräge gibt. Für die Entscheidung, ob dies bei dem festgestellten Sachverhalt anzunehmen sei, hat das FG zu Recht sowohl auf das äußere Erscheinungsbild als auch auf die innere Gestaltung des Grundstücks und des Gebäudes abgestellt.

a) Nach der Rechtsprechung des Senats beeinträchtigt die freiberufliche Mitbenutzung eines Wohngrundstücks mit nur einer Wohnung die Eigenart als Einfamilienhaus grundsätzlich weniger als eine gewerbliche Mitbenutzung (Urteil III R 65/68). Doch könnte eine besonders hohe Intensität freiberuflicher Mitbenutzung dem Einfamilienhauscharakter abträglich sein. Diese kann sich sowohl im räumlichen Umfang der Nutzung als auch in der besonderen baulichen Gestaltung für diese Nutzung ausdrücken. Unter dem Blickwinkel des räumlichen Umfangs beeinträchtigt eine freiberufliche Mitbenutzung die Eigenart als Einfamilienhaus dann wesentlich, wenn aufgrund dieser Nutzung der Wohncharakter dem Grundstück nicht mehr das Gepräge gibt. Dies erforderte jedoch, daß die Nutzung als Wohnung und die freiberufliche Nutzung wenigstens gleichen Umfangs sind (vgl. BFH-Urteil vom 3. Februar 1956 III 206/55 U, BFHE 62, 205, BStBl III 1956, 78, und das von der Klägerin zu Unrecht für ihre Auffassung angezogene Urteil des Niedersächsischen FG vom 9. Juli 1971 I 90/70, Entscheidungen der Finanzgerichte 1971 S. 524). Das Grundstück der Klägerin wird nur zu etwa einem Drittel freiberuflich genutzt. Der Vortrag der Klägerin, das FG habe mit dieser Feststellung gegen den Inhalt der Akten verstoßen, weil die freiberuflich genutzte Fläche rd. 38 v. H. der gesamten Wohn- und Nutzfläche betrage, führt nicht zur Aufhebung der Vorentscheidung wegen Verfahrensmangels. Denn zunächst kommt es auf eine genaue prozentuale Abgrenzung nicht an, weil der freiberuflich genutzte Teil des Hauses auch nach der Darstellung der Klägerin nicht an die Hälfte der Gesamtfläche herankommt. Außerdem ergibt sich aus den Akten zwar, daß das Flächenverhältnis von Wohnteil zu Praxisteil 252 qm zu 135 qm (= rd. 39 v. H.) beträgt, aber auch, daß der umbaute Raum im Verhältnis 1 327 cbm zu 475 cbm (= rd. 27 v. H.) steht. Die Feststellung des FG, die auch eine Würdigung des Sachverhalts mit umfaßt, ist damit durchaus möglich.

Der Senat hat mit Urteil vom 2. Juli 1976 III R 54/75 (BFHE 119, 294, BStBl II 1976, 640) entschieden, der Umstand allein, daß für freiberufliche Zwecke nicht nur Wohnräume (gewissermaßen zweckentfremdet), sondern dafür besonders geplante und abgetrennte Räume genutzt werden, die eine gewisse Selbständigkeit gegenüber dem Wohnteil innerhalb eines einheitlichen Baukörpers aufweisen, führe nicht zu einer wesentlichen Beeinträchtigung des Einfamilienhauscharakters. Diese Entscheidung ist zwar zu § 75 Abs. 5 und 6 BewG 1965 ergangen. Es hat sich jedoch insoweit durch das BewG 1965 keine Änderung der Rechtslage gegenüber dem vorher geltenden Recht ergeben, so daß sie für die Entscheidung dieses Streitfalls herangezogen werden kann. Sind die freiberuflich genutzten Räume sowohl nach der inneren Gestaltung des Gebäudes als auch nach dem äußeren Erscheinungsbild innerhalb eines einheitlichen Baukörpers besonders ausgegliedert, so kann dadurch die Intensität der Nutzung gegenüber dem Verhältnis des räumlichen Umfangs von Wohnteil und freiberuflich genutztem Teil verstärkt werden.

b) Das FG hat diese Rechtsgrundsätze bei seiner Entscheidung beachtet. Es hat durch Ortsbesichtigung unangefochten festgestellt, daß der Wohnteil des Grundstücks, dem der Atriumshof und das Schwimmbad zuzurechnen sind, aufgrund seiner inneren und äußeren Gestaltung trotz des beachtlichen räumlichen Umfangs des abgesetzten Praxistrakts dem Grundstück das Gepräge gebe. Nach diesen Feststellungen ist der zweigeschossige Wohnteil aufgrund seines geräumigen architektonischen Zuschnitts das überragende Bauelement mit einer repräsentativen äußeren und inneren Gestaltung, die sich in der Verwendung wertvoller Baustoffe und dem Abschluß zur Gartenseite durch große Glasfronten darstellt. Dagegen tritt der Praxisteil, der nach seinem äußeren Erscheinungsbild dem Wohncharakter des Gebäudes nicht widerspricht, in seiner Bedeutung zurück.

3. Die Revisionsangriffe der Klägerin führen nicht dazu, daß die Tatsachenfeststellungen und -würdigungen des FG als nicht möglich erscheinen.

a) Der Einwand, das Grundstück der Klägerin liege in einem Gemeindeteil mit dörflichem Charakter, in dem Neubauten dieser Art nicht vorhanden seien, ist nicht geeignet, die Wertung des FG in Frage zu stellen. Denn das FG konnte nicht wegen der konservativen Bebauung dieses Ortsteils das Grundstück der Klägerin mit einem Einfamilienhaus in herkömmlicher Bauweise vergleichen. Es mußte sich vielmehr die Frage stellen, ob ein Grundstück mit einer Bebauung, wie der des streitigen Grundstücks, von der Verkehrsauffassung unter Berücksichtigung der heutigen architektonischen Gestaltung, wie sie in Wohn- und Einfamilienhausgebieten anzutreffen ist, als Einfamilienhaus betrachtet würde oder wegen der freiberuflichen Mitbenutzung als gemischtgenutztes Grundstück anzusehen sei.

b) Auch der Einwand, die Praxisräume seien infolge ihrer spezifischen Ausstattung für die Zwecke einer Arztpraxis als Wohnräume völlig ungeeignet, läßt einen Rechtsfehler der Vorentscheidung nicht erkennen. Für die Entscheidung, daß die Eigenart als Einfamilienhaus durch eine freiberufliche Mitbenutzung nicht wesentlich beeinträchtigt werde, kommt es nämlich nicht darauf an, daß diese Nutzung nur von vorübergehender Dauer ist und ohne bauliche Veränderungen beendet und in eine wohnliche Nutzung umgewandelt werden kann (vgl. auch BFH-Entscheidung III R 54/75). Der gesetzliche Tatbestand des § 32 Abs. 1 Nr. 4 BewDV läßt vielmehr zu, daß die freiberufliche Nutzung auf die Dauer besteht.

c) Schließlich kann auch das Vorbringen nicht zwingend zu einer anderen Beurteilung führen, die Stellplätze auf dem Grundstück der Klägerin vor ihrem Gebäudekomplex und deren vielfältige Benutzung während der Sprechstundenzeiten beeinträchtigten den Einfamilienhauscharakter wesentlich. Die Klägerin hat selbst vorgetragen, ihr Grundstück liege an einer sehr belebten Straße, die die Verbindung zwischen der Stadt und dem dörflichen Vorort darstelle. Unter diesen Umständen ist es jedem verständigen Betrachter aufgrund der gegebenen Verkehrslage einleuchtend, daß parkende Fahrzeuge von öffentlichem Verkehrsgrund auf Grundflächen der Anlieger verwiesen werden, mit denen der ruhende Verkehr im Zusammenhang steht. Damit spricht die Erscheinung, daß auf dem Grundstück der Klägerin nicht nur vorübergehend eine größere Zahl von Fahrzeugen abgestellt ist, unter Berücksichtigung der oben dargestellten Rechtslage ebenfalls nicht zwingend gegen den Einfamilienhauscharakter.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72660

BStBl II 1978, 188

BFHE 1978, 73

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