Entscheidungsstichwort (Thema)

Steuerliche Betriebsprüfung Verfahrensrecht/Abgabenordnung Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Das Finanzgericht ist im Berufungsverfahren gegen Steuerbescheide bei Anwendung des § 205 a AO berechtigt, sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Finanzamts auch dann zu setzen, wenn sich die Ermessensentscheidung des Finanzamts innerhalb der gesetzlichen Ermessensgrenzen bewegt.

Bei Anwendung des § 205 a AO müssen die Bestimmungen des § 171 AO und des § 2 Absatz 1 und 2 StAnpG beachtet werden. Es dürfen Unterlagen nur insoweit verlangt werden, als ihre Vorlage dem Steuerpflichtigen nach den Umständen zugemutet werden kann. Die Ermessensentscheidung ist nach Billigkeit zu treffen und muß dem Zweck des § 205 a AO entsprechen.

Unter § 205 a Absatz 2 AO fallen auch Betriebsausgaben zum Erwerb aktivierungspflichtiger Wirtschaftsgüter.

 

Normenkette

AO §§ 171, 205a; StAnpG § 2

 

Tatbestand

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Entscheidungsgründe

Der Steuerpflichtige (Stpfl.) ist Mitinhaber einer Wollgroßhandlung. Er hat in seiner Einkommensteuererklärung zur Berechnung der Vorauszahlungen für die Zeit vom 21. Juni bis 30. September 1948 seine Einkünfte aus Gewerbebetrieb mit 3.857 RM angegeben. Bei einer Betriebsprüfung Mitte Dezember 1948 wurde festgestellt, daß die Firma 32.397,35 DM für am 15. und 27. Juli, am 16. und 28. August 1948 getätigte Wolleinkäufe verbucht und hierfür in Ermangelung von Lieferantenrechnungen Eigenbelege angefertigt hat. Die Inhaber der Firma erklärten, daß es sich ausschließlich um Musterwollen gehandelt habe, die sie von 30 bis 40 verschiedenen Wollhändlern aufgekauft und selbst in Ballen und Säcken verpackt hätten. Die Namen ihrer Lieferanten haben sie nicht genannt. Das Finanzamt erhöhte daraufhin durch Vorauszahlungsbescheid die Einkünfte des Stpfl. aus Gewerbebetrieb für das 3. Vierteljahr 1948 von 3.857 DM auf 20.055 DM und die Steuer von 1.204 DM auf 13.893 DM.

Gegen den Bescheid legte der Stpfl. Beschwerde ein, die der Oberfinanzpräsident als unbegründet zurückwies. Gleichzeitig erklärte der Oberfinanzpräsident, daß nach § 304 Absatz 4 der Reichsabgabenordnung (AO) kein weiteres Rechtsmittel gegeben sei. Hiergegen legte der Stpfl. Berufung an das Finanzgericht ein. Das Finanzgericht gab der Berufung statt und begründete dies wie folgt:

Durch § 22 der Verordnung Nr 165 über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone (Verordnungsbl. für die Brit. Zone S. 263) sei der Klageweg an das Landesverwaltungsgericht gegenüber allen Verwaltungsakten eröffnet worden, und zwar selbst dann, wenn der Verwaltungsakt nach deutschen Vorschriften endgültig sei. Es sei somit entgegen den Bestimmungen des § 304 Absatz 4 AO die Möglichkeit gegeben worden, auch Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzpräsidenten durch ein weiteres Rechtsmittel anzugreifen. Am 1. Februar 1949 sei die Verordnung Nr 175 über die Wiedererrichtung von Finanzgerichten (Verordnungsbl. S. 385) in Kraft getreten. In ihren §§ 17 und 18, die die Zuständigkeit der Finanzgerichte abgrenzen, sei zwar eine Anrufung der Finanzgerichte gegenüber Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzpräsidenten nicht vorgesehen. Man müsse aber davon ausgehen, daß die Verordnung Nr. 175 die Rechtsmittelmöglichkeit gegenüber der Generalklausel des § 22 der Verordnung Nr 165 nicht habe einschränken wollen. Es sei auch kein Grund ersichtlich, weshalb die der Beschwerde an den Oberfinanzpräsidenten unterliegenden Verwaltungsakte der Finanzämter als einzige Verwaltungsakte der richterlichen Nachprüfung entzogen sein sollten. Durch die Verordnung Nr 175 seien lediglich an die Stelle der allgemeinen Verwaltungsgerichte die besonderen Verwaltungsgerichte für Steuersachen, die Finanzgerichte, getreten. Die Form der Anrufung des Finanzgerichts sei - abgesehen von den Fällen des § 18 der Verordnung Nr 175 - die Berufung. Die vorliegende Berufung sei daher als zulässig zu erachten.

§ 205 a AO sei als rechtsgültig anzusehen. Das Kontrollratsgesetz Nr. 1 (Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland, Jahrg. 1945 Nr 1 S. 6) habe die Gesetze, die wegen ihres nationalsozialistischen Inhalts nicht mehr anwendbar seien, ausdrücklich aufgehoben. Es habe also damit die Rechtsgültigkeit der nicht ausdrücklich aufgehobenen Gesetze im Grundsatz anerkannt. Auch das Gesetz Nr 1 der Militärregierung - Deutschland, Kontrollgebiet des Obersten Befehlshabers (Amtsbl. der Militärregierung Deutschland - Brit. Kontrollgebiet - Nr 3) spreche im Artikel III Ziffer 6 ausdrücklich vom deutschen Recht, das nach dem 30. Januar 1933 in Kraft getreten sei und in Kraft bleibe.

Die Bestimmung des § 205 a AO sei auch nicht als eine typisch nationalsozialistische Bestimmung anzusehen. Sie sei auf die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs hinsichtlich der Schmiergelder zurückzuführen. Durch Urteil VI A 1184/31 vom 30. September 1931, Steuer und Wirtschaft 1931 Nr. 1024, habe der Reichsfinanzhof entschieden, daß Schmiergelder, soweit sie als ausgegeben angesehen werden müßten, als Werbungskosten abzuziehen seien. Durch Gutachten VI D 1/32 vom 10. März 1932, Slg. Bd. 30 S. 233, Reichssteuerbl. 1932 S. 324; Urteil VI A 85/32 vom 13. Juli 1932, Slg. Bd. 31 S. 148, Reichssteuerbl. 1932 S. 704, und Gutachten Gr.S. D 4/32 vom 20. Mai 1933, Slg. Bd. 33 S. 248, Reichssteuerbl. 1933 S. 520, habe der Reichsfinanzhof die Finanzämter für die Besteuerung der Schmiergelder beim Empfänger auf den Weg der Inanspruchnahme der Auskunftspflicht derjenigen verwiesen, die die Schmiergelder bezahlt hätten. Daraufhin sei die Vorschrift des § 205 a AO erlassen worden. Es sei sehr wohl möglich, daß die Bestimmung auch dann erlassen worden wäre, wenn die Regierung der Weimarer Republik nicht durch die nationalsozialistische Regierung abgelöst worden wäre.

§ 205 a AO verstoße allerdings insofern gegen die Grundsätze des Einkommensteuerrechtes, als er es ermögliche, auch solchen Ausgaben den Abzug zu versagen, die nach den Bestimmungen des Einkommensteuergesetzes Betriebsausgaben oder Werbungskosten darstellten. Das sei aber kein Grund, die Vorschrift für rechtsungültig zu erklären. So sei auch Professor Dr. Klein, der sich in der Wirtschaftszeitung (Ausgabe vom 6. August 1949) gegen die Auswüchse bei der Anwendung des § 205 a AO wende, der Meinung, es ließen sich gegen die Rechtsgültigkeit der Vorschrift keine begründeten Bedenken erheben. Wenn die Vorschrift ursprünglich vor allem als Maßnahme zur Bekämpfung des Schmiergelderunwesens veranlaßt worden sei, so könnten keine Bedenken bestehen, mit ihrer Hilfe sonstige unlautere Geschäftsgepflogenheiten, insbesondere Schwarzmarktgeschäfte, zu bekämpfen.

§ 205 a AO sei eine Kannvorschrift. Das Finanzamt habe seine Entscheidung innerhalb der seinem Ermessen durch das Gesetz gezogenen Grenzen nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit zu treffen.

Der Stpfl. habe ein Schreiben an seine Bank vorgelegt, wonach er kurz vor dem 16. August 1948 für den an diesem Tage getätigten Einkauf einen Kredit von 15.000 DM in Anspruch genommen habe. Es bestehe somit kein Grund zu der Annahme, daß es sich bei den umstrittenen Wareneinkäufen um Einkäufe aus der RM-Zeit handele. Die Einkäufe seien bei 40 bis 50 verschiedenen Wollhändlern getätigt worden. Es handele sich um Einkäufe kleiner und kleinster Posten sog. Musterwolle. Die Firma habe sich in einer Notlage befunden, da sie infolge der Zurückhaltung der Wollimporteure den erhöhten Bedarf ihrer Kunden seinerzeit auf andere Weise nicht habe decken können. Die Geschäfte seien kurz nach der Währungsreform getätigt worden und hätten sich über die Zeit von nur 6 Wochen erstreckt. Bei Einkäufen kleiner Mengen Musterwollen seien schon früher nicht regelmäßig Rechnungen erstellt worden. Auf den einzelnen Lieferanten entfielen im Durchschnitt lediglich etwa 600 bis 800 DM, also verhältnismäßig kleine Beträge. Es sei nicht anzunehmen, daß die Erteilung einer Rechnung unterlassen worden sei, um die Beträge der Besteuerung zu entziehen. Desgleichen zwinge der Vorgang nicht zu der Annahme, der Stpfl. habe seinen Lieferanten Steuerhinterziehungen ermöglichen wollen. Nachdem die Firma die vielen kleinen Einzelposten buchmäßig zusammengezogen habe, sei sie glaubhafterweise jetzt nicht mehr in der Lage, anzugeben, wie sich der Gesamtbetrag auf die einzelnen Lieferanten verteile. Unter diesen Umständen überschreite das Verlangen des Finanzamts nach genauer Bezeichnung der Lieferanten die durch das Gesetz gezogenen Grenzen.

Das Finanzgericht erkannte die Abzugsfähigkeit der umstrittenen Beträge an. Hiergegen legte der Finanzamts-Vorsteher Rechtsbeschwerde ein. Die Prüfung der Rechtsbeschwerde ergibt folgendes:

Zu Ziffer 1: Wie in der zur Veröffentlichung bestimmten Entscheidung IV 15/51 vom 23. Februar 1951 im einzelnen dargestellt ist, tritt der Senat der Auffassung des Finanzgerichts hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung gegen Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen über Vorauszahlungsbescheide bei.

Zu Ziffer 2: Hier ist die Rechtsbeschwerde des Finanzamts der Auffassung, daß das Finanzgericht nur berechtigt gewesen sei, zu prüfen, ob das Finanzamt die Ermessensgrenzen eingehalten habe. Das Finanzgericht sei nicht berechtigt, die Entscheidung des Finanzamts aufzuheben, da weder ein Ermessensmißbrauch noch eine überschreitung der Ermessensgrenzen vorliege. Die vom Gesetz in § 205 a AO aufgestellten Bedingungen seien erfüllt. Des weiteren macht das Finanzamt umfangreiche Ausführungen tatsächlicher Natur, die sich mit den Gepflogenheiten des Wollhandels befassen und dartun sollen, daß für die Firma kein zwingender Grund bestanden habe, Ohne Rechnung-Geschäfte zu tätigen. In der Stellungnahme des Stpfl. wird die Richtigkeit dieser Darlegungen teilweise bestritten; es wird der Antrag gestellt, ein Gutachten der für die Beurteilung zuständigen Vereinigung des Wollhandels e. V. in Bremen einzuholen.

Der Ansicht des Finanzgerichts und der von ihm hierfür gegebenen Begründung, daß § 205 a AO auch heute noch als rechtsgültig anzusehen ist, wird beigepflichtet. Die Ausführungen entsprechen den Auffassungen, wie sie auch in dem Gutachten des Obersten Finanzgerichtshofs III D 1/48 S vom 23. November 1948, Amtsblatt des Bayer. Staatsministeriums der Finanzen 1949 S. 8, ausgesprochen sind. Die Bestimmung widerspricht nicht dem geltenden Verfassungsrecht. Sie hätte im Rahmen der Grundsätze des demokratischen Staates ebenfalls erlassen werden können. Durch sie soll ganz allgemein verwerflichem Geschäftsgebaren in der Wirtschaft entgegengewirkt werden können.

Rechtsirrig ist die Auffassung des Finanzamts und des Finanzgerichts, daß das Finanzgericht bei Berufungen gegen Steuerbescheide, wozu auch die Berufung gegen die Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen über Vorauszahlungsbescheide gerechnet werden müssen, nur das Recht habe, nachzuprüfen, ob das Finanzamt die Ermessensgrenzen eingehalten habe. Das Finanzgericht ist vielmehr hier berechtigt, sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Finanzamts zu setzen, wenn es vom Ermessen des Finanzamts abweicht. Im einzelnen wird hierzu auf die zur Veröffentlichung bestimmte Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 44/50 vom 2. Februar 1951 verwiesen.

Abzulehnen ist des weiteren die Auffassung des Stpfl., als Betriebsausgaben im Sinne des § 205 a AO seien Ausgaben zur Beschaffung aktivierungspflichtiger Betriebsvermögensgegenstände nicht anzusehen. Der Begriff der Betriebsausgaben ist durch das Einkommensteuergesetz festgelegt und umfaßt alle Ausgaben eines Betriebes, ohne Rücksicht darauf, ob sie im Veranlagungszeitraum bereits Aufwand geworden sind oder nicht. Wie bereits ausgeführt, soll durch die Bestimmung nicht nur das Schmiergeldunwesen, sondern auch der Schwarze Markt bekämpft werden.

Das Finanzamt und das Finanzgericht sind bei der Anwendung des § 205 a AO an die Grenzen gebunden, die das Gesetz dem Ermessen stellt. Hierbei müssen die Bestimmungen dieser Vorschrift im Rahmen der übrigen Vorschriften der Reichsabgabenordnung betrachtet werden. Nach § 171 Absatz 1 AO dürfen die Finanzverwaltungsbehörden nur Unterlagen verlangen, deren Beschaffung dem Stpfl. nach den Umständen zugemutet werden kann. Des weiteren müssen die Grundsätze von Billigkeit und Zweckmäßigkeit beachtet werden (§ 2 Absatz 1 und 2 des Steueranpassungsgesetzes). Es muß somit die Entscheidung dem Zweck der Vorschrift entsprechen. Werden diese Grundsätze verletzt, die Grenzen für das Ermessen aufrichten, so werden die Grenzen überschritten, die das Gesetz dem Ermessen stellt. Siehe auch § 23 Absatz 3 der Verordnung Nr 165 für die britische Zone und § 36 der Verwaltungsgerichtsgesetze für die Länder der amerikanischen Zone. Sind die Gewerbetreibenden, wie dies in der Zeit vor der Währungsreform in weitem Umfange der Fall war, allgemein gezwungen Kohle, Benzin und andere Bedarfsartikel auf dem Schwarzen Markt zu kaufen, um ihren Betrieb aufrechtzuerhalten, da der legale Markt vollkommen versagt, so werden bei einer Anwendung des § 205 a AO Unterlagen verlangt, deren Beschaffung nicht zugemutet werden kann. Es sind die Voraussetzungen des § 205 a AO nicht gegeben. Anders ist die Lage dort, wo ein Kaufmann im Interesse einer unlauteren Konkurrenz sich unzulässiger Mittel bedient, deren Bekämpfung dem Zweck des § 205 a AO entspricht, wie dies bei Schmiergeldern meist der Fall sein wird. Dem Finanzamt ist darin beizupflichten, daß sich die Rechtslage hinsichtlich der Schwarzmarktgeschäfte durch die Währungsumstellung grundlegend geändert hat. Es kann im einzelnen Fall schwierig sein, die richtige Entscheidung zu treffen. Soweit jedoch die Entscheidung sich innerhalb der oben dargestellten Grenzen hält, ist sie nach § 297 AO im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mit Erfolg angreifbar.

Im vorliegenden Fall gehen die Auffassung des Finanzamts und des Finanzgerichts in der Beurteilung tatsächlicher Verhältnisse auseinander. Die Tatsachenwürdigung ist im Rechtsbeschwerdeverfahren nur im Rahmen des § 288 AO angreifbar. Die Ausführungen der Rechtsbeschwerde und die Gegenausführungen des Stpfl. erwecken den Eindruck, daß eine weitere Klärung der Verhältnisse auf dem Wollmarkt in der Zeit nach der Währungsreform durch Einholung gutachtlicher äußerungen, gegebenenfalls in der vom Stpfl. vorgesehenen Form, nahegelegen hätte. Der Finanzamts- Vorsteher behauptet mangelnde Sachaufklärung und rügt damit einen Verfahrensmangel. Es besteht die Möglichkeit einer nicht ganz ausreichenden Sachaufklärung. Im Verfahren der Festsetzung der Vorauszahlungen wird man Erhebungen zurückstellen können, die zweckmäßigerweise erst in Verbindung mit der endgültigen Veranlagung durchgeführt werden. Im vorliegenden Fall erscheint es aber nach den umfangreichen Erhebungen der Vorbehörden und der eingehenden Stellungnahme des Stpfl. angezeigt, die Streitfrage bereits jetzt endgültig zu klären. Es wird deshalb die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache zur nochmaligen Würdigung an das Finanzgericht zurückverwiesen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 407203

BStBl III 1951, 77

BFHE 1952, 204

BFHE 55, 204

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