Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen und Umfang des Schadensersatzanspruchs wegen Aufrechterhaltung einer gemeinschaftswidrigen Bestimmung

 

Leitsatz (amtlich)

Vor Ergehen des EuGH-Urteils Karlheinz Fischer vom 11. Juni 1998 Rs. C-283/95 (Slg. 1998, I-3369, UR 1998, 384) war unklar, inwieweit Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG die Besteuerung von Glücksspielen verbietet. Ein sich nach den Urteilen Karlheinz Fischer und Linneweber/Akritidis (EuGH-Urteil vom 17. Februar 2005 Rs. C-453/02, C-462/03, Linneweber/ Akritidis, Beilage zu BFH/NV 2005, 94) möglicherweise ergebender Schadensersatzanspruch könnte allenfalls die Schäden abdecken, die nach Ergehen dieser Urteile durch die ―möglicherweise gemeinschaftsrechtswidrige― Aufrechterhaltung der Vorschrift des § 4 Nr. 9 Buchst. b UStG entstanden sind.

 

Normenkette

UStG 1991 § 4 Nr. 9 Buchst. b; EWGRL 388/77 Art. 13 Teil B Buchst. f; AO 1977 § 227 Abs. 1

 

Verfahrensgang

FG Münster (Urteil vom 24.06.2003; Aktenzeichen 5 K 4783/01 AO; EFG 2004, 1103)

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb im Jahre 1992 ein Glücksspielunternehmen. Gegen ihn wurden deshalb zunächst Umsatzsteuervorauszahlungen und dann eine Jahresumsatzsteuer für 1992 festgesetzt. Gegen den Jahressteuerbescheid über die Umsatzsteuer für 1992 legte der Kläger Einspruch ein; zur Begründung verwies er auf ein beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) anhängiges Verfahren betreffend die Umsatzsteuerfreiheit von Glücksspielumsätzen gemäß Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG).

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) setzte die Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 1992 zunächst bis zur Entscheidung über den Einspruch aus. Nach Ergehen des EuGH-Urteils in dem vom Kläger angesprochenen Verfahren (vom 11. Juni 1998 Rs. C-283/95, Karlheinz Fischer, Slg. 1998, I-3369, Umsatzsteuer-Rundschau ―UR― 1998, 384) hob das FA den Umsatzsteuerbescheid für 1992 auf.

Wegen Nichtzahlung der Umsatzsteuervorauszahlungen hatte das FA Säumniszuschläge in Höhe von 7 310 DM geltend gemacht. Der Kläger beantragte den Erlass dieser Säumniszuschläge. Das FA erließ die Säumniszuschläge aus sachlichen Billigkeitsgründen, soweit sie auf die Zeit ab Einlegung des Einspruchs gegen den Umsatzsteuerbescheid für 1992 (am 24. September 1996) entfielen; den Erlass der bis zur Einspruchseinlegung verwirkten Säumniszuschläge lehnte es ab (Erlassbescheid vom 11. Februar 2000).

Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Dabei verwies das Finanzgericht (FG) ―ebenso wie bereits das FA― auf die Vorschrift des § 240 Abs. 1 Satz 4 der Abgabenordnung (AO 1977), wonach im Falle der Aufhebung einer Steuerfestsetzung die bis dahin verwirkten Säumniszuschläge unberührt bleiben (vgl. Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 2004, 1103).

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der vorliegenden Revision. Er meint im Wesentlichen, die Bundesrepublik Deutschland habe Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG nicht ordnungsgemäß in deutsches Recht umgesetzt. Sie sei ihm deshalb zum Schadensersatz verpflichtet. Dieser Schadensersatzanspruch stehe der Erhebung der Säumniszuschläge entgegen. Im Übrigen sei es ihm (dem Kläger) nicht zumutbar gewesen, bereits die Vorauszahlungsbescheide anzufechten, die Aussetzung ihrer Vollziehung zu beantragen und dadurch die streitigen Säumniszuschläge zu vermeiden, da er bei der damaligen Verwaltungspraxis mit einer Verböserung der Steuerfestsetzungen habe rechnen müssen.

Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung und der angefochtenen Einspruchsentscheidung sowie der Ablehnung des (weiteren) Erlasses der Säumniszuschläge im Bescheid vom 11. Februar 2000 das FA zu verpflichten, eine erneute Ermessensentscheidung zu treffen,

hilfsweise,

die Säumniszuschläge selbst zu erlassen.

Das FA verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist unbegründet.

Das FG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, dass das FA den Erlass der nach dem Bescheid vom 11. Februar 2000 noch offenen Säumniszuschläge ablehnen durfte.

1. Gemäß § 227 Abs. 1 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, zu denen gemäß § 37 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 4 AO 1977 auch Ansprüche auf Säumniszuschläge gehören, ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach der Lage des einzelnen Falles unbillig ist.

2. Im Streitfall kommt lediglich ein Erlass wegen sachlicher Unbilligkeit in Betracht.

Nach der Rechtsprechung (vgl. Bundesfinanzhof ―BFH―, Urteil vom 29. August 1991 V R 78/86, BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906, m.w.N.) ist ein Erlass von Säumniszuschlägen gemäß § 227 Abs. 1 AO 1977 aus sachlichen Billigkeitsgründen geboten, wenn ihre Einziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge, nicht zu rechtfertigen ist, obwohl der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Erhebung der Säumniszuschläge aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft. Dagegen rechtfertigen Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes einer steuerrechtlichen Vorschrift bewusst in Kauf genommen hat, keinen Erlass aus Billigkeitsgründen.

Von diesen Grundsätzen ist auch das FG ausgegangen.

3. Entgegen der Auffassung des Klägers war die Erhebung der Säumniszuschläge nicht deshalb unbillig, weil die zugrunde liegenden Vorauszahlungsbescheide Gemeinschaftsrecht verletzten und sich der Kläger auf die Steuerfreiheit seiner Umsätze nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG berufen konnte.

Allerdings hat diese Bestimmung unmittelbare Wirkung in dem Sinne, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten darauf berufen kann, um die Anwendung mit dieser Bestimmung unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern (vgl. EuGH-Urteil vom 17. Februar 2005 Rs. C-453/02, C-462/03, Linneweber/Akritidis, Beilage zu BFH/NV 2005, 94). Zwischen den Parteien ist auch nicht streitig, dass sich der Kläger auf die Steuerfreiheit seiner Umsätze nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG berufen kann, nachdem die Spielumsätze des Klägers nicht nach § 4 Nr. 9 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes 1991 (UStG) steuerfrei sind.

Entgegen der Ansicht des Klägers folgt aus diesem Berufungsrecht aber kein Schadensersatzanspruch gegen den Fiskus.

Das Gemeinschaftsrecht erkennt einen Entschädigungsanspruch an, sofern drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß ist hinreichend qualifiziert, und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem dem Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang (vgl. EuGH-Urteile vom 18. Januar 2001 Rs. C-150/99, Stockholm Lindöpark, Slg. 2001, I-493, Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht ―UVR― 2001, 108, Rdnr. 37, und vom 30. September 2003 Rs. C-224/01, Köbler, Slg. 2003, I-10239, Der Betrieb ―DB― 2003, 2331, m.w.N.; BFH-Urteil vom 13. Januar 2005 V R 35/03, Deutsches Steuerrecht ―DStR― 2005, 647).

Bei der Frage, ob ein qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorliegt, sind alle Gesichtspunkte des Einzelfalls zu berücksichtigen. Zu diesen Gesichtspunkten gehören u.a. das Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit des Verstoßes und die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums; ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ist jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die fragliche Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des EuGH offenkundig verkennt (vgl. EuGH-Urteil Köbler in Slg. 2003, I-10239, DB 2003, 2331 Rdnrn. 54 bis 56).

Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt. Die Vorgaben in Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG waren nämlich vor Ergehen der EuGH-Urteile Karlheinz Fischer (Slg. 1998, I-3369, UR 1998, 384) und Linneweber/Akritidis (Beilage zu BFH/NV 2005, 94) nicht eindeutig.

Nach dieser Bestimmung befreien die Mitgliedstaaten Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz "unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden" und die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer.

Hierzu hat der EuGH im Urteil Karlheinz Fischer (Slg. 1998, I-3369, UR 1998, 384) entschieden, dass ein Mitgliedstaat die unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels nicht der Mehrwertsteuer unterwerfen darf, wenn die Veranstaltung eines solchen Glücksspiels durch eine zugelassene öffentliche Spielbank steuerfrei ist. Im Urteil Linneweber/Akritidis (Beilage zu BFH/NV 2005, 94) hat er dies wie folgt präzisiert:

"1. Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG … ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, wonach die Veranstaltung oder der Betrieb von Glücksspielen und Glücksspielgeräten aller Art in zugelassenen öffentlichen Spielbanken steuerfrei ist, während diese Steuerbefreiung für die Ausübung der gleichen Tätigkeit durch Wirtschaftsteilnehmer, die nicht Spielbankbetreiber sind, nicht gilt.

2. Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG hat unmittelbare Wirkung in dem Sinne, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten darauf berufen kann, um die Anwendung mit dieser Bestimmung unvereinbar innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern."

Vor Ergehen des Urteils Karlheinz Fischer (Slg. 19998, I-3369, UR 1998, 384) war unklar, inwieweit Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG die Besteuerung von Glücksspielen verbietet. So hatte die EG-Kommission im Verfahren Karlheinz Fischer geltend gemacht, dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG kein absolutes Verbot der Besteuerung von Glücksspielen enthalte. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hatte vorgetragen, die Mitgliedstaaten könnten im Rahmen der Festlegung der Bedingungen und Grenzen der Befreiung vorsehen, dass nur die Umsätze in ordnungsgemäß zugelassenen öffentlichen Spielbanken befreit seien (EuGH-Urteil Karlheinz Fischer, Slg. 1998, I-3369, UR 1998, 384 RandNr. 26).

Unter diesen Umständen durfte das FA jedenfalls bis zum Ergehen des Urteils Karlheinz Fischer (Slg. 1998, I-3369, UR 1998, 384) davon ausgehen, dass die Vorschrift des § 4 Nr. 9 Buchst. b UStG mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar war und die Spielumsätze des Klägers nicht steuerfrei waren. Eine qualifizierte Verletzung des Gemeinschaftsrechts, die den Fiskus zum Schadensersatz verpflichten und die Einziehung der Säumniszuschläge als unbillig erscheinen lassen könnte, liegt somit nicht vor. Ein sich nach den Urteilen Karlheinz Fischer und Linneweber/ Akritidis möglicherweise ergebender Schadensersatzanspruch deckt allenfalls die Schäden ab, die nach Ergehen dieser Urteile durch die ―möglicherweise gemeinschaftsrechtswidrige― Aufrechterhaltung der Vorschrift des § 4 Nr. 9 Buchst. b UStG entstanden sind. Hierzu gehören die streitigen Säumniszuschläge nicht. Diese betreffen lediglich die Zeit bis zum 24. September 1996 und damit die Zeit vor Ergehen des Urteils Karlheinz Fischer am 11. Juni 1998.

4. Schließlich ist die Einziehung der Säumniszuschläge auch nicht deshalb unbillig, weil der Kläger davon absah, die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide anzufechten und die Aussetzung ihrer Vollziehung zu beantragen. Es war Sache des Klägers zu entscheiden, ob er die Vorauszahlungsbescheide anfechten und versuchen wollte, durch einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung die Entstehung von Säumniszuschlägen zu verhindern. Wenn er hiervon aus welchen Gründen auch immer (z.B. in Befürchtung einer Verböserung der bisherigen Steuerfestsetzungen) absah, muss er auch die gesetzlichen Konsequenzen hinnehmen (zur Zumutbarkeit der Einlegung von Rechtsmitteln vgl. auch BFH-Urteil vom 11. August 1987 VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512). Ein Grund für einen Billigkeitserlass aus sachlichen Gründen liegt insoweit nicht vor.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1385321

BFH/NV 2005, 1664

BStBl II 2006, 96

BFHE 2006, 159

BFHE 210, 159

BB 2005, 1670

BB 2005, 2731

DB 2005, 2005

DStR 2005, 1313

DStRE 2005, 1048

HFR 2005, 894

UR 2005, 549

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