Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Folgeänderung eines Steuerbescheids nach § 174 Abs. 3 AO 1977

 

Leitsatz (NV)

1. Einer Anwendung des § 174 Abs. 3 AO 1977 steht nicht entgegen, daß das Finanzamt den angefochtenen Änderungsbescheid auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestützt hat. § 174 Abs. 3 AO 1977 stellt die Änderung nicht in das Ermessen des Finanzamts.

2. Ein bestimmter Sachverhalt ist in einem Steuerbescheid für den Steuerpflichtigen erkennbar in der Annahme unberücksichtigt geblieben, dieser Sachverhalt sei bei einem anderen Steuerpflichtigen zu erfassen, wenn er selbst das Finanzamt zu dieser Annahme veranlaßt hat. Dieser Steuerpflichtige würde sich in Widerspruch zu seinem vorausgegangenen Verhalten setzen, wenn er sich gegenüber einer Änderung seiner ursprünglichen Veranlagung auf sein Vertrauen auf deren Bestandskraft berufen würde.

3. Für eine Änderung einer Einkommensteuerveranlagung nach § 174 Abs. 3 AO 1977 bedarf es nicht der Beteiligung des Steuerpflichtigen am Einspruchsverfahren des anderen Steuerpflichtigen, bei dem das Finanzamt den betreffenden Sachverhalt bisher rechtsirrig berücksichtigt hatte.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1, § 174 Abs. 3; EStG § 21 Abs. 2

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches FG

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) sowie seine mit ihm zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Ehefrau waren bis zum Streitjahr 1975 gemeinsam Eigentümer eines Zweifamilienhauses, dessen Erdgeschoß sie selbst bewohnen, während im Obergeschoß ihre Tochter und ihr Schwiegersohn, die Eheleute D., ihre Wohnung haben. Aufgrund Überlassungsvertrags vom 18. Januar 1975 übertrugen der Kläger und seine Ehefrau das Grundstück in vorweggenommener Erbfolge auf ihre Tochter. Verrechnungszeitpunkt war der 1. Januar 1975. Die Übernehmerin verpflichtete sich zu Altenteilsleistungen, zu denen u. a. die lebenslängliche unentgeltliche Überlassung der Erdgeschoßwohnung an den Kläger und seine Ehefrau gehörte. Das Altenteil sollte in das Grundbuch eingetragen werden. Dies wurde am 24. April 1975 beim Grundbuchamt beantragt und anschließend auch ausgeführt.

Der Kläger und seine Ehefrau erklärten in ihrer Einkommensteuererklärung 1975, bei deren Anfertigung derselbe Steuerbevollmächtigte wie bei der Einkommensteuererklärung 1975 von Tochter und Schwiegersohn mitgewirkt hatte, Einkünfte aus Gewerbebetrieb, aus nichtselständiger Arbeit, Kapitalvermögen und sonstige Einkünfte, aber - im Gegensatz zu den Vorjahren - keine Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung mehr. Die Anschrift der Eheleute hatte sich nicht geändert. Sie machten dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) keine Angaben über ihre Grundstücksübertragung. In den Einkommensteuerakten des Klägers und seiner Ehefrau findet sich ein Aktenvermerk vom 31. Januar 1977 über folgende Mitteilung des Teilbezirks (Tb) 4, der für die Einkommensteuerveranlagung der Tochter nebst Schwiegersohn zuständig war:

,,Lt. Auskunft von StAssin B. (Tb 4) wurde das Grundstück per 1. 1. 1975 von den Eheleuten auf die Tochter D. (. . . 1340) übergeben. AfA-Bogen wurde Frl. B. für die Akte (. . . 1340) ausgehändigt."

Ergänzend hat das FA hierzu vorgetragen, die Sachbearbeiterin von Tb 4 habe bei dieser Gelegenheit den Sachbearbeiter von Tb 1, der für den Kläger und seine Ehefrau zuständig war, davon unterrichtet, daß diese ihr Zweifamilienhaus im Wege vorweggenommener Erbfolge auf ihre Tochter mit Wirkung vom 1. Januar 1975 übertragen hätten. Eine Veräußerungsmitteilung war dem Tb 1 nicht zugegangen. Die Grunderwerbsteuerstelle hatte eine solche nur der Bewertungsstelle zugeleitet.

Das FA, Tb 1, veranlagte den Kläger und seine Ehefrau erklärungsgemäß zur Einkommensteuer 1975 mit Bescheid vom 14. Oktober 1977. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. Schon zuvor war am 10. November 1976 die Einkommensteuererklärung 1975 der Tochter und des Schwiegersohnes beim Tb 4 des FA eingegangen. Darin wurde der Nutzungswert der Wohnung des Klägers und seiner Ehefrau bei den Einkünften der Tochter und des Schwiegersohnes aus Vermietung und Verpachtung angesetzt mit folgender Erläuterung:

,,Die Eheleute haben durch Vertrag vom 18. 1. 1975 . . . ihr Hausgrundstück . . . ihrer Tochter . . . im Wege der vorweggenommenen Erbfolge überlassen. . . . Die Eheleute haben freie Wohnung und freie Feuerung für ihre Wohnräume."

Das FA rechnete in seiner Veranlagung der Tochter und des Schwiegersohnes zur Einkommensteuer 1975 mit Bescheid vom 17. März 1977 diesen den Nutzungswert beider Wohnungen zu.

Diese legten hiergegen Einspruch mit der Begründung ein, der Nutzungswert der Erdgeschoßwohnung sei dem Kläger und seiner Ehefrau zuzurechnen, weil sie diese Wohnung aufgrund eines dinglichen Wohnrechts nutzten. Zugleich legten sie den Überlassungsvertrag vom 18. Januar 1975 vor. Das FA, Tb 4, erfuhr am 17. Januar 1978 außerdem, daß die Eintragung des Altenteils am 24. April 1975 beim Grundbuchamt beantragt worden war. Es änderte am 21. August 1978 die Einkommensteuerveranlagung von Tochter und Schwiegersohn, indem es ihnen den Nutzungswert der Wohnung des Klägers und seiner Ehefrau nicht mehr zurechnete.

Der Tb 1 des FA erhielt von Tb 4 am 15. Juni 1978 folgende Mitteilung: ,,Die Eheleute haben durch Vertrag vom 18. 1. 1975 mit Wirkung vom 1. 1. 1975 ihrer Tochter . . . das Zweifamilienhaus . . . überlassen. Dem Ehepaar wurde ein dinglich gesichertes Wohnrecht eingeräumt . . .". Daraufhin änderte das FA, Tb 1, am 18. August 1978 seine Einkommensteuerveranlagung 1975 des Klägers und seiner Ehefrau gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977), indem es nunmehr ihnen den Nutzungswert ihrer Wohnung zurechnete.

Mit seiner - nach im wesentlichen erfolglosem Einspruch - erhobenen Klage wendete sich der Kläger gegen die Befugnis des FA zur Änderung des Einkommensteuerbescheids 1975 und gegen die Höhe des angesetzten Nutzungswerts. Das Finanzgericht (FG) gab mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1984, 381 veröffentlichten Urteil der Klage statt und hob den Änderungsbescheid vom 18. August 1978 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung mangels einer Änderungsbefugnis des FA auf.

Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. §§ 85 Satz 1, 88 Abs. 1 AO 1977.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Der Kläger hat zwar einen Antrag gestellt; dieser ist jedoch wegen Nichtbeachtung des Vertretungszwangs (Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs) unbeachtlich.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Für die Entscheidung über die Revision kann die unter den Beteiligten strittige Frage dahinstehen, ob das angefochtene Urteil § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 verletzt. Es war jedenfalls deswegen aufzuheben, weil das FG eine Befugnis des FA zur Änderung seines Einkommensteuerbescheids 1975 vom 14. Oktober 1977 rechtsfehlerhaft nicht aus § 174 Abs. 3 AO 1977 hergeleitet hat.

Ist ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt, daß er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und stellt sich diese Annahme als unrichtig heraus, so kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung des Sachverhalts unterblieben ist, nach § 174 Abs. 3 AO 1977 insoweit nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden.

Einer Anwendung dieser Vorschrift auf den vorliegenden Fall steht nicht entgegen, daß das FA den angefochtenen Änderungsbescheid vom 18. August 1978 auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestützt hat. Ein Austausch des Rechtsgrundes für die Änderung ist zulässig; § 174 Abs. 3 AO 1977 stellt die Änderung nicht in das Ermessen des FA (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 13. November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241; vom 1. August 1984 V R 67/82, BFHE 141, 490, BStBl II 1984, 788).

Es war für den Kläger und seine Ehefrau erkennbar, daß das FA den Nutzungswert ihrer Wohnung bei ihrer Einkommensteuerveranlagung 1975 vom 14. Oktober 1977 in der Annahme nicht berücksichtigte, dieser sei nicht mehr ihnen, sondern ihrer Tochter, auf die sie das Grundstück übertragen haben, zuzurechnen. Eine solche Annahme ist für den Steuerpflichtigen erkennbar, wenn er durch sein eigenes Verhalten das FA veranlaßt hat, einen Sachverhalt nicht bei ihm, sondern bei einem anderen zu erfassen (ebenso Tipke /Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 174 AO 1977 Tz. 11). Dieser Steuerpflichtige würde sich in Widerspruch zu seinem vorausgegangenen Verhalten setzen, wenn er sich gegenüber einer Änderung seiner ursprünglichen Veranlagung auf sein Vertrauen auf deren Bestandskraft berufen würde.

Der Kläger und seine Ehefrau müssen sich bei der Frage der Erkennbarkeit das Handeln ihres Steuerbevollmächtigten zurechnen lassen, der sowohl bei der Anfertigung ihrer Steuererklärung als auch der ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes mitgewirkt hatte (vgl. zur Zurechenbarkeit des Verhaltens eines steuerlichen Beraters bei der Anfertigung der Steuererklärung BFH-Urteil vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Der Steuerbevollmächtigte ließ den Nutzungswert der Wohnung des Klägers und seiner Ehefrau in deren Einkommensteuererklärung 1975 fort und gab ihn statt dessen unter Hinweis auf die Grundstücksübertragung in der Einkommensteuererklärung 1975 von Tochter und Schwiegersohn an. Dadurch veranlaßte er das FA zu der Annahme, dieser Nutzungswert sei nicht mehr dem Kläger und seiner Ehefrau, sondern der Tochter als Grundstücksübernehmerin zuzurechnen. Erst aufgrund des Einspruchs der Tochter erfuhr das FA, daß der Kläger und seine Ehefrau den Nutzungswert ihrer Wohnung weiterhin zu versteuern hatten, weil sie diese aufgrund eines vorbehaltenen dinglichen Wohnrechts bewohnten (§ 21 Abs. 2 Alternative 1 des Einkommensteuergesetzes).

Für eine Änderung der Einkommensteuerveranlagung des Klägers und seiner Ehefrau nach § 174 Abs. 3 AO 1977 bedurfte es nicht ihrer Beteiligung am Einspruchsverfahren der Tochter (vgl. Urteil in BFHE 141, 490, BStBl II 1984, 788).

Die Sache ist nicht spruchreif. Der Nutzungswert der Erdgeschoßwohnung, den der Kläger und seine Ehefrau nach den vorstehenden Ausführungen zu versteuern haben, ist durch Gegenüberstellung des Mietwerts und ihrer Werbungskosten zu ermitteln. Dazu wird das FG die erforderlichen Feststellungen nachzuholen haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 416288

BFH/NV 1989, 687

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