Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Korrektur bei widerstreitenden Steuerfestsetzungen

 

Leitsatz (NV)

1. Der Korrekturtatbestand des § 174 Abs. 1 AO 1977 setzt voraus, daß ein bestimmter Sachverhalt zu Unrecht mehrfach berücksichtigt wurde; mangelnde Korrespondenz in der einkommensteuerrechtlichen Regelung einer Leistungsbeziehung (beim Leistenden einerseits und beim Leistungsempfänger andererseits) fällt nicht darunter.

2. Die Regelung des § 174 Abs. 4/5 AO 1977 hat zur unerläßlichen Voraussetzung, daß es auf Betreiben des Steuerpflichtigen zu einer (für ihn günstigen) Korrektur gekommen ist.

3. Rechtsfortbildung im Regelungsbereich der §§ 172 ff. AO 1977 ist grundsätzlich ausgeschlossen.

4. Die Berufung auf einen erstmals in der Revisionsbegründung angesprochenen Korrekturtatbestand bietet i. d. R., ohne eine entsprechende (erfolgreiche) Verfahrensrüge, keine ausreichende Basis für einen Revisionserfolg.

 

Normenkette

AO 1977 § § 172 ff., § 174 Abs. 1, 4-5; FGO § 96 Abs. 1 S. 1, §§ 118, 121 S. 1, §§ 120, 126 Abs. 3; AO 1977 § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. d

 

Verfahrensgang

FG München

 

Tatbestand

Der Rechtsvorgänger der Kläger und Revisionskläger (Kläger), der 1986 verstorbene W. X., hatte mit Wirkung zum 1. Januar 1979 einen Teil seiner Beteiligung an der Firma X-OHG (OHG) auf seinen Sohn P. X. übertragen. Letzterer hatte sich zugleich verpflichtet, seinem Vater als Gegenleistung für die Übertragung monatlich 5 000 DM zu zahlen. Dieser Betrag war ab 1982 auf 5 500 DM, ab 1983 auf 6 000 DM erhöht worden.

Bei W. X. (und dessen Ehefrau) waren diese Leistungen von Anfang an als sonstige wiederkehrende Bezüge erklärt und gemäß § 22 Nr. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in vollem Umfang besteuert worden. -- Die hierzu für die Streitjahre 1979 bis 1983 ergangenen Bescheide sind bestandskräftig geworden.

In Übereinstimmung mit der Behandlung beim Leistungsempfänger waren die Zahlungen beim Leistenden (P. X.) von dem für diesen zuständigen Finanzamt (FA II) bei der Einkommensteuer in vollem Umfang als Sonderausgaben berücksichtigt, die Bescheide hierüber für die Streitjahre allerdings unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erlassen worden.

Im Anschluß an eine 1985 bei der OHG durchgeführte Außenprüfung stellte sich das FA II auf den Standpunkt, die zwischen W. X. und P. X. vereinbarte Leistungsverpflichtung sei als Leibrente anzusehen, also seien die Zahlungen nur in Höhe des Ertragsanteils abziehbar, und änderte die Einkommensteuerbescheide gegenüber P. X. entsprechend.

Mit Schreiben vom 11. Juli 1986 beantragten W. X. und seine mit ihm zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Ehefrau beim Beklagten und Revisionsbeklagten (FA I) unter Berufung auf § 174 der Abgabenordnung (AO 1977), die Einkommensteuer bescheide für die Streitjahre zu ändern und die Bezüge auch bei ihm nur mit dem Ertragsanteil anzusetzen.

Dieses Begehren hat das FA I (auch in der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung) ebenso abgelehnt wie im anschließenden Klageverfahren das Finanzgericht (FG).

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügen die Kläger Verletzung materiellen Rechts. Sie sind, unter Bezugnahme auf das Urteil des FG Köln vom 19. Mai 1989 11 K 31/86 (veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte 1989, 493) der Meinung, § 174 AO 1977, vor allem dessen Absatz 1, sei im angefochtenen Urteil zu eng ausgelegt bzw. dessen analoge Anwendung sei auf den Streitfall zu Unrecht erlassen worden. Außerdem habe das FG § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht beachtet und weder die Voraussetzungen dieser Vorschrift noch die Frage der Festsetzungsverjährung geprüft. Aus diesem Grunde müsse die Sache, weil insoweit jegliche Tatsachenfeststellungen fehlten, zumindest an das FG zurückverwiesen werden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist -- sowohl mit Hauptantrag als auch mit Hilfsantrag -- unbegründet (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

1. Nach dem im angefochtenen Urteil ausdrücklich festgestellten Sachverhalt (§ 118 Abs. 2 FGO) hat das FG die Klage zu Recht abgewiesen, weil die Voraussetzungen für eine Korrektur der dem Erblasser der Kläger gegenüber für die Streitjahre erlassenen und bestandskräftig gewordenen Einkommensteuerbescheide nicht vorliegen.

a) Das gilt vor allem hinsichtlich des § 174 Abs. 1 Satz 1 AO 1977, der einzigen Änderungsvorschrift, deren unmittelbare Anwendung hier in Betracht kommt.

Nach § 174 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist ein fehlerhafter Steuerbescheid auf Antrag aufzuheben oder zu ändern, wenn ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zu Ungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen.

Keiner der in dieser Regelung vorausgesetzten (positiven oder negativen) Kollisionsfälle (vgl. dazu die Übersicht bei Tipke/Kruse, Kommentar zur AO u. a., 15. Aufl. 1994, § 174 Tz. 1 b und 1 c m. w. N.) ist hier gegeben: Der hier zu beurteilende Sachverhalt (die Leistungsbeziehung zwischen P. X. und dem Rechtsvorgänger der Kläger) ist nicht -- wie § 174 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 dies verlangt -- mehrfach (doppelt) berücksichtigt worden, obwohl er nur einmal hätte erfaßt werden dürfen. Die von den Klägern angegriffene Ungereimtheit liegt vielmehr darin, daß die vom Gesetz vorgesehene zweifache Berücksichtigung (beim Leistenden und beim Leistungsempfänger) letztlich nicht übereinstimmend ausgefallen ist. Dies aber rechtfertigt keine Korrektur nach § 174 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 (s. dazu näher das Urteil des erkennenden Senats -- in dem zur Revisionsbegründung herangezogenen Fall -- vom 26. Januar 1994 X R 57/89, BFHE 174, 1, BStBl II 1994, 597; vgl. auch Tipke/Kruse, a.a.O., Tz. 4 a -- jeweils m. w. N.).

b) Die Anwendung des § 174 Abs. 4 bzw. Abs. 5 AO 1977 scheitert -- wie das FG zu Recht ausgeführt hat -- schon daran, daß die Änderungen beim Leistungsverpflichteten (P. X.) weder auf dessen Betreiben hin noch zu dessen Gunsten vorgenommen wurden.

c) Die fehlende Korrespondenz in der einkommensteuerrechtlichen Regelung der hier zu beurteilenden Leistungsbeziehung erfüllt auch keinen anderen der in den §§ 172 ff. AO 1977 aufgezählten Korrekturtatbestände. Rechtsfortbildung auf diesem Gebiet scheidet schon deshalb aus, weil das abgabenrechtliche Korrektursystem -- wie § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 d AO 1977 belegt -- keinen Raum für die Annahme einer planwidrigen Unvollständigkeit läßt (Bundes finanzhof in BFHE 174, 1, BStBl II 1994, 597 m. w. N.).

2. Auch mit ihrem Hilfsantrag können die Kläger keinen Erfolg haben. Die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO) liegen nicht vor. Die Sache ist entscheidungsreif. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, das nicht mit Verfahrensrügen angegriffene erstinstanzliche Urteil beruhe auf unvollständiger Sachaufklärung. Daß die Voraussetzungen einer Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht geprüft wurden, die nun erstmals in der Revisionsbegründung der Kläger, allerdings auch nur als rein theoretische Möglichkeit, ohne konkrete Darlegungen, zur Sprache kommen, liegt nach Überzeugung des Senats (§ 121 Satz 1, § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) allein daran, daß das FG diese Korrekturvorschrift nicht für entscheidungserheblich hielt -- sei es, weil offensichtlich nicht das nachträgliche Bekanntwerden neuer Tatsachen oder Beweismittel, sondern allein eine geänderte Rechtsauffassung als Basis für eine Korrektur in Betracht kam, sei es, daß der Ablauf der allgemeinen Verjährungsfrist einer solchen Änderung entgegenstand (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Daß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 im Streitfall offenbar von Anfang an als Korrekturvorschrift auszuschließen war, wird vor allem dadurch erhärtet, daß sie bis zum Anschluß der Tatsacheninstanz von keinem der Beteiligten (auch von den rechtskundig vertretenen Klägern nicht) erwähnt worden ist.

Unter diesen Umständen hätte es nur in Verbindung mit einer substantiierten Verfahrensrüge (vgl. dazu näher: Gräber/Ruban, Kommentar zur FGO, 3. Aufl., 1993, § 120 Rz. 37 ff. und die dortigen Nachweise) zu einer näheren Prüfung des Hilfsantrags kommen können.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420986

BFH/NV 1996, 288

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