Leitsatz (amtlich)

Auf Ansprüche des FA auf Rückforderung von Berlin-Zulagen nach dem StErlG 1962, die zu Unrecht gewährt wurden, ist § 144 AO in der vor dem Inkrafttreten des AOÄG 1965 geltenden Fassung anzuwenden. Es handelt sich um „übrige Ansprüche” im Sinne des § 144 AO a. F. Die Einjahresfrist beginnt daher mit der Kenntnis des FA von den die Rückforderung begründenden Tatsachen.

 

Normenkette

AO a.F. § 144; StErlG 1962 § 7

 

Tatbestand

Der Kläger, Revisionskläger und Anschlußrevisionsbeklagte (Kläger) ist Inhaber eines Ingenieurbüros in Berlin (West). Er unterhält im Bundesgebiet in A eine Zweigstelle. Er beschäftigte in den Streitjahren 1962 bis 1967 unter anderen den Dipl.-Ing. B, den Beigeladenen. Ab 1962 leitete der Beigeladene nach der Feststellung des Finanzgerichts (FG) den Filialbetrieb des Klägers in A und war nur noch vorübergehend in Berlin (West) tätig.

Der Kläger sah die Tätigkeit des Beigeladenen in A als eine im Rahmen der Berliner Haupttätigkeit geleistete Nebentätigkeit an und kürzte die an den Beklagten, Revisionbeklagten und Anschlußrevisionskläger (Finanzamt -FA-)abzuführende Lohnsteuer um die dem Beigeladenen ausgezahlten Berlin-Zulagen für 1962 bis 1967, nämlich um insgesamt 2 322,68 DM. Das FA forderte vom Kläger durch Haltungsbescheid vom 4. Juni 1968 für 1962 bis 1967 2 322,68 DM Lohnsteuer mit der Begründung, der Kläger habe seine Verpflichtung zur Einbehaltung, Anmeldung und Abführung der Lohnsteuer nicht ordnungsgemäß erfüllt. Er hafte als Arbeitgeber nach § 46 Abs. 1 LStDV für die zu Unrecht um die Berlin-Zulage gekürzte Lohnsteuer. Dem Beigeladenen seien von dem Kläger 2 322,68 DM Berlin-Zulage zu Unrecht ausgezahlt worden. Da der Beigeladene nicht in Berlin (West) beschäftigt gewesen sei, habe er keinen Anspruch auf Berlin-Zulage gehabt. Der Einspruch war erfolglos.

Die Klage hatte zum Teil Erfolg. Das FG war der Ansicht, der Anspruch auf Rückforderung der Zulage für das Jahr 1962 sei verjährt. Da das Gesetz über Steuererleichterungen und Arbeitnehmer Vergünstigungen in Berlin (West) i. d. F. vom 26. Juli 1962 – StErlG 1962 – (BStBl I 1962, 1007) zum Unterschied vom Berlinhilfegesetz (BHG) keine Vorschriften darüber enthalte, wann der gegen den Arbeitnehmer gerichtete staatliche Anspruch auf Rückforderung zu Unrecht gewährter Zulagen verjähre, sei diese Frage nach den Vorschriften des Zweiten Teiles der AO und des StAnpG zu entscheiden. Die Reichsabgabenordnung enthalte jedoch keine sich auf die Zulagenrückforderungsansprüche beziehenden Vorschriften, so daß über das Klagebegehren nur durch sinngemäße Anwendung der für Steueransprüche getroffenen Verjährungsregeln zu entscheiden sei. Danach sei wesentlich, daß das FA den Rückforderungsanspruch für 1962 erst nach Eintritt der Verjährung geltend gemacht habe. Während das Berlinhilfegesetz 1964 in § 29 Abs. 2 bestimme, daß der Zulagerückforderungsanspruch mit der Auszahlung der Zulage entsteht und in fünf Jahren verjährt, schweige das Steuererleichterungsgesetz 1962 darüber, nach welcher Zeit derartige Ansprüche verjährten. Es enthalte im § 7 Abs. 2 lediglich den Hinweis, daß der Rückforderungsanspruch erst in dem Zeitpunkt entsteht, in dem das FA von den die Rückforderung begründenden Talsachen Kenntnis erlangt. Es sei irrig anzunehmen, Zulagerückforderungsansprüche nach dem Steuererleichterungsgesetz 1962 würden keiner absoluten Verjährungsgrenze unterliegen. Der Sinn und Zweck der Verweisungsvorschrift des § 7 Abs. 1 StErlG 1962 liege auch und gerade darin, daß der Rechtsfriede durch eine absolute Verjährungsgrenze wiederhergestellt werde. Als eine solche absolute Verjährungsgrenze biete sich durch sinngemäße Anwendung des § 144 AO die für Steuern geschaffene Höchstgrenze von fünf Jahren an. Die Überzeugung des FG werde in dieser Richtung noch dadurch bestärkt, daß das Berlinhilfegesetz 1964 in seinem § 29 Abs. 2 eine solche absolute fünfjährige Verjährungsgrenze aufgenommen habe. Das FG gehe also davon aus, daß auch die Zulagenrückforderungsansprüche i. S. des Steuererleichterungsgesetzes 1962 der absoluten fünfjährigen Verjährungsgrenze unterlägen. Da es sich bei derartigen Ansprüchen nicht um Steueransprüche, sondern um sonstige Ansprüche handele, sei auf die sich aus dem Steuererleichterungsgesetz 1962 ergebenden Ansprüche des FA der § 144 Abs. 1 Satz 2 AO sinngemäß anzuwenden, das hieße, diese Ansprüche unterlägen nicht nur der absoluten fünfjährigen Verjährungsgrenze, sondern sie verjährten gemäß § 7 Abs. 2 StErlG 1962 unter Umständen auch schon viel früher, nämlich schon nach einem Jahr nach Kenntnis des FA von den die Rückforderung begründenden Tatsachen.

Gegen das FG-Urteil hat der Kläger Revision und das FA Anschlußrevision eingelegt.

Das FA beantragt mit der Anschlußrevision, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Unstreitig habe das FA erst im Jahre 1968 Kenntnis von dem Rückforderungsanspruch hinsichtlich der Berlin-Zulage 1962 erhalten. Erst 1968 sei somit nach § 7 Abs. 2 letzter Satz StErlG 1962 der Anspruch entstanden. Es könne dahingestellt bleiben, wann dieser Anspruch verjähre, auf keinen Fall – wie das FG annehme – schon vor seiner Entstehung. Wollte man letzteres annehmen, so würde man dem klaren Wortlaut des § 7 Abs. 2 StErlG 1962 völlig seinen Inhalt nehmen. Das FG verstoße gegen den – entsprechend anwendbaren – § 145 AO, wenn es eine Verjährung schon vor Anspruchsentstehung annehme. Ein solches sei begrifflich ausgeschlossen (Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 145 AO Anm. 7). Daß eine Zulage unter Umständen noch nach sehr langer Zeit zurückgefordert werden könne, sei als unbefriedigend empfunden worden. Deshalb habe man durch das Gesetz zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 15. September 1965 – AOÄG 1965 – (BGBl I 1965, 1356, BStBl I 1965, 643) die Rückforderungsbefugnis zeitlich begrenzt (vgl. § 145 Abs. 2 Nr. 5 AO n. F.). Das zeige, daß eine gesetzliche Regelung notwendig gewesen sei; die Rechtsprechung habe das Problem nicht befriedigend und überzeugend lösen können. Das gleiche sei durch § 29 Abs. 2 Sätze 6 und 7 BHG 1964 geschehen. Aus der dortigen Fünfjahresfrist schließe das FG aber zu Unrecht auf eine absolute fünfjährige Verjährungsfrist für die dem Steuererleichterungsgesetz 1962 unterfallenden Rückzahlungsansprüche.

 

Entscheidungsgründe

Gegen die Rückforderung bestehen keine rechtlichen Bedenken. Der Kläger hat gegen den Rückforderungsanspruch im Revisionsverfahren auch keine sachlichen Einwendungen erhoben.

Die Anschlußrevision des FA ist begründet. Das FG hat zu Unrecht angenommen, der Anspruch auf Rückforderung der Zulage für 1962 sei bei Erlaß des Haftungsbescheides vom 4. Juni 1968 verjährt gewesen.

Nach § 7 Abs. 1 StErlG 1962 sind die Vorschriften der Reichsabgabenordnung entsprechend anzuwenden. Das hat u. a. zur Folge, daß die Grundsätze der Rechtsprechung des BFH zur Verjährung von Ansprüchen auf Rückforderung von Umsatzsteuervergütungen (Urteil vom 1. Juli 1954 V 27/54 U, BFHE 59, 118, BStBl III 1954, 254) und von Wohnungsbau-Prämien (Urteil vom 31. Januar 1964 VI 1/62 U, BFHE 79, 71, BStBl III 1964, 258) auf die Ansprüche auf Rückforderung von Zulagen nach dem Steuererleichterungsgesetz 1962 anzuwenden sind. Bei diesen Ansprüchen handelt es sich um „übrige Ansprüche” i. S. des § 144 Satz 2 AO in der vor dem Inkrafttreten des AO-Änderungsgesetzes 1965 geltenden Fassung.

An dieser Rechtslage hat auch das AO-Änderungsgesetz 1965 nichts geändert. Die geänderten Vorschriften der §§ 144, 145 AO sind erstmals auf Abgabenansprüche anzuwenden, die mit Ablauf des Kalenderjahres 1965 oder später entstehen (Art. 5 Abs. 1 AOÄG 1965). Das vorhergehende Recht enthielt keine dem neuen § 144 Abs. 2 AO entsprechende Vorschrift, wonach Ansprüche auf Rückzahlung von Erstattungen und Vergütungen einem Abgabenanspruch gleichstehen. Für diese Ansprüche fehlt es daher an einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung über die Anwendung alten oder neuen Rechts. Der Senat hat für Wohnungsbau-Prämien im Urteil vom 29. November 1973 VI R 79/73 (BFHE 111, 204, BStBl II 1974, 128) daraus den Schluß gezogen, daß es hierfür auf die Entstehung des Hauptanspruchs ankommt. Dies gilt für die Rückforderung von Berlin-Zulagen entsprechend. Das bedeutet, daß für Ansprüche auf Berlin-Zulagen nach dem Steuererleichterungsgesetz 1962 allgemein die §§ 144, 145 AO in der vor Inkrafttreten des AO-Änderungsgesetzes 1965 geltenden Fassung maßgebend sind, da dieses Gesetz nur bis einschließlich 1963 gegolten hat und die Ansprüche nach diesem Gesetz daher sämtlich vor Ablauf des Kalenderjahres 1965 entstanden sind. Sie sind also wie bisher für die Verjährung als „übrige Ansprüche” i. S. des § 144 AO a. F. anzusehen, die in einem Jahr verjähren.

Abweichend von den in den bezeichneten Urteilen behandelten Rückforderungsansprüchen ist für die Entstehung des Rückforderungsanspruchs auf zu Unrecht gewährte Berlin-Zulagen im Steuererleichterungsgesetz 1962 eine ausdrückliche Regelung vorhanden; der Zeitpunkt des Entstehens des Anspruchs braucht also nicht, wie in den Urteilen V 27/54 U und VI 1/62 U, erst im Wege der Auslegung ermittelt zu werden. Der Anspruch entsteht nach § 7 Abs. 2 StErlG 1962 in dem Zeitpunkt, in dem das FA von den Tatsachen Kenntnis erlangt, die die Rückforderung begründen. Der Anspruch verjährt nach § 144 Satz 2 AO a. F. in einem Jahr seit diesem Zeitpunkt.

Im Streitfall hat das FA von dem Rückforderungsanspruch durch die Lohnsteueraußenprüfung vom 28. Mai 1968 erfahren. Im Zeitpunkt der Zustellung des Haftungsbescheides vom 4. Juni 1968, dem 10. Juni 1968, war der Rückforderungsanspruch somit noch nicht verjährt.

Der Ansicht des FG, für den Rückforderungsanspruch bestehe neben der einjährigen Verjährungsfrist ab Kenntnis von dem Rückforderungsanspruch in jedem Falle eine feste Verjährungsfrist von fünf Jahren, kann sich der Senat nicht anschließen; denn sie findet in den gesetzlichen Vorschriften keine Stütze. Wie das FA zutreffend ausführt, würde diese Ansicht unter Umständen dahin führen, daß der Rückforderungsanspruch bereits vor der in § 7 Abs. 2 StErlG 1962 ausdrücklich geregelten Entstehung des Anspruchs verjähren würde. Es ist aber Tipke-Kruse (a. a. O., § 145 AO Anm. 7) darin beizupflichten, daß der Rückforderungsanspruch begrifflich nur verjähren kann, wenn er zuvor entstanden ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 514857

BFHE 1975, 82

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