Leitsatz (amtlich)

Der erhöhte Freibetrag wegen dauernder Berufsunfähigkeit ist zu gewähren, wenn der Unternehmer durch Invalidität veranlaßt wird, seinen Betrieb zu veräußern oder aufzugeben. Die Berufsunfähigkeit bestimmt sich unabhängig vom Sozialversicherungsrecht danach, daß der Unternehmer infolge der Invalidität nicht mehr fähig ist, seinen Betrieb so wie bisher fortzuführen.

 

Normenkette

EStG § 16 Abs. 4 S. 3

 

Verfahrensgang

FG Münster

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) seinen Gewerbebetrieb wegen dauernder Berufsunfähigkeit veräußert hat und vom Veräußerungsgewinn den erhöhten Freibetrag nach § 16 Abs. 4 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) absetzen kann.

Der 1941 geborene Kläger erlernte den Beruf des Gärtners und Floristen. Er war seit dem 1. Januar 1961 bis zum 30. April 1972 als selbständiger Gerüstbauer tätig. Diese Tätigkeit übte er bis zum 31. Dezember 1971 zusammen mit seinem Bruder in einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) aus und von da ab nach Abfindung des Bruders als Einzelunternehmer. In dem Gerüstbaubetrieb waren durchschnittlich vier Arbeitnehmer beschäftigt. Der Kläger arbeitete selbst mit. Er erkrankte am rechten Fuß und am rechten Schultergelenk. Zum 30. April 1972 veräußerte er den Gerüstbaubetrieb und erzielte dabei einen Veräußerungsgewinn von 78 590 DM. Im September 1972 eröffnete er einen Blumeneinzelhandel.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) unterwarf in dem Steuerbescheid für 1972 den Veräußerungsgewinn, abzüglich des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG von 30 000 DM, dem vollen Steuersatz. Der Einspruch hatte teilweise Erfolg; das FA gewährte in der Einspruchsentscheidung den ermäßigten Steuersatz nach § 34 Abs. 2 EStG.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage in vollem Umfang statt. Es legte dar: Der Kläger könne den erhöhten Freibetrag von 60 000 DM nach § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG beanspruchen. Der Begriff der "dauernden Berufsunfähigkeit" bestimme sich nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Dabei sei aber "die Einschränkung zu machen, daß nur eine dauernde Berufsunfähigkeit hinsichtlich der vom Steuerpflichtigen in seinem Betrieb bisher ausgeübten Funktion vorzuliegen brauche". Dies ergebe sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Der Gesetzgeber habe den erhöhten Freibetrag auch dann gewähren wollen, wenn noch eine gewisse Erwerbsfähigkeit für einen anderen Beruf vorhanden sei. Es stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, daß der Kläger im Zeitpunkt der Betriebsveräußerung die Tätigkeit eines Gerüstbauers infolge seiner Erkrankung am rechten Fuß und am rechten Schultergelenk nicht mehr habe ausüben können. Das Gericht stütze sich dabei auf ein im gerichtlichen Verfahren eingeholtes Gutachten und auf die Bescheinigung von drei Fachärzten; der entgegenstehenden amtsärztlichen Bescheinigung vom 28. Juli 1976 werde nicht gefolgt. Zumindest die Erkrankung im Schultergelenk sei ursächlich für die Betriebsveräußerung gewesen.

Das FA rügt mit der Revision die Verletzung materiellen Rechts: Bei der Auslegung des Begriffs der dauernden Berufsunfähigkeit sei ohne jede Einschränkung auf die im Bereich der Sozialversicherung entwickelten Grundsätze abzustellen. Danach sei der Kläger nicht dauernd berufsunfähig gewesen. Er übe in dem im September 1972 eröffneten Blumeneinzelhandel seinen erlernten Beruf als Gärtner und Florist aus. Eine gewisse Erwerbsfähigkeit für einen anderen Beruf möge im allgemeinen unschädlich sein. Das könne jedoch nicht für den hier vorliegenden Fall gelten, daß der Steuerpflichtige in seinem erlernten Beruf seine volle Erwerbsfähigkeit behalten habe. Der Härte, die in der Aufdeckung der stillen Reserven liege, könne durch deren Übertragung nach § 6 b EStG begegnet werden.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Nach § 16 Abs. 4 Sätze 1 und 2 EStG in der ab 1971 geltenden Fassung wird der Gewinn aus der Veräußerung des ganzen Gewerbebetriebs zur Einkommensteuer nur herangezogen, soweit er 30 000 DM übersteigt; der Freibetrag wird in voller Höhe gewährt, sofern der Veräußerungsgewinn 100 000 DM nicht übersteigt. Nach Satz 3 dieser Vorschrift tritt an die Stelle des Betrags von 30 000 DM der Betrag von 60 000 DM und an die Stelle des Betrags von 100 000 DM ein Betrag von 200 000 DM, wenn der Steuerpflichtige nach Vollendung seines 55. Lebensjahres oder wegen dauernder Berufsunfähigkeit seinen Gewerbebetrieb veräußert oder aufgibt.

Der Begriff der Berufsunfähigkeit findet sich auch in § 1246 Abs. 2 RVO als Voraussetzung für die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente. Es wird angenommen, § 1246 Abs. 2 RVO sei auch für die Auslegung des § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG maßgeblich (Herrmann/Heuer, Kommentar zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, 18. Aufl., § 16 EStG Anm. 455; Urteil des FG Baden-Württemberg vom 15. Dezember 1977 III 169/76, Entscheidungen der Finanzgerichte 1978 S. 323 - EFG 1978, 323 -; Abschn. 139 Abs. 13 der Einkommensteuer-Richtlinien - EStR - 1978). Andererseits wird eine eigenständige Auslegung des Begriffs der dauernden Berufsunfähigkeit in § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG befürwortet (Seithel, Finanz-Rundschau 1975 S. 574 - FR 1975, 574 -; Littmann, Das Einkommensteuerrecht, 12. Aufl., § 16 Anm. 103). Der Senat hat in seinem Urteil vom 19. Mai 1981 VIII R 143/78 (BFHE 133, 396, BStBl II 1981, 665) offengelassen, welcher Auffassung zu folgen ist. Er ist nunmehr der Auffassung, daß § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG eigenständig auszulegen ist.

Berufsunfähig ist nach § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderer Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Nach Satz 2 dieser Vorschrift umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (sog. Verweisungstätigkeiten). Eine Berufsunfähigkeit i. S. dieser Vorschrift ist mithin zu verneinen, wenn der Versicherte für seinen bisherigen Beruf zwar berufsunfähig, aber dennoch in der Lage ist, einen anderen Beruf auszuüben. Die Berufsunfähigkeitsrente als vorgezogenes Altersruhegeld (§ 1248 Abs. 1 RVO) soll danach zu Lasten der Versichertengemeinschaft nur gewährt werden, wenn die allgemeine Erwerbsfähigkeit in erheblichem Maße gemindert ist und auch andere zumutbare Tätigkeiten nicht mehr ausgeübt werden können.

§ 16 Abs. 4 Satz 3 EStG hat demgegenüber eine andere Zielsetzung. Es soll eine durch dauernde Berufsunfähigkeit veranlaßte Betriebsveräußerung oder -aufgabe begünstigt werden. Die aufgedeckten stillen Reserven rühren nicht nur aus dem Arbeitseinsatz des Unternehmers her, sondern regelmäßig auch aus einem Kapitaleinsatz. Diesem Gesichtspunkt wird selbst bei der Auslegung des § 1246 RVO Rechnung getragen. Soweit - z. B. im Rahmen der Handwerkerversicherung - die Berufsunfähigkeitsrente auch Unternehmern gewährt wird, erkennt die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Eigenart der selbständigen Berufsausübung an, bei der "Kapital und Arbeit eine organische Einheit bilden"; aus der einem selbständigen Handwerker mit Einmannbetrieb oder mittlerem Betrieb verbliebenen Fähigkeit, den Betrieb zu leiten, ohne zugleich die wesentlichen körperlichen Arbeiten verrichten zu können, sei noch nicht die Berufsfähigkeit herzuleiten, ebensowenig aus der Möglichkeit, einen Gehilfen hinzuzuziehen (Urteile vom 30. November 1955 1 RA 42/54, BSGE 2, 91; vom 28. Januar 1977 5 RJ 10/76, BSGE 43, 168).

Wegen dieser unterschiedlichen Zielsetzung ist § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG grundsätzlich unabhängig von § 1246 Abs. 2 RVO auszulegen. Maßgeblich ist nach dem Gesetzeswortlaut, Zweck und der Systematik der Vorschrift, daß die Aufgabe oder Veräußerung des Betriebs durch die dauernde Berufsunfähigkeit veranlaßt wurde. Die berufliche Stellung des Unternehmers, wie er sie mit Hilfe der eingesetzten sächlichen Mittel und des persönlichen Arbeitseinsatzes in dem konkreten Betrieb gestaltet hat, darf infolge eines nachträglichen Ereignisses so wie bisher überhaupt nicht oder nur unter grundlegender Umstellung der bisherigen Tätigkeitsmerkmale weitergeführt werden können. Ein solches Ereignis wird vor allem der Eintritt einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung sein, also ein Invaliditätsgrund (Bundestags-Drucksache VI/1901 S. 9), der den Unternehmer zu einer Einstellung oder grundlegenden Umstellung seines bisherigen Arbeitseinsatzes zwingt. Der Unternehmer kann im Invaliditätsfall nicht auf andere Tätigkeiten verwiesen werden (keine entsprechende Anwendung des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO).

Der Senat sieht sich in seiner Auffassung durch die Entstehungsgeschichte des § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG bestätigt. Der Entwurf der Bundesregierung sah zunächst die Verdoppelung des Freibetrags lediglich bei einer Veräußerung oder Aufgabe des Betriebs wegen "dauernder völliger Erwerbsunfähigkeit" vor (Bundestags-Drucksache VI/1901 S. 3, 12). Der Bundesrat sprach sich für die späterhin Gesetz gewordene Fassung aus, um auch die Fälle zu begünstigen, in denen "eine gewisse Erwerbsfähigkeit in einem anderen Beruf erhalten geblieben ist" (Bundestags-Drucksache VI/1901 S. 16). Aus dieser Äußerung läßt sich entnehmen, daß auch der Gesetzgeber den Unternehmer nicht auf andere Tätigkeiten oder eine grundlegende Umstellung seiner bisherigen Tätigkeit verweisen wollte.

Das FG hat danach dem Kläger den Freibetrag von 60 000 DM zu Recht gewährt. Der Kläger arbeitete in dem veräußerten Gerüstbaubetrieb aktiv mit. Er konnte wegen seiner Erkrankungen die Gerüstbauertätigkeit nicht mehr ausüben. Zumindest die Erkrankung des Schultergelenks war Anlaß für die Betriebsveräußerung. Unerheblich ist, daß der Kläger die Fähigkeit behalten hatte, seinen erlernten Beruf des Gärtners und Floristen auszuüben und diese Fähigkeit und den Veräußerungserlös einige Zeit später einsetzte, um einen Blumeneinzelhandel zu eröffnen. Ein Unternehmer kann entgegen der Auffassung des FA selbst nicht auf seinen erlernten Beruf verwiesen werden, zumal wenn er, wie der Kläger, mehr als ein Jahrzehnt einen anderen Beruf ausgeübt hat. Es kann dahingestellt bleiben, ob und inwieweit der Kläger die stillen Reserven des Gerüstbaubetriebs gemäß § 6 b EStG auf den Blumeneinzelhandel hätte übertragen können. § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG will dem Steuerpflichtigen im Hinblick auf seine dauernde Berufsunfähigkeit eine Begünstigung gewähren, die nicht nur wie § 6 b EStG eine vorläufige, sondern eine endgültige Freistellung von der Steuerlast auf stille Reserven zugesteht.

Das FG hat seine Feststellung der dauernden Berufsunfähigkeit des Klägers auf privatärztliche Gutachten und Bescheinigungen gestützt und eine entgegenstehende amtsärzliche Bescheinigung vom 28. Juli 1976 negiert. Hierzu war das FG im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung befugt. Der Senat folgt nicht der Auffassung, daß die dauernde Berufsunfähigkeit entsprechend § 65 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung - EStDV - (Körperbehinderten-Pauschbeträge) nachzuweisen ist (Söffing, die Information über Steuer und Wirtschaft, Ausgabe A, 1971 S. 413; Seithel, a. a. O., S. 575; Herrmann/Heuer, a. a. O.; Abschn. 139 Abs. 13 Satz 5 EStR 1978: Nachweis durch amtliche Unterlagen). Zwar muß der Steuerpflichtige die Voraussetzungen des ihn begünstigenden § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG darlegen und ggf. nachweisen. Der Nachweis braucht jedoch nicht in jedem Fall mit amtlichen Unterlagen geführt zu werden. Erhöhte Nachweispflichten müssen durch Gesetz oder durch eine gesetzlich ermächtigte Rechtsverordnung angeordnet werden. Eine entsprechende Anwendung des § 65 EStDV kommt nicht in Betracht. Die dauernde Berufsunfähigkeit beurteilt sich weitgehend nach anderen Grundsätzen als eine Erwerbsminderung, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Körperbehinderten-Pauschbeträge ist. Durch diese Ansicht wird nicht ausgeschlossen, daß ein Gericht in anderen Fällen nach § 96 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu dem Ergebnis gelangt, daß der Nachweis durch privatärztliche Gutachten nicht erbracht worden ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 74212

BStBl II 1982, 293

BFHE 1981, 548

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