Entscheidungsstichwort (Thema)

Billigkeitserlaß; Sachaufklärung; Mitwirkungspflichten

 

Leitsatz (NV)

1. Eine ermessensfehlerfreie Billigkeitsentscheidung setzt u. a. voraus, daß zumindest der letzten Verwaltungsentscheidung ein vollständig (zeitnah) ermittelter Sachverhalt zu Grunde liegt.

2. Bei der Prüfung eines aus sachlichen Billigkeitsgründen erstrebten Erlasses von Säumniszuschlägen kommt es nicht auf Zahlungsunfähigkeit im konkursrechtlichen Sinne an. Es kann genügen, daß der Steuerschuldner bei Fälligkeit der in Frage stehenden Abgaben zeitweilig außerstande war, seiner Zahlungspflicht pünktlich nachzukommen.

3. Ein (teilweiser) Billigkeitserlaß aus sachlichen Gründen kann auch in Betracht kommen, wenn die Leistungsfähigkeit des Steuerschuldners während der Säumnis so sehr eingeschränkt war, daß die Vollstreckung gem. § 258 AO 1977 einstweilen hätte eingestellt oder beschränkt werden müssen; in diesem Zusammenhang kann auch von Bedeutung sein, inwieweit das Finanzamt beim Steuerschuldner den Eindruck erweckte, es sei mit dem von ihm angebotenen und geleisteten Ratenzahlungen einverstanden.

 

Normenkette

AO 1977 § 3 Abs. 3, § 37 Abs. 1, §§ 88, 227, 240, 258; FGO §§ 101-102

 

Gründe

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, gab mit Schreiben vom 30. September 1977 ihre Lohnsteueranmeldungen und Umsatzsteueranmeldungen für Juni bis August 1977 über einen Gesamtbetrag von 508290,85 DM ab und bat gleichzeitig, diese Rückstände vom Fälligkeitstag an in der Weise zu stunden, daß neben den laufenden Steuern sofort eine Rate über 58290,85 DM und neun weitere Monatsraten über jeweils 50000 DM zu zahlen seien. An diesen Ratenzahlungsvorschlag hat sich die Klägerin im wesentlichen gehalten und zum 1. August 1978 die letzte Rate gezahlt.

Zur Begründung ihres im Original an das Finanzministerium ... (FinMin), in Kopie an den Beklagten und Revisionsbeklagten (FA); Eingang dort: 4. Oktober 1977, gerichteten Stundungsbegehrens trug die Klägerin vor allem vor, sie habe in den letzten drei Jahren Verluste von über 1,5 Mio DM erlitten, so daß ein erheblicher Teil der Reserven des Unternehmens aufgezehrt worden sei. Diese Entwicklung habe ihre Ursache zum einen in der besonderen Wettbewerbssituation, zum anderen in den vor allem bei öffentlichen Auftraggebern schleppenden Abrechnungs- und Zahlungsmodalitäten. Die Steuerrückstände seien dadurch entstanden, daß sie, die Klägerin, trotz der schlechten Ertragslage keine Massenentlassungen vorgenommen und die Löhne mit Hilfe vollständiger Ausschöpfung des Kreditrahmens bisher immer noch gezahlt habe. Seit Juni des laufenden Jahres jedoch zeichne sich eine günstigere Entwicklung am Markt ab. Die Auftragslage habe sich wesentlich gebessert. Infolgedessen könne nunmehr auch von einem günstigeren Betriebsergebnis ausgegangen werden, das die vorgeschlagene Ratenzahlung ermögliche.

Die Klägerin bat außerdem darum, im Interesse des Erfolgs der Gesamtmaßnahmen auf eine Verzinsung der Rückstände nach § 234 Abs. 2 AO 1977 zu verzichten und schließlich um entsprechende Nachricht, falls zur Beurteilung des gesamten Sachverhalts noch weitere Erläuterungen notwendig seien.

Mit Verfügung vom 24. Oktober 1977 (abgefaßt am 11. Oktober 1977) lehnte das FA die begehrte Stundung ohne weitere Ermittlungen zum Sachverhalt mit der Begründung ab, Umsatzsteuer und Lohnsteuer könnten grundsätzlich nicht gestundet werden, Lohnerhöhungen gehörten zum Risiko eines jeden Unternehmers, Steuerforderungen seien keine Ansprüche minderen Rechts. Der Staat sei zur Erfüllung seiner Aufgaben auf den rechtzeitigen Eingang seiner Steuerforderungen angewiesen. Die Unternehmensgröße sei von der Klägerin frei gewählt. Eine Expansion mit sämtlichen Vor- und Nachteilen sei Sache des Unternehmens. Außerdem sei die Auftragslage nach den eigenen Angaben der Klägerin zur Zeit günstig. Schließlich könne von einer Billigkeitsmaßnahme nur gegenüber solchen Steuerpflichtigen Gebrauch gemacht werden, die ihre steuerlichen Verpflichtungen ordnungsgemäß erfüllten. Die Klägerin aber habe seit Mitte 1975 fast sämtliche Umsatzsteuervoranmeldungen verspätet abgegeben, so daß erhebliche Verspätungszuschläge hätten festgesetzt werden müssen. Auch die Lohnsteuern seien zum Teil verspätet gezahlt worden. Allein die Abgabe der längst fälligen Voranmeldungen für Juni und Juli 1977 an Lohn- und Umsatzsteuern habe der Klägerin eine mehrmonatige ungerechtfertigte ,,indirekte Stundung" verschafft. Dadurch habe die Klägerin tatsächlich schon Zahlungsaufschub erhalten. Schon allein deshalb könne die Fälligkeit nicht weiter hinausgeschoben werden. Unabhängig davon sei die Vermögenslage nicht vollständig dargelegt worden: Die Klägerin habe nur kurz zu ihren Verbindlichkeiten Stellung genommen, die Aktiva aber unberücksichtigt gelassen und nicht anhand einer vollständigen Vermögensübersicht nachgewiesen, daß die Verwertung einzelner Vermogensteile zum Zwecke der sofortigen Tilgung der Steuerschulden unmöglich oder unzumutbar sei. Zur Vermeidung von Vollstreckungsmaßnahmen werde die Klägerin gebeten, ihre rückständigen Beträge umgehend zu entrichten.

Die hiergegen eingelegte Beschwerde, in der die Klägerin u. a. auch rügte, daß sie zu weiteren Erläuterungen ihrer wirtschaftlichen Situation nicht aufgefordert worden sei, hatte keinen Erfolg: Zwar ließ sich das FA Auftragsabwicklung und Zahlungseingang im Unternehmen der Klägerin noch näher erläutern, half aber (nach weiteren telefonischen Erläuterungen vom 9. Dezember 1977 und verschiedenen Rückstandsauskünften im März/Mai 1978) der Beschwerde nicht ab. - Die OFD wies den Rechtsbehelf durch Entscheidung vom 8. Juni 1978 ohne weitere Sachverhaltsaufklärung zurück. Sie teilte im wesentlichen die Auffassung des FA.

Daraufhin beantragte die Klägerin Erlaß der für das Jahr 1977 festgesetzten Säumniszuschläge aus sachlichen Billigkeitsgründen, indem sie darauf hinwies, daß sie im Fälligkeitszeitpunkt überschuldet und zumindest vorübergehend zahlungsunfähig gewesen sei. Kein noch so hohes Druckmittel hätte zu dieser Zeit zu einer pünktlichen Tilgung der Steuerschulden führen können. Hätte das FA auf fristgerechter Zahlung bestanden, so hätte das nicht nur vorübergehende Illiquidität, sondern den Konkurs bedeutet.

Den am 29. August 1978 begründeten Erlaßantrag lehnte das FA am 23. Oktober 1978 ohne weitere Sachaufklärung ab, weil ,,zweifelsfreie Überschuldung mit gleichzeitiger Zahlungsunfähigkeit" nicht gegeben sei: Weder aus den Steuerakten noch aus bisherigem Vorbringen gehe hervor, daß die Klägerin jemals zahlungsunfähig gewesen sei. Davon nämlich könne nur gesprochen werden, wenn der Schuldner die Zahlungen eingestellt habe oder aus Mangel an Zahlungsmitteln voraussichtlich nicht in der Lage sei, seine fälligen Geldschulden ganz oder teilweise zu erfüllen.

Auch die hiergegen eingelegte Beschwerde wies die OFD ohne weitere Ermittlungen am 12. September 1979 mit der Begründung zurück, es sei nicht erwiesen, daß die Klägerin im fraglichen Zeitraum 1977/1978 zweifelsfrei überschuldet gewesen sei. Hierfür sei nichts vorgetragen worden. Auch gebe es keine Anhaltspunkte dafür, daß die Klägerin außerdem zahlungsunfähig gewesen sei. Davon könne nur gesprochen werden, wenn der Schuldner seine Zahlungen im wesentlichen eingestellt habe. Es genüge nicht, daß er vorübergehend nicht über genügend flüssige Mittel verfüge, um seine Gläubiger voll zu befriedigen. Die Umsatz- und Lohnsteuerrückstände 6 bis 8/77 seien durch ,,größten Teils regelmäßige Ratenzahlungen zwischen Oktober 1977 bis August 1978" getilgt worden. Außerdem seien laut den Gewinn- und Verlustrechnungen 1977 und 1978 die laufenden Betriebsausgaben getragen worden. Eine absolute Zahlungsunfähigkeit habe also nicht vorgelegen. Auch aus persönlichen Billigkeitsgründen komme ein Erlaß der Säumniszuschläge nicht in Betracht.

Die hiergegen erhobene Klage führte zur Aufhebung der ablehnenden Ermessensentscheidungen und zur Verpflichtung des FA, das Erlaßbegehren unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG erneut zu bescheiden (§ 101 Satz 2 FGO).

Das FG stellte sich in seiner Entscheidung vom 19. Oktober 1983 auf den Standpunkt, den Entscheidungen der Finanzverwaltung sei zwar darin beizupflichten, daß die Klägerin nicht zahlungsunfähig gewesen sei. Ein Ermessensmangel liege aber darin, daß FA und OFD das Schreiben des BMF vom 15. Februar 1971 (BStBl I 1971, 121) nicht berücksichtigt hätten, wonach im allgemeinen eine Frist zur Entrichtung rückständiger Steuern zu bewilligen sei. Bei der erneuten Entscheidung werde auch der Behauptung der Klägerin nachzugehen sein, das FA habe den Eindruck erweckt, es werde die Stundung gewähren.

Im nachfolgenden Verwaltungsverfahren stellte sich das FA weisungsgemäß (Schreiben der OFD vom 8. November 1983) auf den Standpunkt, im Streitfall sei eine zusätzliche Zahlungsfrist nicht angebracht gewesen, und lehnte mit Verfügungen vom 9. Mai und 20. Juli 1984 das Erlaßbegehren der Klägerin ohne weitere Sachprüfung abermals ab.

Im anschließenden Beschwerdeverfahren unternahm auch die OFD keine weiteren Ermittlungsversuche, obgleich die Klägerin in ihrem weiteren Vorbringen (im Schreiben vom 9. August 1984) u. a. auch auf das Urteil des BFH vom 8. März 1984 I R 44/80 (BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415) verwiesen hatte, wonach Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen auch im hier vorliegenden Fall nur vorübergehender Zahlungsunfähigkeit in Betracht komme, und in tatsächlicher Hinsicht (Schreiben vom 23. Juli 1984) noch vorgetragen hatte, daß die Lage 1977/1978 so prekär gewesen sei, daß Gesellschafter und leitende Angestellte in dieser Zeit auf Forderungen in Höhe von insgesamt rund 1,3 Mio DM verzichtet hätten. In ihrer ablehnenden Beschwerdeentscheidung vom 4. Dezember 1984 stellte die OFD fest, ein Nachweis oder auch nur Vortrag, aus dem sich die von der Rechtsprechung ebenfalls geforderte Überschuldung der Klägerin während des Säumniszeitraumes ergebe, sei unterblieben. Auch ergebe sich aus den Akten, daß Zahlungsunfähigkeit der Klägerin im Sinne der BFH-Rechtsprechung zu keinem Zeitpunkt vorgelegen habe. Was schließlich das Schreiben des BMF in BStBl I 1971, 121 angehe, so liege hier ein vom Regelfall abweichender Sonderfall vor, der dazu berechtigt habe, von einer besonderen Fristsetzung abzusehen: Die Klägerin habe schon seit Mitte 1975 ihre Lohn- und Umsatzsteuerzahlungen nicht pünktlich geleistet und den Stundungsantrag erst neun Tage vor Fälligkeit der Lohn- und Umsatzsteuerzahlungen 6 bis 8/77 eingereicht. Hierdurch habe sie sich tatsächlich schon stundungsähnliche Zahlungsvorteile verschafft. Auch könne keine Rede davon sein, daß das FA zu irgendeinem Zeitpunkt den Eindruck erweckt habe, es werde dem Stundungsantrag vom 30. September 1977 entsprechen. Der fachkundig beratenen Klägerin hätte bekannt sein müssen, daß das FA für eine antragsgemäße Entscheidung über die Stundung gar nicht zuständig gewesen sei. Aber selbst für den Fall, daß das FA gleichwohl zur Abhilfe bereit gewesen wäre, sei eine Vertrauensposition bei der Klägerin nicht begründet worden, weil es keine entsprechenden Äußerungen von entscheidungsbefugten Beamten des FA hierzu gegeben habe.

Die daraufhin erhobene Klage ist vom FG mit Urteil vom 22. Februar 1989 zurückgewiesen worden. Sachliche Billigkeitsgründe seien nicht gegeben. Das FA habe tatsächlich keinen Vollstreckungsaufschub für die Lohn- und Umsatzsteuer 6 bis 8/77 gewährt. Auch hätten FA und OFD ermessensfehlerfrei einen vom Regelfall im Sinne des BMF-Schreibens vom 15. Februar 1971 abweichenden Sonderfall deshalb annehmen dürfen, weil die Klägerin ,,seit Jahren Steuererklärungen verspätet abgegeben" habe. Dabei falle auch ins Gewicht, daß die Klägerin den Stundungsantrag erst neun Tage vor Fälligkeit gestellt habe. Die Behauptung der Klägerin, die Finanzbehörden hätten die Entscheidung über den Stundungsantrag bewußt hinausgezögert, weil ihnen bekannt gewesen sei, daß eine sofortige Ablehnung zum Konkurs geführt hätte, sei erstmals im Klageverfahren vorgetragen worden und könne daher nicht mehr berücksichtigt werden. Nicht zu beanstanden sei, daß sich die Finanzbehörden auf den Standpunkt gestellt hätten, sie hätten der Klägerin gegenüber nicht den Eindruck erweckt, dem Stundungsantrag werde entsprochen werden. Eingehende Ermittlungen über einen Stundungsantrag begründeten noch ,,keinen Anspruch auf eine günstige Entscheidung". Im übrigen teile es (Urteilsbegründung Seite 6 f.) die Auffassung der Finanzbehörden, daß die Klägerin zu den Zeitpunkten der Fälligkeit der Steuern nicht zahlungsunfähig und überschuldet gewesen sei. Solche Anhaltspunkte hätten nicht vorgelegen, wie sich auch aus dem Verhalten der ... Bank ergebe.

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung materiellen Rechts.

I. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und der das Erlaßbegehren der Klägerin ablehnenden Verwaltungsentscheidungen sowie zur Verpflichtung des FA, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden (§§ 126 Abs. 3 Nr. 1, 121 und 101 Satz 2 FGO). Das finanzgerichtliche Urteil ist nicht frei von Rechtsirrtum und bestätigt ermessensfehlerhafte Maßnahmen der Finanzbehörden, die auf einem unzureichend ermittelten Sachverhalt beruhen.

1. Gemäß § 227 Abs. 1 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, zu denen auch Ansprüche auf Säumniszuschläge gehören (§ 37 Abs. 1, 3 Abs. 3 AO 1977), ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre.

Die Entscheidung hierüber ist eine Ermessensentscheidung, die vor den Gerichten nur in den durch § 102 FGO gezogenen Grenzen nachprüfbar ist (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., 1992, §§ 227 AO 1977 Tz. 110 ff. m. w. N.). Das bedeutet, daß die Gerichte die Rechtmäßigkeitsprüfung von Verwaltungsakten, die ein Erlaßbegehren ablehnen, darauf zu beschränken haben, ob die Behörden bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihnen eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht haben (Gräber, Kommentar zur Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 102 Rz. 2; Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., Tz. 388; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., §§ 102 FGO Tz. 1 ff. jeweils m. w. N.).

Die Begrenzung gerichtlicher Prüfungskompetenz und die Eigenständigkeit der Ermessensausübung durch die Verwaltung ist außerdem nur gewährleistet, wenn zumindest der letzten Verwaltungsentscheidung ein vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt (BFH-Entscheidung vom 23. Mai 1985 V R 124/79, BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489, 490; Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., Tz. 118 und 380 m. w. N.).

Daran fehlt es hier zum einen, weil die Finanzbehörden das ihnen eingeräumte Ermessen nicht voll ausgeschöpft haben, zum anderen, weil sie von ihm einen fehlerhaften, dem Zweck der Ermessenseinräumung nicht entsprechenden Gebrauch gemacht haben.

a) Ein (Teil-)Erlaß von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen (der einzigen Tatbestandsvariante, die hier geltend gemacht wurde und daher zu prüfen war) kann geboten sein, soweit ihre Einziehung im Einzelfall mit dem Zweck des § 240 AO 1977 nicht vereinbar wäre. Das gilt vor allem soweit die Einziehung mit Rücksicht auf die Funktion der Säumniszuschläge als Druckmittel eigener Art ihren Sinn deshalb verliert, weil dem Steuerschuldner die rechtzeitige Zahlung der zugrunde liegenden Steuerschulden infolge Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich war (BFH in ständiger Rechtsprechung, vgl. z. B. Urteile vom 22. April 1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727; in BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415; vom 8. März 1990 IV R 34/89, BFHE 160, 296, BStBl II 1990, 673; vom 14. Mai 1987 X R 26/8l, BFH/NV 1988, 411; vom 21. Oktober 1987 X R 29/81, BFH/NV 1988, 546, und vom 26. April 1988 VII R 127/85, BFH/NV 1989, 71). Überschuldung liegt vor, wenn die Passiva die Aktiva übersteigen, wenn also das Vermögen des Schuldners seine Verbindlichkeiten nicht mehr deckt (BFH in BFHE 140, 421, 424, BStBl II 1984, 415, 416). Zahlungsunfähigkeit ist nicht im konkursrechtlichen Sinne zu verstehen. Sie erfordert auch nicht notwendig das dauernde Unvermögen des Schuldners, seine sofort zu erfüllenden Geldschulden noch im wesentlichen zu berichtigen (BFH a. a. O.; vgl. dazu BFH/NV 1988, 411, 413). Vielmehr kann sie auch vorliegen, wenn der Steuerschuldner zu dem Zeitpunkt zu dem die Abgaben fällig wurden (Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., Tz. 237 und 379 m. w. N.), zeitweilig außerstande war, seinen Zahlungspflichten pünktlich nachzukommen, weil Billigkeitsmaßnahmen der hier in Frage stehenden Art im wesentlichen darauf abzielen, das wirtschaftliche Fortbestehen des Steuerpflichtigen zu ermöglichen und den Eintritt der Konkurslage zu verhindern (vgl. BFH-Urteil vom 23. Mai 1985 V R 124/79, BFHE 143, 512, 514, BStBl II 1985, 489, 491f.).

Dies haben sowohl die Finanzbehörden (vgl. die erste Beschwerdeentscheidung vom 12. September 1979, Seite 5, in Bezug genommen durch die zweite Beschwerdeentscheidung vom 4. Dezember 1984, Seite 5) als auch das FG (Seite 6/7) verkannt und sind letztlich von konkursrechtlichen Voraussetzungen ausgegangen (dazu, daß selbst diese einem weiterreichenden Verständnis zugänglich sind: Urteil des Bundesgerichtshofs - BFH - vom 10. Januar 1985 IX ZR 4/84, NJW 1985, 1785).

b) Offensichtlich haben sich FA und OFD außerdem im Irrtum darüber befunden, daß der Untersuchungsgrundsatz (§ 88 AO 1977) auch im Erlaßverfahren gilt (Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., Tz. 380 m. w. N.) und daß Erlaßentscheidungen, wie sie hier gefordert sind, eine eingehende Ermittlung und Würdigung der wirtschaftlichen Situation des Steuerpflichtigen bei Eintritt der Zahlungspflicht erfordern (BFH in BFHE 143, 512, 516, BStBl II 1985, 489, 492). Dazu ist es hier nicht gekommen, obwohl die Klägerin schon in ihrem Stundungsantrag vom 30. September 1977 um Nachricht für den Fall gebeten hatte, daß weitere Erläuterungen notwendig seien. Im Hinblick darauf und auf die seitens der Klägerin auch im weiteren Verfahrensverlauf gezeigte Mitwirkungsbereitschaft hätten die Finanzbehörden weiter Rückfragen und genauere Unterlagen zum Zahlungsvermögen der Klägerin im hier interessierenden Zeitraum anfordern müssen. Vor allem hätte sich die OFD nicht mit der Feststellung begnügen dürfen (Beschwerdeentscheidung I Seite 4; Bezugnahme auch hierauf in Beschwerdeentscheidung II Seite 5), es sei ,,nicht erwiesen", daß die Klägerin 1977/1978 ,,zweifelsfrei" überschuldet gewesen sei, oder mit dem Hinweis darauf (Beschwerdeentscheidung II Seite 5), ein entsprechender ,,Nachweis oder auch nur Vortrag" sei unterblieben. Die Prüfung der Jahresabschlüsse 1977 und 1978 allein jedenfalls konnte über das tatsächliche Zahlungsvermögen im Säumniszeitraum (10. Oktober 1977 bis 1. August 1978) schon wegen der abweichenden Beurteilungsstichtage keinen hinreichenden Aufschluß geben.

c) Schließlich haben FA, OFD und FG unberücksichtigt gelassen, daß Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit nicht die einzigen Gründe sind, die zu einem (Teil-)Erlaß von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen führen können (BFH in BFHE 143, 512, 515f., BStBl II 1985, 489, 491f., und in BFHE 160, 296, 303, BStBl II 1990, 673, 676; BFH-Urteil vom 2. Februar 1989 V R 171/83, BFH/NV 1990, 11, 13).

Sachlich unbillig kann die (vollständige) Einziehung von Säumniszuschlägen auch sein, wenn sie aus sonstigen Gründen unangemessen erscheint, etwa weil dem Steuerschuldner Vollstreckungsschutz nach § 258 AO 1977 gewährt (BFH in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489; BFH-Urteil vom 22. Juni 1990 III R 150/85, BFHE 161, 4, BStBl II 1991, 864; Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., Tz. 231 ff. m. w. N.) oder soweit Aussetzung der Vollziehung, obwohl an sich möglich und geboten, von der Finanzbehörde versagt worden war (BFH-Urteil vom 29. August 1991 V R 78/86, BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906). Ihre Rechtfertigung findet diese Ausdehnung der Erlaßmöglichkeiten von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen in der Erkenntnis, daß sich der Gesetzeszweck des § 240 AO 1977 nicht darin erschöpft, den Steuerpflichtigen zur pünktlichen Steuerzahlung anzuhalten, sondern daß damit auch die finanziellen Nachteile abgegolten werden sollen, die für den Steuergläubiger mit der Säumnis verbunden sind (BFH in BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906, 908f.). Demgemäß kann ein sachlicher Billigkeitsgrund für einen (Teil-)Erlaß von Säumniszuschlägen auch gegeben sein, wenn die Leistungsfähigkeit des Steuerschuldners während der Säumnis so eingeschränkt war, daß die Vollstreckung gemäß § 258 AO 1977 einstweilen hätte eingestellt oder beschränkt werden müssen. Auch in einem solchen Fall verliert das Beharren auf der (uneingeschränkten) Einziehung der Säumniszuschläge unter dem Gesichtspunkt der Ausübung von Druck seinen Sinn und bleibt gerechtfertigt allenfalls im Hinblick auf den Gegenleistungsgedanken (d. h. in Höhe von Stundungs- bzw. Aussetzungszinsen - vgl. auch BFH in BFHE 161, 4, BStBl II 1991, 864, 866-).

Im Streitfall kommt hinzu, daß das FA die von der Klägerin vorgeschlagenen (und im wesentlichen auch eingehaltenen) Ratenzahlungen offensichtlich (die Vollstreckungsakten liegen nicht vor) ohne Beanstandung hingenommen und während dieser Zeit keine Vollstreckungsversuche unternommen hat. Dabei kommt es auf Entscheidungskompetenzen, auf die Erfolgsaussichten des Stundungsbegehrens bzw. auf den Eindruck, den das FA insoweit der Klägerin gegenüber erweckte, nicht entscheidend an, sondern darauf, daß das FA diese Zahlungsweise ohne weiteres geduldet hat. Auch insoweit war weitere Sachaufklärung unerläßlich und wird nun nachzuholen sein. Ergibt sie, daß die Ratenzahlungen tatsächlich, wie die Klägerin immer wieder vortrug, die Grenze ihrer damaligen Leistungsfähigkeit markierten, ist zumindest ein Teilerlaß geboten. Läßt sich das nicht mehr mit der erforderlichen Sicherheit aufklären, wird zu gewichten sein, inwieweit dies darauf zurückzuführen ist, daß das FA es verabsäumt hat, den entscheidungserheblichen Sachverhalt zeitnah aufzuklären. Insgesamt wird in diesem Zusammenhang auch aufzuklären und zu würdigen sein, inwieweit das FA durch sein Verhalten bei der Klägerin den Eindruck erweckte und unterhielt, es werde mit den Ratenzahlungen einverstanden sein, und worin dies begründet lag.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 143 Abs. 1, 135 Abs. l FGO. Zwar ist die Klägerin mit ihrem Begehren nicht in vollem Umfang erfolgreich gewesen: Statt der in erster Linie erstrebten Verpflichtung des FA zum begehrten Billigkeitserlaß hat sie nur ein Bescheidungsurteil erstritten (§§ 121, 101 Satz 2 FGO). In solchen Fällen ist regelmäßig Kostenteilung angebracht (BFH-Urteile vom l. Februar 1977 VII R 62/75, BFHE 121, 371, 378, BStBl II 1977, 370, 373; vom 25. April 1978 VII R 24/74, BFHE 125, 129, 138, und vom 26. Januar 1988 VIII R 151/84, BFH/NV 1988, 695). Im Hinblick darauf jedoch, daß die mangelnde Spruchreife hier im wesentlichen darauf zurückzuführen ist, daß die Finanzverwaltung die wirtschaftliche Situation der Klägerin zu den Fälligkeitszeitpunkten nicht hinreichend geprüft hat, obgleich dies schon für die Beurteilung des Stundungsbegehrens unerläßlich gewesen wäre und obgleich die Klägerin ihre Mitwirkungspflichten in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt hat, war es im Streitfall gerechtfertigt, dem FA allein die gesamten Verfahrenskosten aufzuerlegen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 418723

BFH/NV 1993, 510

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