Leitsatz (amtlich)

1. Die Verwaltungsanweisungen der Länderfinanzministerien über die Berücksichtigung privater Kraftfahrzeugkosten als außergewöhnliche Belastung der Körperbehinderten stellen eine vertretbare Schätzung dar.

2. Eine abweichende Schätzung erscheint nur gerechtfertigt, wenn sich aus den Darlegungen des Steuerpflichtigen hinsichtlich der gesetzlichen Voraussetzungen des § 33 EStG (größere Aufwendungen als bei der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes; Zwangsläufigkeit) und der Höhe der Mehraufwendungen konkrete Anhaltspunkte ergeben.

 

Normenkette

EStG § 33

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Steuerpflichtige), von Beruf Kesselmeister, ist körperbehindert. Die im Rentenbescheid festgestellte Minderung der Erwerbsfähigkeit betrug zunächst 40 v. H. und wurde nach dem neuen Feststellungsbescheid vom 18. Oktober 1965 auf Grund der Untersuchung vom 9. Dezember 1964 auf 50 v. H. heraufgesetzt. Der Steuerpflichtige leidet an einer Arthrosis-Deformans und erheblicher Bewegungseinschränkung im linken Kniegelenk.

Das FA setzte im Lohnsteuer-Ermäßigungsverfahren 1964 und im darauf folgenden Einspruchsverfahren den pauschalen Freibetrag nach § 26 LStDV 1962 von 480 DM, der bei einer Erwerbsminderung von 40 v. H. in Betracht kommt, an und erkannte von den Kraftfahrzeugkosten einen Betrag von 400 DM für die Haftpflichtversicherung als Sonderausgaben an. Den Antrag, auch die weiteren - die zumutbare Eigenbelastung übersteigenden - festen Kosten für den PKW (950 DM für Abnutzung, 372 DM für Garage) als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, lehnte es ab.

Im Klageverfahren vor dem FG erklärte das FA sich mit der Anerkennung eines Pauschbetrages nach § 26 LStDV 1962 in Höhe von 636 DM, der bei einer Erwerbsminderung von 50 v. H. in Betracht kommt, einverstanden. Das FG war der Auffassung, daß bei dem Steuerpflichtigen neben dem Pauschbetrag nach § 26 LStDV 1962 wegen Erwerbsminderung von 50 v. H. noch außergewöhnliche Belastungen nach Maßgabe der Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder (z. B. Erlaß des Finanzministers des Landes Nordrhein-Westfalen S 2193-13-V B 1 vom 14. Okttober 1964, LSt-Kartei Nr. 76 zu § 25 LStDV, veröffentlicht in "Der Betrieb" 1964 S. 1572) anerkannt werden könnten, d. h. - bei einem Aufwand für Privatfahrten von insgesmat 3 000 km jährlich und einem Kilometersatz von 0,25 DM - 750 DM im Kalenderjahr. Es komme nicht darauf an, ob die Geh- und Stehbehinderung, wie es die Erlasse forderten, zu einer Erwerbsminderung von mindestens 70 v. H. geführt habe. Die erhebliche Geh- und Stehbehinderung, die immer dann vorliege, wenn ein Steuerpflichtiger nicht in der Lage sei, ohne Schwierigkeiten Wegstrecken von etwa 2 km zu Fuß zurückzulegen (vgl. Schreiben des Finanzministeriums Baden-Württemberg S 2357 A - 1/67 vom 16. Februar 1967 an das Arbeits- und Sozialministerium Baden-Württemberg, Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe B, 1967 S. 290), sei eine tatsächliche Feststellung, die gradmäßige Unterscheidungen ausschließe und auch nicht an das zusätzliche Merkmal einer durch sie hervorgerufenen Erwerbsminderung geknüpft werden dürfe. Dem weitergehenden Begehren des Steuerpflichtigen, die gesamten PKW-Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen, könne nicht entsprochen werden. Eine zwingende Notwendigkeit zur Benutzung eines PKW wie bei einem Doppelbeinamputierten liege beim Steuerpflichtigen nicht vor.

Mit der Revision macht das FA geltend, das Urteil des FG stehe im Widerspruch zu den bezeichneten Erlassen der obersten Finanzbehörden der Länder. Der BFH habe die hieran anknüpfende Verwaltungspraxis, die der Gleichmäßigkeit der Besteuerung diene, für den Regelfall als rechtmäßig anerkannt. Aus der Urteilsbegründung des FG sei nicht zu entnehmen, daß das FG ausreichende Einzelfeststellungen getroffen habe, die eine Abweichung hiervon rechtfertigen.

Der Steuerpflichtige bestreitet, in der Lage zu sein, einen Fußmarsch von 2 km auszuführen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist begründet.

1. Der Senat hat sich mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen bei Geh- und Stehbehinderten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von weniger als 70 v. H. Aufwendungen für private PKW-Fahrten als außergewöhnliche Belastung neben den Pauschbeträgen nach § 26 LStDV anerkannt werden können, wiederholt befaßt (z. B. Urteile VI R 260/67 vom 23. Februar 1968, BFH 91, 535, BStBl II 1968, 408, und VI R 292/67 vom 23. Februar 1968, BFH 91, 523, BStBl II 1968, 415). Nach den im Zusammenhang mit dieser Rechtsprechung von den obersten Finanzbehörden der Länder herausgegebenen gleichlautenden Erlassen sollen die FÄ die Benutzung eines PKW als zwangsläufig anerkennen, wenn der Körperbehinderte nach Art und Grad der Behinderung zu seiner Fortbewegung auf das Fahrzeug angewiesen ist. Die Finanzministerien halten diese Voraussetzung allgemein für erfüllt, wenn die Geh- und Stehbehinderung die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 70 v. H. mindert. In diesen Fällen soll ohne Einzelnachweis ein Aufwand von jährlich (3 000 km mal 0,25 DM =) 750 DM neben dem Pauschbetrag aus § 26 LStDV anerkannt werden. Der Senat hat erklärt, daß er diese Verwaltungsregelung für eine sinnvolle typisierende Regelung zur Vereinfachung für alle Beteiligten halte, und hat ausgeführt, daß die Regelung als Schätzung in § 217 AO eine ausreichende Rechtsgrundlage finde. An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.

Es trifft nicht zu, wie das FG meint, daß bei einer erheblichen Geh- und Stehbehinderung gradmäßige Unterscheidungen ausgeschlossen seien. Es ist gerade der Sinn der gestaffelten Erwerbsminderungsgrade, daß zwischen schweren und weniger schweren Erwerbsminderungen unterschieden werden kann. Eine Geh- und Stehbehinderung etwa, die zu einer 100prozentigen Erwerbsminderung geführt hat, kann mit einer Geh- und Stehbehinderung, die zu einer Erwerbsminderung von 70 v. H. oder nur von 50 v. H. geführt hat, nicht verglichen werden. Der Erwerbsminderungsgrad wird von besonderen fachkundigen Behörden nach bestimmten Richtlinien festgestellt. Über diese Feststellungen können sich die Finanzverwaltungsbehörden, die über keine vergleichbare Fachkunde verfügen, nicht hinwegsetzen. Der BFH hat diesen Überlegungen folgend in ständiger Rechtsprechung (zuletzt Urteil VI 66/65 vom 28. Januar 1966, BFH 85, 224, BStBl III 1966, 291) bei Doppelbeinamputierten und diesen gleichstehenden um 100 v. H. in der Erwerbsfähigkeit geminderten Steuerpflichtigen in noch wesentlich größerem Umfange, als es in den Erlassen geschieht, private Kraftfahrzeugaufwendungen als außergewöhnliche Belastung neben den Pauschbeträgen nach § 26 LStDV anerkannt. Dieser Rechtsprechung liegt die Überlegung zugrunde, daß, je größer die durch die Geh- und Stehbehinderung hervorgerufene Erwerbsminderung ist, um so höher auch die dadurch bedingten zwangsläufigen Aufwendungen für PKW-Fahrten sein müssen. Die Auffassung der Vorinstanz, daß bei dem Steuerpflichtigen, bei dem die Geh- und Stehbehinderung zu einer Erwerbsminderung von 50 v. H. geführt habe, in derselben Höhe zwangsläufige Mehraufwendungen anfielen wie bei einem Geh- und Stehbehinderten, bei dem diese Behinderung zu einer Erwerbsminderung von 70 v. H. geführt habe widerspricht der Lebenserfahrung.

In dem vom FG erwähnten Schreiben des Finanzministeriums Baden-Württemberg vom 16. Februar 1967 (a. a. O.) wird nur zur Auslegung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG 1961 die Auffassung vertreten, daß als erheblich gehbehindert im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist, wer nicht in der Lage ist, ohne Schwierigkeiten eine Strecke von etwa 2 km zu Fuß zurückzulegen. Für die Gewährung einer Steuerermäßigung nach § 33 EStG auf Grund des Ländererlasses wird in dem Schreiben jedoch daran festgehalten, daß die Erwerbsfähigkeit durch eine Geh- und Stehbehinderung um mindestens 70 v. H. gemindert sein muß. Für die Anwendung der bezeichneten Vorschrift des KraftStG wird hiernach eine selbständige, sich von der Höhe des Erwerbsminderungsgrades lösende Regelung gegeben. Diese Regelung kann, wie auch schon in dem Schreiben selbst zum Ausdruck kommt, die Auslegung des § 33 EStG nicht entscheidend beeinflussen. Es ist Aufgabe der für die Feststellung des Erwerbsminderungsgrades zuständigen Behörden, zu prüfen, wie weit die Fähigkeit eines Steuerpflichtigen zur Zurücklegung von Fußwegstrecken beeinträchtigt ist. Diese Feststellung findet dann ihren Niederschlag in der Höhe des Erwerbsminderungsgrades. Nur wenn sich hiernach eine Erwerbsminderung von 70 v. H. ergibt, erscheint die in den bezeichneten Ländererlassen vorgenommene Schätzung begründet. Es braucht daher auch im Streitfall nicht mehr festgestellt zu werden, ob der Steuerpflichtige in der Lage ist, eine Wegstrecke von 2 km zu Fuß zurückzulegen.

Der Senat sieht auch auf Grund der mit Wirkung vom 1. Juli 1967 in § 9 Abs. 2 EStG 1967 für bestimmte Körperbehinderte eingeführten Sonderregelung keinen Anlaß, seine Rechtsprechung zu ändern. Nach dieser Regelung können Körperbehinderte, deren Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 70 v. H. beträgt, und Körperbehinderte, deren Minderung der Erwerbsfähigkeit weniger als 70 v. H., aber mindestens 50 v. H. beträgt und die erheblich gehbehindert sind, statt der Pauschbeträge für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte mit eigenem PKW die tatsächlichen Aufwendungen geltend machen. Die neue Vorschrift geht auf eine bereits in Abschnitt 25 der LStR 1963 enthaltene Verwaltungsregelung zurück. Nach dieser Regelung konnten bei schwer Körperbehinderten mit einer Erwerbsminderung von mindestens 45 v. H., die wegen ihrer Behinderung ein Kraftfahrzeug benutzen mußten, die tatsächlichen Aufwendungen für alle aus dienstlichen Gründen ausgeführten Fahrten, auch wenn es sich nur um Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte handelte, als Werbungskosten berücksichtigt werden. Diese Regelung wird durch die neue Vorschrift des § 9 Abs. 2 EStG 1967 nur insofern erweitert, als bei einer Erwerbsminderung von 70 v. H. nicht mehr auf eine erhebliche Gehbehinderung abgestellt wird. Hinsichtlich der Steuerpflichtigen mit einer Erwerbsminderung von weniger als 70 v. H. ist die frühere Verwaltungsregelung im wesentlichen unverändert übernommen worden. Abgesehen davon, daß die neue Vorschrift des § 9 Abs. 2 EStG 1967 erst ab 1967 und damit im Streitfall noch nicht anwendbar ist, besteht auch deswegen keine Veranlassung zu einer Überprüfung der Rechtsprechung, weil diese Regelung nur für Kraftfahrzeugkosten als Werbungskosten gilt und auch früher schon, als sie auf Verwaltungsanweisungen beruhte, von der Regelung über die Berücksichtigung von Kraftfahrzeugkosten als außergewöhnliche Belastungen nach den übereinstimmenden Ländererlassen abwich.

2. Allerdings wird der Steuerpflichtige durch die Rechtsprechung des Senats zu den Ländererlassen nicht gehindert darzutun, daß in seinem Fall besondere Verhältnisse vorliegen, die eine von den Erlassen abweichende Schätzung rechtfertigen. Diese Möglichkeit hätte nicht nur der Steuerpflichtige, der mit einer Erwerbsminderung von 50 v. H. nicht unter die Erlaßregelung fällt, sondern auch etwa ein Steuerpflichtiger, der zwar unter die Erlaßregelung fällt, aber höhere außergewöhnliche Belastungen geltend machen will. Aus den Darlegungen müßten sich aber, wenn sie eine abweichende Schätzung tragen sollen, hinsichtlich der gesetzlichen Voraussetzungen des § 33 EStG (größere Aufwendungen, als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen; Zwangsläufigkeit) und der Höhe der Mehraufwendungen konkrete Anhaltspunkte ergeben. Mit der Angabe des Steuerpflichtigen über seine insgesamt erbrachten Kraftfahrzeugaufwendungen allgemein und dem Hinweis auf seine Geh- und Stehbehinderung und die 50prozentige Erwerbsminderung läßt sich eine abweichende Schätzung nicht hinreichend begründen.

Da im Streitfall bei dem Steuerpflichtigen eine Geh- und Stehbehinderung, die zu einer Erwerbsminderung von mindestens 70 v. H. im Sinne der Erlaßregelung geführt hat, nicht vorliegt, der Steuerpflichtige auch nicht dargetan hat, daß in seinem Falle Verhältnisse gegeben sind, die eine von den Erlassen abweichende Schätzung rechtfertigen könnten, kann bei ihm eine außergewöhnliche Belastung wegen seiner privaten Kraftfahrzeugkosten neben dem Pauschbetrag nach § 26 LStDV 1962 nicht anerkannt werden.

3. Der Senat hat keine Bedenken, dem Steuerpflichtigen schon für das Jahr 1964 den pauschalen Freibetrag nach § 26 LStDV 1962 zuzubilligen, der sich bei einer auf 50 v. H. festgestellten Erwerbsminderung ergibt. Der Steuerpflichtige hatte schon im Jahr 1964 die Heraufsetzung des Erwerbsminderungsgrades beantragt und war bereits am 9. Dezember 1964 untersucht worden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68957

BStBl II 1970, 380

BFHE 1970, 353

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