Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Schätzungsbefugnis bei Feststellung der Haftungsquote

 

Leitsatz (NV)

1. Das FG muß eine von ihm in Anspruch genommene Befugnis zur Schätzung jedenfalls dann begründen, wenn ihm die gesamten Buchführungsunterlagen für das Streitjahr vorliegen.

2. Allein aus der Feststellung, daß die vom FA zur Höhe der Haftungsquote ermittelten Zahlen mit Nichtwissen bestritten worden sind, ergibt sich nicht, warum das FG den Sachverhalt nicht weiter aufgeklärt und auf der Grundlage der dadurch festgestellten Tatsachen geschätzt hat oder warum das FG nicht sogleich nach Maßgabe der objektiven Beweislast (Feststellungslast) entschieden hat.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 34, 69, 162; FGO § 76 Abs. 1, § 96 Abs. 1 Sätze 1, 3

 

Tatbestand

Der Kläger, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war Geschäftsführer einer GmbH, über deren Vermögen ... das Konkursverfahren eröffnet wurde. Im Jahre ... nahm ihn der Beklagte, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) als Haftungsschuldner nach §§ 34, 69 der Abgabenordnung (AO 1977) in Höhe von 50 v.H. der festgestellten Umsatzsteuer-Rückstände der GmbH in Anspruch, nachdem der Kläger der Aufforderung des FA nicht nachgekommen war, die Grundlagen einer genauen Berechnung des Verhältnisses der im Haftungszeitraum zu tilgenden Verbindlichkeiten zu den vorhandenen Zahlungsmitteln (Tilgungsquote) mitzuteilen.

Mit seiner hiergegen gerichteten Klage machte der Kläger geltend, die Haftungsquote sei frei geschätzt worden. Im Laufe des Klageverfahrens stellte er aber die ihm vom Konkursverwalter zugeleiteten Buchführungsunterlagen der GmbH dem FA zur Verfügung, das auf dieser Grundlage eine Tilgungsquote von ... v.H. errechnete.

Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) bestritt der Kläger die Richtigkeit der vom FA errechneten Umsatzsteuerbeträge und der Tilgungsquote mit Nichtwissen.

In der mündlichen Verhandlung reduzierte das FA die Haftung auf die von ihm errechnete Summe von ... DM.

Das FG entschied, die Klage sei nur insoweit begründet, als das FA vom Kläger einen über ... DM hinausgehenden Haftungsbetrag gefordert habe.

Die Umsatzsteuer-Verbindlichkeiten der GmbH seien im Konkursverfahren bestandskräftig festgestellt worden. Die GmbH hätte nach Überzeugung des Gerichts Umsatzsteuer in der festgestellten Höhe an das FA abführen müssen. Als Geschäftsführer der GmbH hafte der Kläger hierfür aber nach ständiger Rechtsprechung nur insoweit, als er die vorhandenen Mittel nicht zu einer in etwa anteiligen Befriedigung der privaten Gläubiger und des FA verwendet habe. Ob und inwieweit der Geschäftsführer das FA benachteiligt habe, bedürfe der Feststellung. Es sei also ein Liquiditätsstatus für den Haftungszeitraum zu erstellen, was aufgrund der vom Kläger im Klageverfahren nachgereichten Unterlagen geschehen sei.

Soweit die dem Liquiditätsstatus zugrunde gelegten Zahlen unvollständig seien und wegen der inzwischen verstrichenen Zeit keine vollständige Aufklärung mehr möglich sei, könne die Haftungsquote nach allgemeinen Grundsätzen geschätzt werden. Die letztlich verbleibenden Zweifel seien in der Weise ausreichend zu berücksichtigen, daß der vom Kläger verschuldete Steuerausfall auf ... DM geschätzt und die Haftungsforderung des FA entsprechend herabgesetzt werde.

Gegen das Urteil legten FA und Kläger Revision ein. Der Kläger begründete seine Revision nicht.

Das FA trägt vor, die Annahme des FG, im Rahmen der Liquiditätsprüfung bzw. -ermittlung hätten die Buchführungsunterlagen nur unvollständig vorgelegen, sei unrichtig. Dem Bearbeiter hätten vielmehr alle Unterlagen für das Geschäftsjahr ... sowie für den Haftungszeitraum vollständig vorgelegen. Gegenteiliges sei von den Parteien auch nicht vorgetragen worden und ergebe sich insbesondere nicht aus den Akten. Das FG habe deshalb gegen die §§ 191, 34, 69 AO 1977 verstoßen.

 

Entscheidungsgründe

1. Die Revision des Klägers ist unzulässig; sie ist nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist begründet worden (§ 120 Abs. 1, § 124 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

2. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Urteils der Vorinstanz und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

Das Urteil des FG beruht auf einer Verletzung materiellen Rechts. Es enthält einen Begründungsmangel (§ 96 Abs. 1 Satz 3 FGO). Die gegebene Begründung ist für den Senat nicht nachvollziehbar.

Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, daß der Kläger dem Grunde nach gemäß §§ 34, 69 AO 1977 für die Umsatzsteuerschuld der GmbH haftet. Es ist ferner zutreffend davon ausgegangen, daß im Falle des Einstehenmüssens für Umsatzsteuerschulden der GmbH deren Geschäftsführer nur insoweit in Anspruch genommen werden kann, als er - pflichtwidrig - die Umsatzsteuer-Verbindlichkeiten nicht in etwa dem gleichen Umfang beglichen hat wie andere Verbindlichkeiten, und daß zur Feststellung, inwieweit dem FA gemäß diesem Grundsatz der anteiligen Tilgung ein Schaden entstanden ist, die Quote festgestellt werden muß, in deren Höhe unter Ausschöpfung der vorhandenen oder bereitzuhaltenden Betriebsmittel die bestehenden Verbindlichkeiten hätten getilgt werden können (ständige Rechtsprechung; vgl. Urteile des Senats vom 14. Juli 1987 VII R 188/82, BFHE 150, 312, BStBl II 1988, 172, und vom 5. März 1991 VII R 93/88, BFHE 164, 203, BStBl II 1991, 678, jeweils m.w.N.).

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Rüge des FA, das FG habe trotz Vorliegens der Buchführungsunterlagen die Höhe der Haftungsquote geschätzt, statt sie aus den vorhandenen Unterlagen zu ermitteln, zu einem Verstoß gegen die von der Revision als verletzte Rechtsnormen bezeichneten Vorschriften der §§ 34, 69, 191 AO 1977 führen kann. Denn jedenfalls ist dem FG dadurch ein nach § 118 Abs. 3 Satz 2 FGO vom Revisionsgericht zu beachtender Rechtsfehler unterlaufen, daß es die von ihm in Anspruch genommene Befugnis zur Schätzung und die daraufhin vorgenommene Schätzung selbst nicht begründet hat (§ 96 Abs. 1 Satz 3 FGO). In den Urteilsgründen erklärt das FG zwar, daß es die vom FA dem Liquiditätsstatus und der Berechnung der Haftungsquote zugrunde gelegten Zahlen für unvollständig und eine vollständige Aufklärung wegen Zeitablaufs für nicht mehr möglich gehalten hat. Eine nähere Begründung für diese Entscheidung fehlt aber; sie ist auch vor allem deshalb nicht nachvollziehbar, weil dem FG die gesamten Buchführungsunterlagen für das Streitjahr vorgelegen haben.

Das FG läßt nicht erkennen, warum es davon ausgeht, daß die vom FA dem Liquiditätsstatus zugrunde gelegten Zahlen unvollständig sein sollen, mithin eine sichere Berechnung nicht möglich ist (Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 96 FGO Tz. 8; vgl. auch Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 96 Rdnr. 19). Da allein dies - auch nach Auffassung des FG - Voraussetzung dafür sein könnte, daß das Gericht zum Mittel der eigenen Schätzung greifen durfte, um die Höhe der Haftung (Haftungsquote) festzustellen, hätte das FG dies in den Urteilsgründen näher darlegen müssen. Insoweit fehlt es an konkreten Angaben, die die Überzeugungsbildung des FG nachvollziehbar machen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 5. Mai 1982 VII R 28/80, BFHE 136, 8, 16).

Zur Begründung der Ausübung einer möglichen Befugnis des FG zur Schätzung der Höhe der Haftungsquote ist es nicht ausreichend, daß - wie im Streitfall im Tatbestand des Urteils - das FG lediglich feststellt, der in Haftung Genommene habe die vom FA ermittelten Zahlen mit Nichtwissen bestritten. Denn es ist daraus nicht erkennbar, warum das FG - falls es das Bestreiten für ausreichend substantiiert hielt - nicht entsprechend seiner Amtsermittlungspflicht Schritte zur Aufklärung der Korrektheit der vom FA vorgelegten Zahlen ergriffen und in diesem Zusammenhang nach Feststellung der (nicht weiter aufklärbaren) Unvollständigkeit des Sachverhalts auf der Grundlage der vorhandenen Tatsachen geschätzt hat oder - falls das FG das Bestreiten für unsubstantiiert hielt - nicht sogleich entsprechend der Rechtsprechung des BFH zur objektiven Beweislast (Feststellungslast) in den Fällen der Geschäftsführerhaftung entschieden hat (vgl. hierzu BFH-Urteile vom 12. Juni 1986 VII R 192/83, BFHE 146, 511, BStBl II 1986, 657; vom 16. September 1987 X R 3/81, BFH/NV 1988, 283, 284, und vom 9. Juli 1985 VII B 77/84, BFH/NV 1986, 387, 388, jeweils m.w.N.; zur Feststellungslast im übrigen vgl. BFH-Urteile vom 5. März 1980 II R 148/76, BFHE 130, 179, BStBl II 1980, 402, und vom 26. August 1992 VII R 50/91, BFHE 169, 13, BStBl II 1993, 8, 10f.; zumUmfang des Auskunftsverlangens gegenüber dem Haftenden vgl. Urteil des Senats vom 11. Juli 1989 VII R 81/87, BFHE 157, 315, BStBl II 1990, 357).

Der Kläger hat im Streitfall die vom FA aus den Buchführungsunterlagen entnommenen Zahlen unter Angabe davon abweichender Zahlen in Frage gestellt. Bei dieser Sachlage gebietet der Grundsatz der Amtsermittlung (§ 76 FGO), Maßnahmen zur Aufklärung der sich widersprechenden Angaben zu treffen. Erst wenn sich die Aufklärung als unmöglich erweist oder aus bestimmten, darzulegenden Gründen als unzumutbar anzusehen ist (vgl. BFH-Urteil vom 18. Dezember 1984 VIII R 195/82, BFHE 142, 558, BStBl II 1986, 226, 228), stellt sich die Frage, ob bereits nach den Regeln der Feststellungslast (objektive Beweislast) zu entscheiden ist oder ob es dem Sinn und Zweck des steuerrechtlichen Verfahrens auch in seiner gerichtlichen Kontrollphase mehr entspricht, daß das FG auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisse (unter erneuter Einbeziehung der Beurteilung durch die am Verfahren Beteiligten) weitere Feststellungen zur Höhe der Haftungsquote im Wege der Schätzung trifft bzw. - wie im Streitfall geschehen - die Höhe der unter Berücksichtigung der Gesamtverbindlichkeiten und der verfügbaren Zahlungsmittel im maßgebenden Zeitraum an das FA jedenfalls abzuführende Haftungssumme als solche schätzt.

Da das FG dies offensichtlich verkannt hat, war die Vorentscheidung aufzuheben. Das FG wird ausgehend von dem vom FA aus der Buchführung entnommenen Zahlenmaterial unter Würdigung seiner für die Berechnung der Haftungsquote erforderlichen Vollständigkeit die dagegen erhobenen tatsächlichen Einwendungen des Klägers zu würdigen haben. Allenfalls soweit dann noch Unvollständigkeiten oder Zweifel hinsichtlich der Berechnungsgrundlagen für die Haftungsquote verbleiben, kann für das FG eine Schätzung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 162 AO 1977) in Betracht kommen, die in ihren Ansätzen zu begründen ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 419460

BFH/NV 1994, 683

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