Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsrecht Sonstiges Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Senat hält daran fest, daß die Kosten mittäglicher Heimfahrten nicht nach § 33 EStG berücksichtigt werden können (vgl. Urteil des Senats VI 98/61 S vom 7. Dezember 1962, BStBl 1963 III S. 134, Slg. Bd. 76 S. 363).

Die Steuerpflichtigen können aus der gegenteiligen Auffassung des Urteils des Bundesfinanzhofs VI 9/60 U vom 29. April 1960 (BStBl 1960 III S. 258, Slg. Bd. 71 S. 33) im Verfahren vor den Steuergerichten keine Rechte herleiten.

Ob wegen des Wandels der Rechtsprechung zur Vermeidung von Härten eine übergangsregelung auf Grund von § 131 AO angebracht ist, haben die oberen Behörden der Finanzverwaltung nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen.

Erlassen die oberen Finanzverwaltungsbehörden zur Anpassung an eine veränderte Rechtslage zur Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 AO, so sind diese auch von den Steuergerichten zu beachten.

 

Normenkette

GG Art. 3, 20 Abs. 3; EStG § 33; LStDV § 25; AO § 131

 

Tatbestand

Der Bf. ist Ingenieur bei einem Industrieunternehmen. Er ist seit Jahren in ärztlicher Behandlung "wegen rückfälliger Magenkatarrh- und Verdauungsbeschwerden bei Vitaminmangelzuständen" und braucht nach einer Bescheinigung seines Arztes Diät- und Schonkost, insbesondere mittags eine warme magengerechte Mahlzeit. Er fährt mittags zum Essen nach Hause. Die Kosten dieser mittäglichen Heimfahrten macht er bei der Lohnsteuer für 1962 und 1963 mit 960 DM als außergewöhnliche Belastungen geltend. Das Finanzamt lehnte die Berücksichtigung dieser Beträge ab. Der Einspruch und die Berufung hiergegen hatten keinen Erfolg.

Das Finanzgericht führte aus: Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs seien bei Arbeitnehmern und bei freiberuflich Tätigen die Kosten der mittäglichen Heimfahrten weder Werbungskosten noch Betriebsausgaben. Nach den Urteilen des Bundesfinanzhofs VI 98/61 S vom 7. Dezember 1962 (BStBl 1963 III S. 134, Slg. Bd. 76 S. 363) und IV 10/61 S vom 13. Dezember 1962 (BStBl 1963 III S. 91, Slg. Bd. 76 S. 255) seien sie auch keine Krankheitskosten nach § 33 EStG, auch nicht, wenn ein Steuerpflichtiger mittags nach Hause fahre, um eine ärztlich verordnete Diätmahlzeit einzunehmen.

Der Bf. trägt zur Begründung seiner Rb. vor, bei Anwendung des § 33 EStG sei entsprechend den Einkommensverhältnissen der Steuerpflichtigen zu prüfen, ob eine Belastung außergewöhnlich sei. Für ihn als tarifgebundenen Angestellten sei jedenfalls eine Mittagsheimfahrt außergewöhnlich. Wenn er seine Anträge Ende 1961 oder Anfang 1962 gestellt hätte, wäre ihnen entsprochen worden. Ihre Ablehnung auf Grund des am 7. Dezember 1962 ergangenen und am 10. April 1963 veröffentlichten Urteils des Bundesfinanzhofs VI 98/61 S (a. a. O.) widerspreche dem Vertrauensgrundsatz, nachdem vorher im Urteil des Bundesfinanzhofs VI 9/60 U vom 29. April 1960 (BStBl 1960 III S. 258, Slg. Bd. 71 S. 33) die Kosten mittäglicher Heimfahrten aus gesundheitlichen Gründen als außergewöhnliche Belastung anerkannt worden seien. Im übrigen sei wesentlich, daß er an Vitaminmangel leide und deshalb im Kühlschrank aufbewahrte und aufgewärmte Mahlzeiten nicht vertrage. Das Urteil des Bundesfinanzhofs VI 98/61 S (a. a. O.) verstoße schließlich auch gegen Art. 3 des Grundgesetzes (GG).

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist nicht begründet.

Das Finanzgericht weist zutreffend darauf hin, daß es der Senat im Urteil VI 98/61 S vom 7. Dezember 1962 (a. a. O.) unter Aufgabe der im Urteil VI 9/60 U (a. a. O.) vertretenen Auffassung abgelehnt hat, die Kosten mittäglicher Heimfahrten als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen, auch wenn diese Heimfahrten auf ärztliche Anordnungen zurückgehen. Die Einwendungen des Bf. veranlassen den Senat nicht zu einer änderung dieser Auffassung.

Die vom Bf. angestrebte unterschiedliche Behandlung der Kosten der mittäglichen Heimfahrten nach den Einkommensverhältnissen der einzelnen Steuerpflichtigen würde zu einer sachlich nicht gerechtfertigten verschiedenen Behandlung der Steuerpflichtigen führen und deshalb gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG verstoßen.

Der Bf. kann sich auch nicht auf das Urteil VI 9/60 U (a. a. O.) berufen. In dieser Entscheidung hatte der Senat zwar die Kosten mittäglicher Heimfahrten als außergewöhnliche Belastung im Sinne von § 33 EStG unter bestimmten Voraussetzungen anerkannt. Diese Rechtsauffassung wurde aber in dem Urteil VI 98/61 S (a. a. O.) ausdrücklich wieder aufgegeben. Es trifft zu, daß ein solcher Wechsel der rechtlichen Beurteilung für einzelne Steuerpflichtige sich ungünstig auswirken kann. Der Bundesfinanzhof würde aber seiner Aufgabe als Gericht nicht gerecht werden, wenn er eine als unzutreffend erkannte Rechtsauffassung beibehalten würde.

Der Bf. verkennt auch die Tragweite des Urteils VI 9/60 U (a. a. O.). Jedes Urteil schafft Recht nur zwischen den am Verfahren Beteiligten. Die Entscheidungen der Steuergerichte äußern daher unmittelbare Rechtswirkungen nur zwischen dem beteiligten Steuerpflichtigen und dem Staat als dem Steuergläubiger. Für andere Steuerpflichtige ergeben sich aus ihm allenfalls mittelbare steuerliche Auswirkungen, weil die Finanzämter die bei einem anderen Steuerpflichtigen auftretenden Rechtsfragen in der Regel ebenso entscheiden, wie es in einem Urteil des Bundesfinanzhofs geschehen ist, zumal soweit Urteile des Bundesfinanzhofs als sog. "U" - Urteile zur amtlichen Veröffentlichung freigegeben oder wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung als "S" - Urteile nach § 64 AO amtlich veröffentlicht worden sind (siehe Hartz, "Zur Veröffentlichung von Urteilen des Bundesfinanzhofs", Beilage 11 zu "Der Betrieb" 1961; derselbe, "Veröffentlichungspraxis und Großer Senat des Bundesfinanzhofs" in Finanz-Rundschau 1964 S. 47). Der Senat hatte das Urteil VI 9/60 U (a. a. O.) damals übrigens nicht als Grundsatzentscheidung ("S" - Urteil) erlassen, so daß es keine bindende Wirkung im Sinne von § 66 Abs. 1 AO für alle Senate des Bundesfinanzhofs hatte.

Der Bf. glaubt wohl vor allem, die Anwendung der Grundsätze des Urteils VI 98/61 S (a. a. O.) bedeute für die Bearbeitung seiner Lohnsteuer für die Jahre 1962 und 1963 eine unzulässige Rückwirkung. Aber auch darin ist ihm nicht zu folgen. Die verbösernde Rückwirkung hat besondere Bedeutung bei Steuergesetzen, bei denen sie aber auch nicht schlechthin unzulässig ist (siehe Grimm, "Besteuerung und Grundgesetz", 1959, S. 3 und die dort angeführten Entscheidungen). Der Gesetzgeber unterliegt bei dem Erlaß von Gesetzen nach Art. 2 GG zwar gewissen Bindungen hinsichtlich der rückwirkenden Eingriffe in die Rechte der Staatsbürger. Die für Gesetze geltenden Grundsätze dürfen aber auf Entscheidungen der Gerichte nicht ohne weiteres übertragen werden, da Gerichtsurteile kein neues Recht schaffen, sondern nur das bestehende Recht im Einzelfall auslegen, wie sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt.

Die Urteile des Bundesfinanzhofs, die für die Verwaltungspraxis von wesentlicher Bedeutung sind, haben allerdings oft zur Folge, daß die Steuerpflichtigen verschieden behandelt werden, je nach dem ob ihr Steuerfall vor oder nach der Veröffentlichung eines Urteils des Bundesfinanzhofs bearbeitet wird. Die Finanzverwaltungen versuchen oft, eine derartige ungleichmäßige Behandlung der Steuerpflichtigen entsprechend dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG durch übergangs- oder Anpassungsregelungen zu verhindern oder zu mildern. Eine solche übergangsregelung wurde z. B. in Abschn. 188 Abs. 1 letzter Satz EStR 1958 (BStBl 1959 I S. 391, 481) getroffen, als der Senat in den Urteilen VI 7/59 S und VI 141/59 S vom 7. August 1959 (BStBl 1959 III S. 383, 385, Slg. Bd. 69 S. 324 und 330) eine von der bisherigen Verwaltungspraxis abweichende Auffassung über die Berücksichtigung von Aussteueraufwendungen bei der Einkommensteuer und der Lohnsteuer vertrat. Nach den Urteilen des Bundesfinanzhofs I 39/57 U vom 14. August 1958 (BStBl 1958 III S. 409, Slg. Bd. 67 S. 354) und VI 50/60 U vom 2. Dezember 1960 (BStBl 1961 III S. 73, Slg. Bd. 72 S. 197) sind solche übergangsregelungen nicht nur zulässig, sondern auch von den Steuergerichten zu beachten. Daß bei einem Wandel der Rechtsprechung die Verwaltung zur Vermeidung einer ungleichmäßigen Behandlung der Steuerpflichtigen in geeigneten Fällen und in geeigneter Form einen angemessenen Ausgleich herbeiführen kann und soll, wurde neuerdings noch in dem Urteil des Großen Senats des Bundesfinanzhofs 1/63 S vom 13. November 1963 (BStBl 1964 III S. 124) entschieden. Die Finanzverwaltung hat daher auch in Fällen der vorliegenden Art zu prüfen, ob die Billigkeit es erfordert, auf Grund von § 131 AO eine übergangsregelung zu treffen. Da bisher aber eine solche Anpassungsregelung nicht vorliegt und die Entscheidung des Finanzgerichts die vom Bf. beantragte Steuerermäßigung sachlich richtig unter Hinweis auf das Urteil des Senats VI 98/61 S (a. a. O.) abgelehnt hat, kann die Rb. keinen Erfolg haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411187

BStBl III 1964, 342

BFHE 1964, 306

BFHE 79, 306

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