Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Hat der Steuerpflichtige einen auf § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützten Berichtigungsbescheid beanstandet, weil neue Tatsachen nicht vorlägen, so ist seinem Antrag "der Sache nach" entsprochen, wenn das FA den Berichtigungsbescheid zurücknimmt; über die Höhe des materiellen Steueranspruchs ist damit nichts ausgesagt.

Die Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil das FA kurz zuvor einen auf § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützten Berichtigungsbescheid gleichen Inhalts nach § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO zurückgenommen hatte.

 

Normenkette

AO § 94 Abs. 1 Nr. 2, § 222 Abs. 1 Nrn. 1, 3

 

Tatbestand

Die Mutter des Klägers hat diesem im Jahr 1953 eine Schuld erlassen. Im Jahr 1955 hat sie ihm einen Geldbetrag geschenkt.

Das Finanzamt (FA) hat den Kläger vorläufig aus beiden Erwerben zur Erbschaftsteuer herangezogen. Der Kläger hat für den Schulderlaß aus dem Jahr 1953 Steuerbefreiung beansprucht, weil durch den Erlaß eine überschuldung seines landwirtschaftlichen Betriebs beseitigt werden sollte. Im Einspruchsverfahren hat er durch Vergleich seines Schuldenstandes mit dem Wert des lebenden und toten Inventars, der Vorräte, Gebäude und Betriebsanlagen eine überschuldung zum 30. Juni 1953 errechnet. Das FA hat durch Bescheid vom 16. August 1957 unter Bezugnahme auf § 94 AO die Steuer auf weniger als die Hälfte des zunächst geforderten Betrags herabgesetzt und diese Festsetzung für endgültig erklärt.

Bei einer Betriebsprüfung im Januar 1958 ergab sich, daß bei der vorstehenden Berechnung der überschuldung der Wert des Grund und Bodens einschließlich der stehenden Ernte außer Ansatz gelassen war. Deshalb und auf Grund der inzwischen aufgegebenen Ansicht, die zweitgenannte Schenkung sei bereits im Jahr 1954 erfolgt, erhöhte das FA am 10. Juli 1958 die Steuerfestsetzung auf etwa das Eineinhalbfache der ursprünglich geforderten Summe.

Nach Einspruch des Klägers legte das FA die Akten der Oberfinanzdirektion (OFD) vor. Deren Weisung entsprechend nahm das FA am 8. Dezember 1958 den änderungsbescheid vom 10. Juli 1958 "nach § 94 AO" zurück; am 11. Dezember 1958 erließ es einen "nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO" geänderten Bescheid in Höhe des ersten, vorläufigen Bescheids.

Der Kläger bestreitet die Zulässigkeit der Berichtigung und des eingeschlagenen Verfahrens. Einspruch und Berufung hatten keinen Erfolg.

 

Entscheidungsgründe

Die (noch als Rb. eingelegte) Revision des Klägers ist unbegründet.

Die Schenkungsteuer (Erbschaftsteuer) ist, wie auch der Kläger nicht bezweifelt, aus den Erwerben vom Jahr 1953 und vom Jahr 1955 in der vom FA nunmehr verlangten Höhe angefallen. Sie war im Zeitpunkt der angefochtenen Festsetzung, am 11. Dezember 1958, noch nicht verjährt. Das FA war durch das vorangegangene Verfahren nicht gehindert, die bisherige Festsetzung auf Weisung der OFD nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO der materiellen Rechtslage entsprechend zu berichtigen.

Nach der Ansicht des Klägers stand die unter dem 8. Dezember 1958 ergangene, auf § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO gestützte Rücknahme des gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO erlassenen änderungsbescheids vom 10. Juli 1958 einer Berichtigung des Bescheids vom 16. August 1957 nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO entgegen. Der Kläger bezieht sich darauf, daß nach § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO die Rücknahme eines Steuerbescheids voraussetzt, daß der Steuerpflichtige zustimmt, oder daß einem Antrag des Steuerpflichtigen der Sache nach entsprochen wird. Da er mit seinem Einspruch gegen den Bescheid vom 10. Juli 1958 "der Sache nach" erstrebt habe, von der geforderten Mehrsteuer freigestellt zu werden, und da er einer anderen Erledigung der Sache nicht zugestimmt habe, bedeute der Bescheid vom 8. Dezember 1958 das vorbehaltlose Anerkenntnis, daß eine Steuernachforderung nicht zulässig sei.

Diesem Schluß kann nicht gefolgt werden, weil seine Prämisse nicht zutrifft. Mit seinem Einspruch gegen den Steuerbescheid vom 10. Juli 1958 hat der Kläger nämlich gerügt, daß dem Bescheid vom 16. August 1957 gegenüber keine neuen Tatsachen vorlägen, eine änderung gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO somit unzulässig sei. Diesen Standpunkt hat das FA in seinem Bescheid vom 8. Dezember 1958 anerkannt; es hat den gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO ergangenen änderungsbescheid vom 10. Juli 1958 zurückgenommen. Der Rücknahmebescheid enthält keine selbständige Steuerfestsetzung; er sagt nichts darüber aus, ob eine Steuernachforderung aus einem anderen Rechtsgrund als dem des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zulässig ist oder nicht. So wenig, wie mit dem Einspruch "der Sache nach" eine Neuaufrollung des Steuerfalls begehrt worden ist und begehrt werden konnte, so wenig konnte der Bescheid vom 8. Dezember 1958 über die materielle Rechtslage befinden.

Dem Kläger ist allerdings einzuräumen, daß der erkennende Senat noch in dem Urteil II 296/59 vom 19. April 1961 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1961 S. 181) den gegenteiligen Standpunkt vertreten und die Worte "der Sache nach" (§ 94 Abs. 1 Nr. 2 AO) auf den materiellen Steueranspruch bezogen hat. An dieser Auffassung kann der Senat jedoch nicht mehr festhalten. Zwar läßt § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO auch selbständige änderungen außerhalb eines sonst anhängigen Verfahrens zu; seine Anwendung während eines laufenden Rechtsbehelfs bezweckt aber nicht mehr, als diesem Rechtsbehelf durch eine vereinfachte Entscheidung abzuhelfen. Folglich können die Wirkungen eines solchen Abhilfebescheids nicht weiter reichen als die der Entscheidung über den Rechtsbehelf, die er erübrigen soll. Auch in einer dem Kläger stattgebenden Einspruchsentscheidung hätte aber nur durch Aufhebung des angefochtenen Bescheids vom 10. Juli 1958 ausgesprochen werden können, daß die gemäß §§ 222 Abs. 1 Nr. 1 AO verfügte änderung unzulässig war. Selbst wenn der Berichtigungsbescheid vom 10. Juli 1958 erst durch eine gerichtliche Entscheidung aus diesem Grunde aufgehoben worden wäre, könnte deren Rechtskraft nicht weiter reichen (vgl. in anderem Zusammenhang Urteil des BFH II 38/62 U vom 30. Juni 1965, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 83 S. 36 - BFH 83, 36 -, BStBl III 1965, 514). Die Auffassung, daß § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO - von der Zustimmung des Steuerpflichtigen abgesehen - nur dann eingreife, wenn das FA über den materiellen Steueranspruch selbst im Sinne des Steuerpflichtigen befinde, würde unter diesen Umständen bedeuten, daß das FA sogar offenbar begründeten Rechtsbehelfen nicht gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO abhelfen dürfte, wenn diese wegen unheilbarer Verfahrensverstöße begründet sind. § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO erfordert aber insoweit nur, daß einem Antrag des Steuerpflichtigen - ohne Bindung an die Wortfassung seines Antrags (vgl. in anderem Zusammenhang jetzt § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO) - "der Sache nach" entsprochen wird; er verlangt nicht eine den Vorstellungen des Steuerpflichtigen über die Höhe der Steuerschuld entsprechende Entscheidung "in der Sache selbst".

Die von dem Kläger aufgeworfene Rechtsfrage ist zwar grundsätzlicher Art. Sie läßt aber nach der Auffassung des erkennenden Senats nur eine Antwort zu. Der Senat konnte daher der Anregung des Klägers nicht entsprechen, hierüber gemäß § 11 Abs. 4 FGO eine Entscheidung des Großen Senats herbeizuführen, da weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dies fordern.

Des weiteren hebt der Kläger darauf ab, daß dem Steuerpflichtigen nicht die einzelnen Behörden der Finanzverwaltung (stationes fisci), sondern der Steuerfiskus als Einheit gegenüberstehe. Daraus folgert er, daß auch die OFD die in dem Bescheid vom 8. Dezember 1958 enthaltene Erklärung gegen sich gelten lassen müsse, zumal sie auf deren Veranlassung abgegeben worden sei. Indessen enthielt dieser Bescheid - wie eben dargestellt worden ist - nicht mehr als das Anerkenntnis, daß der Steuerbescheid vom 10. Juli 1958 unzulässig war, und dem entsprechend die Rücknahme dieses Steuerbescheids. Er hat also dem Kläger keine neue materielle Rechtsposition verschafft. Unbefriedigend an dem weiteren Verfahren ist nicht, wie der Kläger meint, daß dem Bescheid vom 8. Dezember 1958 "schon" am 11. Dezember 1958 ein auf § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO gestützter Bescheid nachfolgte, der die mit dem aufgehobenen änderungsbescheid vom 10. Juli 1958 erstrebte Berichtigung im Ergebnis wiederherstellte. Viel eher möchte bedenklich erscheinen, daß diese Berichtigung erst drei Tage hernach erfolgt, so daß der Kläger zwischenzeitlich der Ansicht sein konnte, die Finanzverwaltung wolle endgültig von einer Nachforderung absehen. Jedoch kann dahingestellt bleiben, ob es zulässig und angebracht gewesen wäre, in ein und demselben Bescheid die gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO verfügte änderung aufzuheben und zugleich gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO zu berichtigen. Denn jedenfalls hat der Kläger auf Grund des Bescheids vom 8. Dezember 1958 keine Vermögensdispositionen getroffen, welche nach Treu und Glauben dem Erlaß des Bescheids vom 11. Dezember 1958 entgegenstehen könnten. Dem Kläger ist kein weiterer Schaden entstanden als der, daß er die von vornherein geschuldete Steuer zu bezahlen hat.

Die begriffliche "Einheit des Steuergläubigers" ist nicht geeignet, die innere Spannung zwischen den Vorschriften in § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO und in § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO zu lösen. Denn die "Einheit des Steuergläubigers" würde für sich allein bedeuten, daß der Steueranspruch - materiell und formell gesehen - entweder gegeben oder nicht gegeben ist, unabhängig davon, welche Instanz der Finanzverwaltung die Mehrforderung feststellt. Auf dieser Grundlage würde sich aber für die Erbschaftsteuer (Schenkungsteuer) aus § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO ergeben, daß der (einheitlich gedachte) Steuergläubiger berechtigt ist, fehlerhafte Bescheide zum Nachteil des Steuerpflichtigen zu berichtigen, solange die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist.

Entgegen dieser Betrachtung trennt jedoch § 222 Absatz 1 AO zwischen den Befugnissen, die dem FA aus eigenem Recht zustehen (Nr. 1 und Nr. 2 a. a. O.), und denen, die eine Fehleraufdeckung durch die Aufsichtsbehörde voraussetzen (Nr. 3 und Nr. 4 a. a. O.). Diese Unterscheidung trifft nach geltendem Recht nicht nur eine dienstrechtliche Regelung innerhalb der Finanzverwaltung; vielmehr kann sich der Steuerpflichtige bei einer allein vom FA veranlaßten Nachforderung auch dann darauf berufen, daß der Erstveranlagung gegenüber neue Tatsachen oder Beweismittel nicht vorlägen (§ 222 Abs. 1 Nr. 1 AO), wenn diese Rüge bei einer von der Aufsichtsbehörde veranlaßten Nachforderung versagen müßte (§ 222 Abs. 1 Nr. 3 AO). Die Abgrenzung zwischen den Berichtigungsmöglichkeiten des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO und des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO sowie deren Verhältnis zu § 223 AO läßt sich daher nur den positiven Vorschriften des § 222 AO selbst entnehmen.

§ 222 AO schließt für die Erbschaftsteuer die Nachforderung nach § 223 AO aus. Ein Erbschaftsteuerbescheid kann jedoch nach § 222 Abs. 1 AO in zwei Fällen zuungunsten des Steuerpflichtigen geändert werden, sofern die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist: zum einen kann das FA den Bescheid ändern, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen (§ 222 Abs. 1 Nr. 1 AO), zum anderen, wenn bei einer Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine höhere Veranlagung rechtfertigt (§ 222 Abs. 1 Nr. 3 AO). Aus dieser Gegenüberstellung ergibt sich, daß ein zur Erbschaftsteuer ergangener Bescheid zwar das FA selbst bindet, sofern ihm nicht neue Tatsachen oder Beweismittel bekanntgeworden sind, daß aber die Aufsichtsbehörde durch einen unanfechtbaren Bescheid nicht gehindert wird, Mängel der Veranlagung bis zum Ablauf der Verjährungsfrist zu rügen. Der unanfechtbar gewordene Bescheid entfaltet Bestandskraft also nur dem FA selbst gegenüber, hindert aber nicht die Berichtigung des Fehlers, wenn er von der Aufsichtsbehörde aufgedeckt wird. Vielmehr kann das FA die Aufsichtsbehörde grundsätzlich nicht binden. Daher unterliegen auch Einspruchsentscheidungen des FA der Fehleraufdeckung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO (BFH-Urteil II 195/56 U vom 18. September 1957, BFH 65, 495, BStBl III 1957, 423). Anders ist es erst dann, wenn die Veranlagung des FA durch eine gerichtliche Entscheidung bestätigt worden ist (vgl. BFH- Urteil II 97/55 U vom 18. Mai 1955, BFH 61, 27, BStBl III 1955, 208) und das Gericht zur Sache selbst erkannt hat (BFH-Urteil II 38/62 U vom 30. Juni 1965, BFH 83, 36, BStBl III 1965, 514).

Demgegenüber kann sich freilich der Kläger auf das Urteil des III. Senats des BFH III 209/62 vom 19. Juli 1963 (HFR 1964 S. 27) berufen. In dieser Sache hatte der BFH im zweiten Rechtsgang über den Steuerfall zu entscheiden, der bereits Anlaß zu dem Urteil III 281/58 U vom 29. April 1960 (BFH 71, 134, BStBl III 1960, 298) gegeben hatte. In dem letztgenannten Urteil hatte der BFH es für unzulässig erachtet, im Rechtsmittelverfahren gegen einen auf § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützten Bescheid den Berichtigungsgrund des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO nachzuschieben; da die Voraussetzungen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht gegeben waren, hat er das den änderungsbescheid aufhebende Urteil des Finanzgerichts (FG) bestätigt. Daraufhin hat das FA erneut nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO berichtigt; der BFH hat das in dem Urteil III 209/62 vom 19. Juli 1963 (HFR 1964 S. 27) für unzulässig erklärt. Er hat sich dabei auf den in dem BFH-Urteil III 95/59 U vom 22. Juli 1960 (BFH 71, 741, BStBl III 1960, 524) ausgedrückten Grundgedanken berufen, daß es nicht nur dem Grundsatz der Prozeßökonomie, sondern auch dem Grundsatz der Rechtssicherheit sowie dem Gebot von Treu und Glauben gegenüber dem Steuerpflichtigen widerspräche, wenn die Finanzbehörde in der Lage wäre, in demselben Berichtigungsfalle nach zwei Vorschriften zu verfahren.

Diesem Standpunkt kann der erkennende Senat nicht folgen; der III. Senat hat ihn bereits mit dem Urteil III 203/61 U vom 26. November 1964 (BFH 81, 344, BStBl III 1965, 124) aufgegeben. Die Anrufung des Großen Senats nach § 11 Abs. 3 FGO ist deshalb und im Hinblick auf § 184 Abs. 2 Nr. 5 FGO ausgeschlossen; eine Anrufung nach § 11 Abs. 4 FGO scheidet aus den gleichen Gründen wie zu der zuvor erörterten Rechtsfrage aus, zumal kraft der Schranken des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO regelmäßig nur der II. und der III. Senat mit der Frage befaßt werden können, unter welchen Voraussetzungen eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO zulässig ist.

Das BFH-Urteil III 95/59 U vom 22. Juli 1960 (BFH 71, 741, BStBl III 1960, 524), auf das das BFH-Urteil III 209/62 vom 19. Juli 1963 (HFR 1964 S. 27) im wesentlichen Bezug nimmt, beruft sich - mit gewissen Einschränkungen, über die hier nicht zu befinden ist - auf den Grundsatz, daß es der Verwaltung nicht gestattet ist, in die Rechtskraft finanzgerichtlicher Urteile einzugreifen. Die Richtigkeit dieses Satzes ist unbestreitbar; auch muß entsprechend dem BFH-Urteil I 54/64 S vom 16. März 1965 (BFH 82, 387, BStBl III 1965, 388) davon ausgegangen werden, daß darüber hinaus das FA selbst an die Auffassung gebunden bleibt, die es nach Prüfung des Streitfalls auf einen Rechtsbehelf des Steuerpflichtigen hin zu dessen Gunsten in einer Einspruchsentscheidung oder einem Abhilfebescheid gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO geäußert hat. Voraussetzung dafür ist aber, daß in dem vorangegangenen Verfahren bereits zur Sache entschieden worden ist (vgl. BFH-Urteil II 38/62 U vom 30. Juni 1965, BFH 83, 36; BStBl III 1965, 514). Beschränkt sich die Entscheidung auf das Verfahrensrecht, so kann sie für das materielle Recht nicht binden; selbst Urteile schaffen Rechtskraft nur insoweit, als über den Streitgegenstand entschieden worden ist (vgl. § 110 Abs. 1 Satz 1 FGO, § 322 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO-). Da der änderungsbescheid vom 10. Juli 1958 ohne materielle Prüfung als unzulässig zurückgenommen worden ist und es dem FA nach dem BFH-Urteil III 281/58 U vom 29. April 1960 (BFH 71, 134, BStBl III 1960, 298) versagt war, die bereits vorliegende Rüge der Aufsichtsbehörde zur Heilung des Verfahrensmangels in das Einspruchsverfahren einzuführen, kann eine materielle Bindung des FA weder aus Gründen der Prozeßökonomie abgeleitet noch aus Gründen der Rechtssicherheit oder aus dem Gebot von Treu und Glauben gefordert werden. Denn andernfalls würde der fehlgeschlagene Versuch, einen Rechtsfehler auf Grund vermeintlich neuer Tatsachen gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zu bereinigen, die nicht zuletzt im Interesse der materiellen Steuergerechtigkeit gegebene Möglichkeit einer Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO verbrauchen. Das widerspräche aber, sofern der Berichtigungsgrund des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO im ersten änderungsverfahren nicht geltend gemacht werden konnte (vgl. dazu BFH- Urteil III 43/63 S vom 6. August 1965, BFH 83, 349, BStBl III 1965, 626), dem soeben dargestellten Verhältnis zwischen den Befugnissen des FA und denen der Aufsichtsbehörde, die dazu berufen ist, die Geschäftsführung des FA zu überwachen und die Berichtigung der bei ihrer Nachprüfung aufgedeckten Fehler zu veranlassen.

Diese Rechtslage bedeutet für den Steuerpflichtigen, daß er zwar - vorbehaltlich neuer Tatsachen oder Beweismittel - sich dem FA gegenüber auf die Bestandskraft unanfechtbarer Bescheide berufen kann, daß dieser Schutz aber grundsätzlich versagt, wenn die Aufsichtsbehörde einen Fehler der Veranlagung aufgedeckt hat und das FA demzufolge zur Berichtigung gezwungen ist. Daher ist - unbeschadet der in dem BFH-Urteil I 54/64 S vom 16. März 1965 (BFH 82, 387, BStBl III 1965, 388) angestellten Erwägungen - die Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil der geänderte Bescheid seinerseits § 94 AO in Bezug genommen hatte. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob es beim Ersetzen eines angefochtenen vorläufigen Bescheids durch einen endgültigen Bescheid dieser Bezugnahme überhaupt bedurfte. Jedenfalls konnte, wie bereits ausgeführt worden ist, das FA die Befugnis der OFD, die Berichtigung aufgedeckter Fehler zu verlangen, nicht beschneiden; ein Fall, in dem gleichwohl nach Treu und Glauben die Nachforderung ausgeschlossen wäre, liegt nicht vor.

Unerheblich ist dabei, auf welche Weise die Aufsichtsbehörde zur Nachprüfung veranlaßt wird und ob der aufgedeckte Fehler bereits zuvor bekannt war (vgl. Entscheidungen des RFH II A 45/21 vom 4. Februar 1921, Sammlung der Entscheidungen des Reichsfinanzhofs Bd. 4 S. 308 - RFH 4, 308 -; V C 6/22 vom 28. November 1922, RFH 11, 183 (184); V e A 454/26 vom 22. Oktober 1926, RFH 19, 328 (330); I e 830/29 vom 25. März 1930, Steuer und Wirtschaft - StuW - 1930 Nr. 697; Becker, Reichsabgabenordnung, 7. Aufl. § 212 Anm, 10; Berger, Die Reichsabgabenordnung nach ihren Schwerpunkten für die Praxis, 00.95; Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 222 Tz. 13 c; Mattern- Messmer, Reichsabgabenordnung, Tz. 1737; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, § 222 Tz. 33; Vogel, Die Berichtigungsveranlagung, Heft 41 des Rechts- und Steuerdienstes S. 57). Andernfalls könnte der Steuerpflichtige die Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO dadurch verhindern, daß er seinerseits den Fehler aufdeckt. Eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO kann somit auch dadurch eingeleitet werden, daß das FA der OFD die Akten zur Aufdeckung der Fehler vorlegt (BFH-Urteil III 89/64 U vom 15. Oktober 1964 (zu IV), BFH 81, 291, BStBl III 1965, 104).

Ist demnach die Aufdeckung eines Fehlers nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO selbst auf Vorlage des FA zulässig und ist auch die Berichtigung von Einspruchsentscheidungen möglich, so kann die Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO nicht dann ausgeschlossen sein, wenn der Fehler während eines laufenden Einspruchsverfahrens aufgedeckt wird. In einem solchen Fall ist es zwar nach dem BFH- Urteil III 281/58 U vom 29. April 1960 (BFH 71, 134, BStBl III 1960, 298) unzulässig, die Entscheidung über den Einspruch gegen einen nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO erlassenen änderungsbescheid erstmals auf § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO zu stützen. Das FA ist aber jedenfalls befugt, einen - wirklich oder vermeintlich - nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO unzulässigen änderungsbescheid gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO zurückzunehmen und dadurch den Weg für eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO freizumachen (BFH-Urteil III 203/61 U vom 26. November 1964, BFH 81, 344, BStBl III 1965, 124). Die Rücknahme hätte zwar das FA in der Beurteilung der Verfahrensfrage für spätere Verfahren nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gebunden (vgl. BFH-Urteil I 54/64 S vom 16. März 1965, BFH 82, 387, BStBl III 1965, 388); sie hindert aber weder die Aufdeckung eines bereits zuvor gemachten Fehlers noch dessen Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO.

Demnach war die Revision mit der Kostenfolge des § 135 Abs. 2 FGO als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412310

BStBl III 1967, 34

BFHE 1967, 43

BFHE 87, 43

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