Leitsatz (amtlich)

Die Revisionsbegründungsfrist beträgt einen Monat. Sie beginnt im Regelfall mit dem Ablauf der Revisionsfrist.

 

Normenkette

FGO § 120 Abs. 1 S. 1

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger gab trotz wiederholter Aufforderungen für das Streitjahr 1965 keine Steuererklärungen ab. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das FA) schätzte daher die Besteuerungsgrundlagen. Der Einspruch gegen den Steuerbescheid, den der Kläger nicht begründete, blieb ohne Erfolg. Der Kläger erhob Klage. In der Klageschrift führte er aus, angefochten werde die in Ablichtung beigefügte Einspruchsentscheidung vom 8. Mai 1968. Der Vorsitzende des Senats des FG forderte den Prozeßbevollmächtigten des Klägers mit Verfügung vom 15. Januar 1969 auf, die Klagebegründung bis 20. Februar 1969 einzureichen. Am 5. Mai 1969 erging unter Hinweis auf § 65 Abs. 2 FGO eine erneute Aufforderung des Vorsitzenden an den Prozeßbevollmächtigten des Klägers, die Klagebegründung nunmehr bis 10. Juni 1969 einzureichen. Durch weitere Verfügung vom 31. März 1970 forderte der Vorsitzende den Prozeßbevollmächtigten nach § 65 Abs. 2 FGO "letztmalig" auf, die Klage bis 15. Mai 1970 zu ergänzen. Mit Schriftsatz vom 14. Mai 1970 bezeichnete der Prozeßbevollmächtigte des Klägers den Streitgegenstand wie folgt: "Streitgegenstand ist die Höhe der Einkommensteuer 1965." Am 7. Juli 1970, einen Tag vor der mündlichen Verhandlung, ging der Schriftsatz des Klägers vom 6. Juli 1970 ein. Mit diesem Schriftsatz beantragte der Kläger, den angefochtenen Bescheid und die Einspruchsentscheidung zu ändern und die Steuer auf einen bestimmten Betrag festzusetzen. Zur Begründung dieses Antrags schätzte der Kläger die Besteuerungsgrundlagen auf andere Beträge als das FA.

Das FG hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klage sei unzulässig, weil der Streitgegenstand nicht bezeichnet worden sei und der Kläger diesen Mangel der Klageschrift nicht bis zum Ablauf der vom Vorsitzenden des Senats gestellten Fristen behoben habe. Die Klage sei auch unbegründet, weil das Vorbringen des Klägers im Schriftsatz vom 6. Juli 1970 die Schätzungen des FA nicht erschüttern könnte.

Gegen dieses Urteil, das dem Kläger zu Händen seines Prozeßbevollmächtigten laut Postzustellungsurkunde am 7. Oktober 1970 zugestellt wurde, legte der Kläger am 10. November 1970 Revision ein. Die Revisionsbegründung ging am 8. Dezember 1970 ein.

Am 9. Dezember 1970 beantragte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsfrist die am 9. November 1970 (Montag) endete.

In der Sache selbst rügt der Kläger, das FG habe die Vorschriften der §§ 65, 76, 155 FGO, Art. 103 GG verletzt.

Der Kläger beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist zulässig und begründet.

1. Wegen Versäumung der Revisionsfrist ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 56 FGO). Der Kläger hat die Revisionsfrist versäumt, weil der Briefumschlag, der die Revisionsschrift enthielt, an den BFH gerichtet war. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat dies, wie es seine Pflicht war, beanstandet und seine Angestellte beauftragt, die Anschrift zu berichtigen. Daß diese Berichtigung dennoch unterblieben ist, ist auf ein Versehen der sonst zuverlässigen Angestellten zurückzuführen. Man kann nicht verlangen, daß der Prozeßbevollmächtigte sich nochmals davon überzeugen mußte, daß die Berichtigung durchgeführt wurde.

2. Der Kläger hat die Revisionsbegründungsfrist nicht versäumt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Urteil des FG dem Kläger am 7. Oktober 1970 oder, wie er behauptet, am 8. Oktober 1970 zugestellt wurde. Denn die Revisionsbegründungsfrist endete frühestens am 9. Dezember 1970.

Die Revision ist binnen eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils einzulegen (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Revisionsfrist endete daher im Streitfall am Montag, dem 9. November 1970 (§ 54 FGO, § 222 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB). Die Revision ist "innerhalb eines weiteren Monats" zu begründen (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der BFH hat diese Vorschrift bisher im Anschluß an seinen Beschluß VI R 201/66 vom 20. September 1966 (BFH 86, 813, BStBl III 1967, 4) so ausgelegt, daß die Frist zur Begründung der Revision zwei Monate nach der Zustellung des Urteils des FG ende. Der VI. Senat des BFH hatte sich damit der früheren Auffassung des BVerwG angeschlossen. Inzwischen hat das BVerwG seine Rechtsprechung geändert. Der Große Senat des BVerwG hat durch Beschluß Gr. S. 1/69 vom 30. November 1970 (HFR 1971, 172; Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bd. 36 S. 340) entschieden, die Revisionsbegründungsfrist sei eine Einmonatsfrist, die sich an die Frist zur Einlegung der Revision anschließe. Der III. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat sich unzwischen durch Teilurteil 3 RK 73/68 vom 16. März 1972 dieser Auffassung angeschlossen und ist damit von der früheren Rechtsprechung des BSG abgewichen. Die übrigen Senate des BSG haben dem III. Senat des BSG auf Anfrage mitgeteilt, daß auch sie an der früheren Rechtsprechung nicht festhielten.

Der erkennende Senat folgt der neueren Rechtsprechung des BVerwG und des BSG. Die übrigen Senate des BFH haben auf Anfrage der Abweichung von der früheren Rechtsprechung des BFH zugestimmt. Die Revisionsbegründungsfrist begann daher im Streitfall mit dem Ablauf des 9. November 1970 (Beginn des 10. November 1970) und endete mit dem Ablauf des 9. Dezember 1970 (§ 54 FGO, § 222 ZPO, § 187 Abs. 2, § 188 Abs. 2 BGB).

Der Senat braucht nicht die weitere Frage zu entscheiden, ob im Fall der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsfrist der Lauf der Revisionsbegründungsfrist mit Zustellung des die Wiedereinsetzung gewährenden Beschlusses (BVerwG-Beschluß Gr. S. 1/69, a. a. O.) oder mit der Einlegung der nachgeholten Revision (BSG-Urteil 11/8 RV 1301/56 vom 29. Oktober 1958, Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bd. 8 S. 207) oder mit dem Ablauf der Revisionsfrist (BFH-Urteil VII R 108/69 vom 7. Dezember 1971, BFH 104, 184, BStBl II 1972, 224) beginnt. Denn in keinem Fall endete im Streitfall die Revisionsbegründungsfrist vor Mittwoch, dem 9. Dezember 1970. Die Revisionsbegründung ging, wie eingangs erwähnt, am 8. Dezember 1970 ein.

3. Die Revision ist auch begründet. Der Kläger hat jedenfalls im Schriftsatz vom 6. Juli 1970 an das FG den Streitgegenstand ausreichend bezeichnet (vgl. dazu BFH-Urteile III R 79/67 vom 8. Oktober 1971, BFH 103, 400, BStBl II 1972, 59; II R 37/70 vom 24. September 1970, BFH 100, 429, BStBl II 1971, 112). Entgegen der Ansicht des FG war der Kläger durch den Ablauf der ihm vom Vorsitzenden des Senats des FG gesetzten Fristen rechtlich nicht gehindert, die Bezeichnung des Streitgegenstandes nachzuholen. Denn die Frist des § 65 Abs. 2 FGO ist keine Ausschlußfrist (BFH-Urteil IV R 173, 174/70 vom 15. April 1971, BFH 104, 309, BStBl II 1972, 348).

4. Die Bezeichnung des Streitgegenstandes im Schriftsatz vom 6. Juli 1970 verlor auch nicht dadurch ihre Wirksamkeit, daß das FG in seinem Urteil das Vorbringen des Klägers in diesem Schriftsatz nach § 155 FGO, § 279 ZPO als verspätet zurückgewiesen hat. Denn § 279 Abs. 1 ZPO ist im finanzgerichtlichen Verfahren nicht sinngemäß anzuwenden (BFH-Urteil IV R 235/68 vom 5. März 1970, BFH 98, 528, BStBl II 1970, 496).

5. Das FG hat die Klage für unzulässig und vorsorglich für unbegründet erklärt. Der Senat braucht nicht zu prüfen, ob diese Entscheidung verfahrensrechtlich möglich ist. Denn die tatsächlichen Feststellungen des FG reichen nicht aus, um die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheids nachzuprüfen. Die Sache geht daher zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.

 

Fundstellen

Haufe-Index 413294

BStBl II 1972, 957

BFHE 1972, 483

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