Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachversteuerung nach materiell-vorläufiger Freistellung

 

Leitsatz (NV)

1. Ein Freistellungsbescheid (materiell-vorläufige Freistellung) äußert Tatbestandswirkung dahin, daß sowohl die Entstehung der GrESt als auch die Überprüfung der Voraussetzungen für eine materiell-endgültige Befreiung hinausgeschoben werden, und zwar auch für den Fall, daß die materiell-vorläufige Freistellung fehlerhaft sein sollte.

2. Das hat zur Folge, daß das FA während der Überwachungsfrist ohne jede Einschränkung die Frage prüfen darf und muß, ob die Voraussetzungen für eine materiell-endgültige Steuerbefreiung erfüllt wurden.

3. Zum einheitlichen Erwerbsgeschäft.

 

Normenkette

GrEStG Berlin § 6 Abs. 1 Nr. 9; GrEStG Berlin § 9 Abs. 3

 

Verfahrensgang

FG Berlin

 

Tatbestand

Mit notariell beurkundetem Vertrag vom 30. April 1979 erwarben die Kl. von der . . . zu gleichen Anteilen ein Grundstück. Der Kaufpreis ist in der Urkunde mit . . . DM angegeben. Am gleichen Tag schlossen die Kl. mit der . . . einen notariell beurkundeten Architektenvertrag über die Errichtung eines Einfamilienhauses. Diesem Vertrag waren als Anlagen ein Baubetreuungsvertrag und die Baubeschreibung - beide ebenfalls vom 30. April 1979 - beigefügt. Als Baukosten einschließlich aller Baunebenkosten vereinbarten die Vertragsparteien die Zahlung eines Betrags von . . . DM, der grundsätzlich nicht überstiegen werden durfte. Sowohl im Kaufvertrag als auch im Architektenvertrag behielten sich die Kl. ein Rücktrittsrecht vor. Im Architektenvertrag wurde außerdem vereinbart, daß die . . . bei Kündigung dieses Vertrages vom Grundstückskaufvertrag zurücktreten könne.

Den Kaufvertrag, den Architektenvertrag mit Anlagen sowie den Antrag der Kl. auf Befreiung von der GrESt gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 9 GrEStG Berlin legte der Notar mit Anschreiben vom 8. Mai 1979 dem FA vor. Dieses entsprach dem Befreiungsantrag der Kl. und nahm den Erwerbsvorgang mit Verfügung vom 7. Juni 1979 (zunächst) entsprechend von der GrESt aus. Es erteilte darüber einen Freistellungsbescheid, in dem es heißt: ,,Auf Ihren o. a. Antrag wird festgestellt, daß der oben genannte Erwerb von der Besteuerung ausgenommen ist." Wegen einer etwaigen Nacherhebung der GrESt wurde auf die in dem Antragsformular enthaltene Erklärung der Kl. verwiesen.

Nachdem bei der . . . anläßlich einer Außenprüfung in der Zeit vom 3. März bis zum 8. Mai 1980 u. a. festgestellt worden war, daß dieser Gesellschaft bereits am 19. April 1979 die Baugenehmigung für das Bauvorhaben auf dem Grundstück erteilt worden war und die Kl. am 29. April 1979 einen Maklervertrag über den Erwerb des Grundstücks mit der gleichzeitigen Auftragserteilung zu dessen Bebauung durch die . . . abgeschlossen hatten, setzte das FA gegen die Kl. GrESt fest. Dabei ging es von einer Gesamtgegenleistung von . . . DM (Grundstückskaufpreis + Baukosten) aus und gewährte insgesamt einen Freibetrag von 250 000 DM nach § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 2 GrEStEigWoG.

Der Einspruch blieb erfolglos. Der Klage, mit der die Kl. die Aufhebung der jeweiligen GrESt-Festsetzung mit der Begründung begehrten, die Voraussetzungen zur Änderung des Freistellungsbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 hätten nicht vorgelegen, hat das FG stattgegeben.

Mit der Revision begehrt das FA, die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Abweisung der Klage.

1. Mit dem FG ist davon auszugehen, daß im vorliegenden Fall ein Freistellungsbescheid erteilt wurde. Dieser war materiell vorläufig und äußerte Tatbestandswirkung dahingehend, daß sowohl die Entstehung der GrESt als auch die Überprüfung der Voraussetzungen für eine materiell endgültige Befreiung hinausgeschoben wurden, und zwar auch für den Fall, daß die materiell vorläufige Freistellung fehlerhaft sein sollte (vgl. das Urteil des Senats vom 4. Mai 1983 II R 6/82, BFHE 138, 480, BStBl II 1983, 609). Das hatte zur Folge, daß das FA während der Überwachungsfrist ohne jede Einschränkung die Frage prüfen durfte und mußte, ob die Voraussetzungen für eine materiell endgültige Steuerbefreiung erfüllt wurden, ihm also durch den materiell vorläufigen Freistellungsbescheid nicht die Prüfung der Frage verwehrt wurde, ob die beabsichtigte Bebauung entgegen der Auffassung der Erwerber noch dem Grundstücksveräußerer zuzurechnen war.

Zwar gilt im Besteuerungsverfahren der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 88 AO 1977), doch galt dieser, wie sich aus § 9 Abs. 3 GrEStG Berlin schließen läßt, nicht für die Fälle der materiell vorläufigen Befreiung nach § 6 Abs. 1 Nr. 9 GrEStG Berlin, denn diese Befreiung setzte nicht nur voraus, daß ein Grundstück mit der Absicht planungsgemäßer Bebauung erworben wurde, sondern erforderte weiter, daß der Erwerber diesen Zweck selbst erfüllte. Aus § 9 Abs. 3 GrEStG Berlin folgte, wie der Senat bereits in der Entscheidung vom 13. Februar 1985 II R 74/82 (BFHE 143, 163, BStBl II 1985, 374) ausgeführt hat, daß die Ermittlungspflicht bis zum Abschluß der Bebauung in ähnlicher Weise hinausgeschoben worden ist, wie in den Fällen der §§ 164, 165 AO 1977.

Unter diesen Umständen war dem Freistellungsbescheid nicht zu entnehmen, daß das FA bereits abschließend darüber entschieden hätte, daß durch die beabsichtigte Durchführung der Bebauung die Voraussetzungen für die materiell endgültige Steuerbefreiung erfüllt werden könnten. Eine endgültige Prüfung konnte auch angesichts des Umstands nicht gefordert werden, daß die Steuerpflichtigen nach dem Erwerb eine alsbaldige Entscheidung erwarten, damit die zur Umschreibung des Grundstücks im Grundbuch erforderliche Unbedenklichkeitsbescheinigung erteilt werden kann. Das gilt auch dann, wenn zwar die dafür wesentlichen vertraglichen Vereinbarungen mit dem Kaufvertrag vorgelegt werden; denn im (materiell) vorläufigen Befreiungsverfahren ist die Ermittlungspflicht der Finanzbehörde im Interesse der Steuerpflichtigen nicht in der Weise umfassend ausgestaltet, daß umfangreiche Vertragswerke darauf zu überprüfen sind, ob Bedenken dagegen bestehen könnten, daß der Erwerber - entgegen seiner Versicherung - nicht selbst das Grundstück bebauen werde. Hinzu kommt, daß bei der Beurteilung dieser Frage auch dem tatsächlichen Ablauf der Ingangsetzung und Durchführung der Baumaßnahme eine Rolle zukommt. Entgegen der Auffassung des FG war das FA weder daran gehindert, die abschließende Prüfung aufzuschieben, noch war es an dieser im Hinblick auf den erteilten materiell vorläufigen Freistellungsbescheid (insbesondere durch § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977) gehindert.

2. Die Sache ist spruchreif. Nach den Feststellungen des FG waren die bezüglich des Grundstücks und dessen Bebauung getroffenen Vereinbarungen derart untereinander verzahnt, daß sie sich als ein dem Gegenstand nach einheitliches Erwerbsgeschäft erweisen, dessen Gegenstand nicht nur ein Grundstück in dem Zustand war, in dem es sich im Zeitpunkt des Abschlusses des Grundstückskaufvertrages befand, sondern ein Grundstück mit fertiggestelltem Bauvorhaben. Denn die formale Trennung in Kaufvertrag und Architektenvertrag ist schon durch das Rücktrittsrecht der . . . vom Kaufvertrag für den Fall der Kündigung des Architektenvertrages wieder aufgehoben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414744

BFH/NV 1987, 737

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