Entscheidungsstichwort (Thema)

Doppelbesteuerungsabkommen Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Der Progressionsvorbehalt im DBA-Kanada ermächtigt nicht die Bundesrepublik Deutschland, eine gesetzliche Vorschrift zu schaffen, daß bei der Ermittlung des Steuersatzes für das zur Besteuerung verbleibende Einkommen die von der inländischen Steuer befreiten ausländischen Einkünfte wieder hinzuzurechnen sind; er stellt vielmehr diese Vorschrift selbst dar.

 

Normenkette

DBA CAN Art. 16; EStG §§ 32, 32a; OECD-MA Allgemein; OECD-MA 23A; OECD-MA 23B; DBA CAN Art. 2 Abs. 2; EStG § 32 Abs. 1, § 32a/1; OECD-MA 23A/3; OECD-MA 23B/2

 

Tatbestand

Der Revisionskläger (Steuerpflichtige - Stpfl. -) ist unbeschränkt steuerpflichtig. Er erzielte im Streitjahr 1960 einen Teil seiner Einkünfte aus selbständiger Arbeit in Kanada. Diese wurden gemäß Art. XI des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung bei den Steuern vom Einkommen vom 4. Juni 1956 - DBA-Kanada - (BGBl II 1957, 188, BStBl I 1957, 254) in Kanada der Einkommensteuer (Income Tax) unterworfen. Der Revisionsbeklagte (Finanzamt - FA -) ließ diese Einkünfte bei der Veranlagung zur Einkommensteuer für das Streitjahr bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens außer Ansatz, setzte dann aber die Steuer für das verbleibende Einkommen unter Berufung auf Art. XVI Abs. 2 Satz 2 DBA-Kanada nach dem Satz fest, der sich ergibt, wenn die nach dem DBA-Kanada steuerfreien Einkünfte zu dem zu versteuernden Einkommensbetrag wieder hinzugerechnet werden.

Die Sprungberufung blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG), dessen Entscheidung in "Entscheidungen der Finanzgerichte" (EFG) 1965 S. 228 veröffentlicht ist, hat ausgeführt, der Umfang der Steuerbefreiung nach einem Doppelbesteuerungsabkommen richte sich ausschließlich nach dem Inhalt der vertraglichen Vereinbarung. Wenn nach dem DBA-Kanada die Einkünfte aus Quellen innerhalb Kanadas, die nach kanadischem Recht und nach dem Abkommen nicht von der kanadischen Steuer befreit seien, von der Bemessungsgrundlage auszunehmen seien, so bedeute dies nur, daß von diesen Einkünften keine Steuer zu erheben sei. Es bedeute aber nicht, daß sie bei der Ermittlung des Einkommens für die Berechnung des Steuersatzes nach der Steuertabelle nicht berücksichtigt werden dürften. Der Progressionsvorbehalt im DBA-Kanada habe zur Folge, daß insoweit die innerstaatlichen Rechtssätze der Bundesrepublik Deutschland für die Besteuerung anwendbar blieben, ohne daß es dazu einer besonderen gesetzlichen Regelung bedürfe. Die bereits bestehende gesetzliche Grundlage für die Durchführung des Progressionsvorbehalts sei in §§ 1 Abs. 1 Satz 2, 25, 32, 32 a EStG zu erblicken.

Dagegen richtet sich die Rb. (Revision) des Stpfl. Der Stpfl. ist der Meinung, nach § 32 a EStG sei die Einkommensteuertabelle auf den zu versteuernden Einkommensbetrag anzuwenden. Bei der Ermittlung dieses Betrags seien aber die Einkünfte, die nach dem DBA-Kanada steuerfrei bleiben, wegzulassen. Daher bedürfe es einer besonderen gesetzlichen Vorschrift, die eine Anwendung des Progressionsvorbehalts gestatte. Eine derartige Vorschrift fehle im deutschen Einkommensteuerrecht. Durch das DBA-Kanada könne die inländische Steuerpflicht nicht erweitert werden.

Der Bundesminister der Finanzen ist dem Verfahren beigetreten und hat sich zu der streitigen Rechtsfrage wie folgt geäußert:

Bei einem unbeschränkt Steuerpflichtigen unterliege der Steuer das Welteinkommen des Steuerpflichtigen und auf dieses sei der volle Steuertarif anzuwenden. Die Freistellungsmethode wolle ebenso wie die Anrechnungsmethode nur die doppelte Besteuerung der betroffenen ausländischen Einkünfte vermeiden, nicht aber darüber hinaus noch den Steuersatz für die nicht betroffenen inländischen (und ggf. aus anderen Staaten stammenden) Einkünfte senken. Denn dies gehe über die Vermeidung der Doppelbesteuerung hinaus und würde eine durch den Abkommenszweck nicht gedeckte Vergünstigung gewähren, die dem Grundsatz der steuerlichen Gleichbehandlung zuwiderlaufe. Die Freistellungsmethode bedeute nur den Verzicht auf die anteilige deutsche Steuer von den ausländischen Einkünften, nicht aber auch die Senkung der deutschen Steuer von den inländischen Einkünften. Durch den Progressionsvorbehalt im DBA-Kanada werde dies lediglich klargestellt. Da nach § 9 StAnpG und § 3 Ziff. 41 EStG die Steuerbefreiung auf Grund eines Doppelbesteuerungsabkommens nur soweit reiche, wie es das Abkommen bestimme, das DBA-Kanada aber die volle Progression nicht ausschließe, bleibe dies bei der Festsetzung des deutschen Steuersatzes für die nach dem Abkommen nicht von der Steuer befreiten Einkünfte erhalten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Der Progressionsvorbehalt im DBA-Kanada bedarf zu seiner Durchführung keiner innerstaatlichen gesetzlichen Vorschrift.

Richtig ist zwar, daß sich die Anwendung des Steuersatzes, der sich bei der Einbeziehung der von der inländischen Steuer befreiten ausländischen Einkünfte ergibt, aus dem deutschen EStG allein nicht ableiten läßt.

Nach § 32 a Abs. 1 EStG ergibt sich die zu veranlagende Einkommensteuer bei unbeschränkt steuerpflichtigen Personen aus der dem Gesetz beigefügten Einkommensteuertabelle. Diese enthält die Spalte "zu versteuernder Einkommensbetrag" und daneben die Spalte "Einkommensteuer". Der zu versteuernde Einkommensbetrag ist nach § 32 Abs. 1 EStG das um bestimmte Freibeträge und um die sonstigen vom Einkommen abzuziehenden Beträge verminderte Einkommen. Einkommen ist der Gesamtbetrag der Einkünfte aus den im Gesetz bestimmten Einkunftsarten nach Ausgleich mit Verlusten, die sich aus einzelnen Einkunftsarten ergeben, und nach Abzug der Sonderausgaben (§ 2 Abs. 2 Satz 1 EStG). Dabei erstreckt sich die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht auf sämtliche Einkünfte, mögen sie im Inland oder im Ausland erzielt worden sein (§ 1 Abs. 1 Satz 2 EStG), es sei denn, daß durch ein Doppelbesteuerungsabkommen bestimmte Einkünfte von der Steuer befreit werden (§ 3 Ziff. 41 EStG, § 9 StAnpG). Bleiben nach einem Doppelbesteuerungsabkommen Einkünfte steuerfrei, wie im Streitfall nach Art. XI Abs. 1, XVI Abs. 2 Satz 1 DBA-Kanada die Einkünfte aus der freiberuflichen Tätigkeit, die der Stpfl. in Kanada ausgeübt hat, so fallen sie nach dem deutschen EStG auch nicht mehr unter den "zu versteuernden Einkommensbetrag" im Sinne der Einkommensteuertabelle. Dieser setzt sich vielmehr nur aus den von der Steuerfreiheit nicht erfaßten Einkünften zusammen. Die Einkommensteuer auf den Gesamtbetrag dieser Einkünfte ist daher in der Einkommensteuertabelle unter der laufenden Nummer abzulesen, unter der dieser um die von der Steuer befreiten Einkünfte verminderte Einkommensbetrag abgeführt ist.

Der Rechtssatz, daß auf die der Bundesrepublik Deutschland zur Besteuerung verbleibenden Einkünfte der Steuersatz anzuwenden ist, der sich ergibt, wenn die anderen Einkünfte in den zu versteuernden Einkommensbetrag im Sinne der Einkommensteuertabelle einbezogen werden, ist in Art. XVI Abs. 2 Satz 2 DBA-Kanada enthalten. Diese Bestimmung lautet:

"Die Bundesrepublik behält aber das Recht, die nach diesem Absatz von der Bemessungsgrundlage ausgenommenen Einkünfte bei der Festsetzung des anwendbaren Steuersatzes zu berücksichtigen".

Dieser Rechtssatz steht mit den genannten Befreiungsvorschriften des DBA-Kanada in enger Verbindung und findet sich in ähnlicher Form in allen neueren Doppelbesteuerungsabkommen der Bundesrepublik. Den §§ 3 Ziff. 41 EStG und 9 StAnpG kommt demgegenüber keine selbständige Bedeutung zu, da sie lediglich auf den Inhalt der Doppelbesteuerungsabkommen verweisen.

Die Vorschrift des Art. XVI Abs. 2 Satz 2 DBA-Kanada könnte zunächst den Anschein erwecken, als sei die Bundesrepublik Deutschland nur ermächtigt, eine gesetzliche Bestimmung zu schaffen, nach der die von der deutschen Steuer befreiten Einkünfte bei der Ermittlung des Steuersatzes für das verbleibende Einkommen wieder hinzuzurechnen sind. In den Worten "behält aber das Recht" liegt jedoch mehr als die Ermächtigung zum Erlaß eines Gesetzes. Sie deuten darauf hin, daß es sich um bereits geltendes Recht handelt, das fortbestehen soll. Gleichwohl ist zuzugeben, daß der Wortlaut des Progressionsvorbehalts im DBA-Kanada in dieser Beziehung nicht eindeutig ist. Daher ist der Wille der Vertragsparteien durch Auslegung zu ermitteln, und zwar in erster Linie nach dem Zweck des Vertrags, da von mehreren Auslegungen, die der Wortlaut zuläßt, diejenigen den Vorzug verdient, bei der das Ziel des Abkommens erreicht wird (Urteil des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - 1 BvF 1/55 vom 4. Mai 1955, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - BVerfGE - Bd. 4 S. 157; Schwarzenberger, Einführung in das Völkerrecht, 1951, S. 94).

Das DBA-Kanada verfolgt den Zweck, die doppelte Besteuerung bestimmter Einkünfte, die der Steuerpflichtige in Kanada bezieht, zu vermeiden. Die Tatsache, daß der Steuerpflichtige diese Einkünfte erzielt hat, löst nach deutschem Einkommensteuerrecht zwei steuerliche Rechtsfolgen aus. Einmal unterliegen die Einkünfte nach dem Grundsatz der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht der deutschen Einkommensteuer (§ 1 Abs. 1 Satz 2 EStG). Außerdem bewirken sie zusammen mit den übrigen Einkünften, daß sich der Steuersatz für alle Einkünfte erhöht, da der Einkommensteuertarif progressiv gestaltet ist (Anlage zu § 32 a EStG). Das DBA-Kanada will nur die erste Rechtsfolge beseitigen, nicht aber auch die zweite Rechtsfolge. Das soll der Progressionsvorbehalt zum Ausdruck bringen. Er bestimmt also, daß die zweite Rechtsfolge (Erhöhung des Steuersatzes für alle Einkünfte) bestehen bleiben soll, d. h., daß der Steuersatz für das zur Besteuerung verbleibende Einkommen so zu ermitteln ist, wie wenn die ausländischen Einkünfte nicht ausgeschieden wären. Damit ermächtigt er nicht zu einer derartigen Regelung durch innerdeutsches Gesetz, sondern stellt diese Regelung selbst dar.

Der Progressionsvorbehalt betrifft zwar allein die Besteuerung des verbleibenden Einkommens, das in der Regel im Inland erzielt worden ist. Da er aber an die Tatsache anknüpft, daß der Steuerpflichtige auch im Ausland Einkünfte bezogen hat und insoweit eine Auslandsbeziehung aufweist, ist er geeignet, Bestandteil eines völkerrechtlichen Vertrags zu sein (Art. 59 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes - GG -). Durch Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG wird er innerstaatliches Recht. Zur Anwendung der vollen Progression bedarf es daher keiner weiteren Vorschrift im deutschen EStG.

Wie ausgeführt wurde, bestimmt der Progressionsvorbehalt, daß mit der Befreiung der ausländischen Einkünfte von der deutschen Einkommensteuer nicht auch die Erhöhung des Steuersatzes für alle Einkünfte beseitigt werden soll. Darin zeigt sich, daß er keine inländische Steuerpflicht über die deutschen Gesetze hinaus begründet, sondern eine bestehende steuerliche Rechtsfolge aufrechterhält.

Das Urteil des BFH VI 83/61 S vom 7. Dezember 1962 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 76 S. 338 - BFH 76, 338 -, BStBl III 1963, 123) steht der Auffassung des Senats nicht entgegen. Dort wird zwar zum Progressionsvorbehalt im Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom 4. Oktober 1954 - DBAö - (BGBl II 1955, 750, BStBl I 1955, 370) ausgeführt: "Das DBAö ... läßt (durch Art. 15 Abs. 3) eine entsprechende gesetzliche Regelung ausdrücklich zu". Dabei handelt es sich jedoch nur um eine beiläufige Bemerkung, die das Urteil nicht trägt.

Das FA hat somit den Steuersatz, der auf das zu versteuernde Einkommen des Stpfl. anzuwenden ist, richtig ermittelt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412339

BStBl III 1967, 88

BFHE 1967, 273

BFHE 87, 273

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