Leitsatz (amtlich)

Beantragt ein Arbeitnehmer bei dem für die Betriebstätte seines Arbeitgebers zuständigen FA eine Anrufungsauskunft nach § 56 LStDV 1971 über die Lohnsteuerfreiheit bestimmter Bezüge, so ist das FA ihm gegenüber an diese Auskunft auch im Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren und im Einkommensteuerveranlagungsverfahren nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gebunden, selbst wenn der Arbeitnehmer im Hinblick hierauf keine wirtschaftlichen Dispositionen getroffen hat.

 

Normenkette

EStG 1971 § 3 Nr. 9; LStDV 1971 § 6 Nr. 7, § 56

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war Geschäftsführer einer GmbH. Diese kündigte das Anstellungsverhältnis Ende März 1971 fristlos. Die vom Kläger vor dem Arbeitsgericht erhobene Klage endete mit einem Vergleich, nach dem das Arbeitsverhältnis in beiderseitigem Einvernehmen am 30. Juni 1971 beendet worden sei und der Kläger eine Abfindung gemäß §§ 9, 10 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) von 60 000 DM netto in zwei gleichen Raten erhalten sollte. Eine etwaige Steuerpflicht oder sonstige Abgaben sollten nach dem Vergleich den Kläger treffen.

Der Kläger beantragte beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) unter Überreichung des Dienstvertrags und des vor dem Arbeitsgericht geschlossenen Vergleichs eine Anrufungsauskunft darüber, ob die Abfindung der Lohnsteuer unterliegt. Die Lohnsteuerstelle des FA teilte ihm am 6. Dezember 1971 mit, die Abfindung sei nach § 6 Nr. 7 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (LStDV) 1971 steuerfrei.

Bei der vorläufigen Einkommensteuerveranlagung 1971 rechnete das FA die im November 1971 gezahlte erste Rate der Abfindungssumme den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit zu. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es führte u. a. aus:

Die im Streitjahr 1971 geleistete Rate der Abfindung sei nicht nach § 3 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1971 i. V. m. §§ 9 und 10 KSchG steuerfrei. Sie fiele nicht unter §§ 9 und 10 KSchG, da diese Vorschriften nach § 14 Abs. 1 KSchG auf Mitglieder von Organen juristischer Personen nicht anwendbar seien. Der Kläger sei Geschäftsführer der GmbH und damit Mitglied eines Organs dieser Gesellschaft gewesen.

Das FA habe die Abfindungsrate zu Recht der Einkommensteuer unterworfen. Eine Nettolohnvereinbarung im Sinne des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 18. Mai 1972 IV R 168/68 (BFHE 106, 192, BStBl II 1972, 816) habe nicht vorgelegen, da nach dem gerichtlichen Vergleich eine etwaige Steuerpflicht den Kläger treffen sollte. Der Kläger könne aus der Auskunft des FA vom 6. Dezember 1971 keine Ansprüche herleiten. Sein Vertrauen werde nur geschützt, soweit er im Vertrauen auf die Auskunft geschäftliche Dispositionen getroffen habe (vgl. BFH-Urteil vom 16. September 1965 V 91/63 U, BFHE 83, 441, BStBl III 1965, 657). Die unrichtige Auskunft des FA sei für den Vergleich des Klägers mit der GmbH nicht ursächlich gewesen, da er ihn vor der Anfrage beim FA abgeschlossen habe.

Der Kläger legte gegen diese Entscheidung Revision ein. Während des Revisionsverfahrens berichtigte das FA den vorläufigen Einkommensteuerbescheid 1971 durch den für endgültig erklärten Bescheid vom 1. Februar 1977 dahin, daß es die streitbefangene Rate des Abfindungsbetrags dem ermäßigten Steuersatz des § 24 Nr. 1 Buchst. a i. V. m. § 34 Abs. 1 und 2 EStG 1971 unterwarf. Der Kläger machte den Berichtigungsbescheid gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Revisionsverfahrens.

Der Kläger brachte im Revisionsverfahren vor, das FA habe die Grundsätze von Treu und Glauben dadurch verletzt, daß es entgegen der im Jahre 1971 erteilten Auskunft die Abfindung im Einkommensteuerbescheid 1971 als steuerpflichtig behandelt habe. Es habe eine besondere Vertrauenssituation bestanden und er habe aufgrund der Auskunft über die Entlassungsentschädigung verfügt.

Der Kläger beantragt sinngemäß, die Einkommensteuer 1971 unter Aufhebung der Vorentscheidung und der Einspruchsentscheidung aufgrund eines zu versteuernden Einkommensbetrages von 48 134 DM auf 11 796 DM herabzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Der Bundesminister der Finanzen (BdF) ist auf Aufforderung des Senats dem Verfahren beigetreten. Er führte im wesentlichen aus:

Eine Anrufungsauskunft nach § 56 LStDV 1971 sei weder als ein feststellender Verwaltungsakt noch als eine verbindliche Zusage anzusehen. Gemäß- herrschender Meinung beinhalte sie eine Wissenserklärung, die das FA nach den Grundsätzen von Treu und Glauben binde, wenn es sich mit einer hoheitlichen Maßnahme in Widerspruch zu seiner Auskunft setze. Eine solche Bindung bestehe auch dann, wenn der Anrufende im Vertrauen auf die Auskunft keine wirtschaftlichen Dispositionen getroffen habe. Hierfür spreche insbesondere der Umstand, daß die Anrufungsauskunft ein vom Verordnungsgeber geregelter Ausnahmefall gegenüber der sogenannten verbindlichen Zusage darstelle. Dieser weitergehende Vertrauensschutz könne nicht auf den Arbeitgeber beschränkt bleiben, sondern müsse auch für den eine Auskunft beantragenden Arbeitnehmer gelten. Denn das Auskunftsrecht stehe jedem Beteiligten zu und Beteiligter im Lohnsteuerverfahren sei auch der Arbeitnehmer. Ein solcher Vertrauensschutz dem Arbeitnehmer gegenüber sei auch gerechtfertigt, da von seinen Bezügen die Lohnsteuer einbehalten werde, ohne daß ihm, wie anderen Steuerpflichtigen im Einkommensteuer- oder Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheid, die Besteuerungsgrundlagen im einzelnen verbindlich mitgeteilt würden.

Ein Recht auf Anrufungsauskunft bestehe allerdings nur bei konkreten Fragen zum Besteuerungsfall, soweit es um die Anwendung von Vorschriften über die Lohnsteuer gehe. Nicht hierunter fielen z. B. Fragen nach der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Aufwendungen als Werbungskosten, Sonderausgaben oder außergewöhnlichen Belastungen.

Die Bindung des FA an eine dem Arbeitnehmer erteilte Anrufungsauskunft wirke über das Lohnsteuerabzugsverfahren hinaus; denn wenn sich ein Arbeitnehmer auf die Auskunft des FA verlassen und sich wirtschaftlich entsprechend darauf einstellen dürfe, dann könne dies nicht auf das Lohnsteuerabzugsverfahren beschränkt bleiben. Die Anrufungsauskunft sei deshalb auch für den Lohnsteuer-Jahresausgleich und die Einkommensteuerveranlagung des Arbeitnehmers verbindlich. Das gelte selbst dann, wenn für die Veranlagung oder den Lohnsteuer-Jahresausgleich des Arbeitnehmers ein anderes FA örtlich zuständig sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

Nach § 56 LStDV 1971 hat das FA der Betriebsstätte auf Anfrage eines Beteiligten darüber Auskunft zu geben, ob und inwieweit im einzelnen Fall die Vorschriften über die Lohnsteuer anzuwenden sind.

Beteiligter im Sinne dieser Vorschrift ist nicht nur der Arbeitgeber, der gemäß § 41 EStG 1971 die Lohnsteuer einzubehalten und an das FA abzuführen hat, sondern gemäß den zutreffenden Ausführungen des BdF auch der Arbeitnehmer, da er nach § 38 Abs. 4 Satz 1 EStG 1971 der Schuldner der Lohnsteuer ist. Demgemäß hat der erkennende Senat bereits im Urteil vom 13. November 1959 VI 124/59 U (BFHE 70, 290, BStBl II 1960, 108, Abs. 3 Satz 1 der Entscheidungsgründe) die Pflicht des FA bejaht, auf Verlangen auch des Arbeitnehmers im Einzelfall über die Fragen der Anwendung von Lohnsteuervorschriften Auskunft zu geben.

Im Streitfall hatte der Kläger als Arbeitnehmer in einem konkreten Einzelfall unter Vorlage entsprechender Unterlagen beim FA als dem für die Betriebsstätte der GmbH zuständigen FA angefragt, ob die Abfindung wegen Entlassung aus seinem Dienstverhältnis zur GmbH aufgrund des gerichtlichen Vergleichs nach § 3 Nr. 9 EStG, § 6 Nr. 7 LStDV 1971 lohnsteuerfrei sei. Eine solche Anfrage war zulässig, weil durch eine Auskunft nach § 56 LStDV 1971 insbesondere die Frage geklärt werden kann, ob bestimmte Bezüge lohnsteuerpflichtig sind (vgl. Oeftering/Görbing, Das gesamte Lohnsteuerrecht, 5. Aufl., § 42 e EStG Anm. 9). Die vom FA erteilte Auskunft, die Abfindung sei im Streitfall lohnsteuerfrei, war aber sachlich unzutreffend, da die Vorschriften der §§ 9 und 10 KSchG, auf die § 3 Nr. 9 EStG 1971, § 6 Nr. 7 LStDV 1971 Bezug nehmen, gemäß den zutreffenden Ausführungen des FG auf den Kläger als Geschäftsführer einer GmbH nicht anwendbar sind.

Das FA war jedoch entgegen der Ansicht des FG an diese dem Kläger erteilte unrichtige Auskunft nach den Grundsätzen von Treu und Glauben bei der Einkommensteuerveranlagung des Klägers für das Streitjahr 1971 gebunden.

Wie der Senat bereits im Urteil VI 124/59 U betont hatte, ist eine nach § 56 LStDV erteilte Anrufungsauskunft eine Wissenserklärung darüber, ob und inwieweit im einzelnen Fall die Vorschriften über die Lohnsteuer anzuwenden sind. Sie ist hingegen, worauf auch der BdF hinweist, keine Entscheidung über den Steueranspruch und keine Steuerfestsetzung. Das FA kann daher gemäß den Ausführungen des Senats im Urteil VI 124/59 U die Auskunft mit Wirkung für die Zukunft jederzeit widerrufen. Ein solcher Widerruf ist im Streitfall nicht erfolgt; er wäre auch nicht in Betracht gekommen, da der der Auskunft zugrunde liegende Sachverhalt abgeschlossen war.

Die Anrufungsauskunft kann aber nach den Grundsätzen von Treu und Glauben Bindungswirkungen auslösen, wenn das FA sich mit einer hoheitlichen Maßnahme in Widerspruch zu ihr setzt. Der erkennende Senat hat in seinen Entscheidungen VI 124/59 U und vom 6. Mai 1959 VI 252/57 U (BFHE 69, 83, BStBl III 1959, 292) eine solche Bindung gegenüber Arbeitgebern bejaht, die vom FA Auskünfte über die Anwendung von lohnsteuerrechtlichen Vorschriften erbeten hatten. Der Senat folgt dem BdF in der Erwägung, daß eine solche Bindung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben auch gegenüber einem Arbeitnehmer eintreten muß, wenn dieser als Schuldner der vom Arbeitgeber einzubehaltenden Lohnsteuer eine solche Auskunft vom FA der Betriebstätte des Arbeitgebers erhalten hatte. Denn er ist der wirtschaftlich Betroffene, wenn der Arbeitgeber bei falscher Anwendung lohnsteuerrechtlicher Vorschriften die Lohnsteuer von seinem Bruttogehalt zu hoch einbehält und an das FA abführt.

Der Senat teilt die Ansicht des BdF, daß die Anrufungsauskunft nach § 56 LStDV 1971 sich als lex specialis gerade dadurch von der - ebenfalls auf den Grundsätzen von Treu und Glauben beruhenden - Rechtsprechung des BFH zur verbindlichen Zusage (vgl. z. B. Urteil des Senats vom 4. August 1961 VI 269/60 S, BFHE 73, 813, BStBl III 1961, 562) unterscheidet, daß die Anrufungsauskunft einen Vertrauensschutz auch dann gewährt, wenn der Anrufende im Vertrauen auf die Auskunft keine wirtschaftlichen Maßnahmen getroffen hat. Der Senat hat in den vorgenannten Urteilen auch nicht auf solche Dispositionen der Arbeitgeber abgestellt. Wie der BdF in diesem Zusammenhang zu Recht hervorhebt, hat der Gesetzgeber an dieser Unterscheidung zwischen der Anrufungsauskunft, die jetzt in § 42 e EStG 1975/1977 geregelt ist, und der inzwischen in § 204 der Abgabenordnung (AO 1977) kodifizierten verbindlichen Zusage festgehalten, ohne daß § 204 AO 1977 den § 42 e EStG 1977 in seiner Bedeutung verdrängt hätte (vgl. auch Giloy in Der Betriebs-Berater 1977 s. 139 - BB 1977, 139 -).

Der Senat folgt dem BdF ebenfalls in der Erwägung, daß der dem Arbeitnehmer durch die Anrufungsauskunft gewährte Vertrauensschutz auch im Lohnsteuer-Jahresausgleich und Einkommensteuerveranlagungsverfahren gelten muß, weil sonst die ihm auf Anfrage im Lohnsteuerabzugsverfahren erteilte Auskunft weitgehend bedeutungslos wäre (so auch Nissen in Forkel-Kommentar Rz. 15 zu § 42 e EStG). Die gegenteilige Auffassung würde im übrigen zu einer ungerechtfertigten Bevorzugung der Arbeitnehmer führen, für die kein Lohnsteuer-Jahresausgleich oder keine Einkommensteuerveranlagung durchzuführen ist. Ob dieser Vertrauensschutz entsprechend den Ausführungen des BdF auch dann Platz greift, wenn der Lohnsteuer-Jahresausgleich oder die Einkommensteuerveranlagung von einem anderen, für den Arbeitnehmer örtlich zuständigen FA vorzunehmen ist, kann dahingestellt bleiben, weil das beklagte FA im Streitfall auch die Anrufungsauskunft erteilt hatte.

Das FG ist insoweit von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung ist deshalb aufzuheben. Da das FA an die vom Kläger als Arbeitnehmer erbetene, sachlich unzutreffende Auskunft, die Abfindung sei lohnsteuerfrei, nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gebunden ist, durfte es den im Jahr 1971 gezahlten Teilbetrag der Abfindung nicht der Einkommensteuer unterwerfen. Der nach § 68 FGO zum Gegenstand des Revisionsverfahrens gemachte endgültige Einkommensteuerbescheid des FA für das Streitjahr 1971 ist daher dahin abzuändern, daß die Einkommensteuer 1971 auf 11 286 DM festgesetzt wird.

 

Fundstellen

Haufe-Index 73127

BStBl II 1979, 451

BFHE 1979, 376

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