Entscheidungsstichwort (Thema)

Zweifel am Zugang des Bescheids innerhalb der Dreitagesfrist

 

Leitsatz (amtlich)

Behauptet ein Kläger, er habe einen Steuerbescheid erst an einem späteren Tag als dem dritten Tag nach dem Bescheiddatum erhalten, so darf das FG nicht allein auf Grund der denkbaren Möglichkeit, Bescheiddatum und Absendetag könnten auseinanderfallen, davon ausgehen, der Kläger habe den Bescheid erst an dem von ihm behaupteten Tag erhalten.

Vielmehr muß es zunächst den maßgeblichen Sachverhalt angemessen aufklären und darf erst dann nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheiden, ob Zweifel bestehen am Zugang des Bescheids innerhalb der Dreitagesfrist mit der Folge, daß den Zeitpunkt des Zugangs die Behörde nachzuweisen hat.

 

Normenkette

AO 1977 § 122 Abs. 2; FGO § 76 Abs. 1, § 96 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches FG

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) --Eheleute-- wohnen inS. Das dortige Finanzamt (FA) setzte wegen des Kaufs eines mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks gegen jeden der Kläger 3 696 DM Grunderwerbsteuer fest, und zwar jeweils durch einen Nacherhebungsbescheid vom 15.Oktober 1982. Die Verfügung zu jedem der Nacherhebungsbescheide lautete in Zeile 4 Buchst.c: "Bescheid datieren u. absenden". Hinsichtlich der Ausführung der Verfügung war in der Spalte "Bescheiddatum/Absendetag" durch Stempelaufdruck vermerkt "15.Okt.1982" und in der Spalte "Erledigt" ebenfalls durch Stempelaufdruck "15.Okt.1982"; dem Erledigungsvermerk war ein handschriftliches Namenszeichen beigefügt.

Über sechs Wochen später, mit Schreiben vom 1.Dezember 1982 --eingegangen beim FA am 2.Dezember 1982-- erklärten die Kläger, sie legten Einspruch gegen die Nacherhebungsbescheide ein. Die Bescheide seien ihnen erst am 5.November 1982 zugestellt worden; auch sei die Steuer zu hoch festgesetzt worden. Das FA forderte die Kläger auf, näher darzulegen, daß sie nicht rechtzeitig in den Besitz der Bescheide gelangt seien und bat, die Originale der Steuerbescheide und die dazugehörigen Briefumschläge zur Einsichtnahme vorzulegen. Die Kläger antworteten, der Postbeamte P habe ihnen telefonisch die Auskunft erteilt, es sei möglich, daß ein Brief verspätet zugestellt werde. Das FA verband die Einsprüche zu gemeinsamer Entscheidung und verwarf sie. Sie seien unzulässig, weil sie nicht innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist von einem Monat nach Bekanntgabe der Bescheide eingelegt worden seien. Die Bescheide seien am 15.Oktober 1982 in Form von einfachen Briefen der Bundespost zur Zustellung übergeben worden und gälten als am 18.Oktober 1982 bekanntgegeben. Dementsprechend habe die Rechtsbehelfsfrist mit Ablauf des 18.November 1982 geendet. Die Einsprüche seien aber erst am 2.Dezember 1982, somit verspätet, beim FA eingegangen. Die Darstellung der Kläger sei nicht geeignet, Zweifel am gesetzlich vermuteten Zeitpunkt des Zugangs zu wecken.

Die Kläger haben gemeinschaftlich Klage erhoben und beantragt, die Einspruchsentscheidung aufzuheben und ihnen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist zu gewähren. Es sei ihnen nicht möglich, die verspätete Zustellung der Bescheide nachzuweisen, den Briefumschlag des FA hätten sie weggeworfen. Die Grunderwerbsteuer sei auch zu hoch festgesetzt worden. Auf Anfrage des Berichterstatters des Finanzgerichts (FG) hat das Postamt mitgeteilt, "die verzögerte Zustellung eines gewöhnlichen Briefs um 18 Werktage" könne "nur als eine überaus seltene Ausnahme angesehen werden". In der fraglichen Zeit habe "der ständige Zusteller seinen Dienst verrichtet"; ihm sei der Empfänger seit Jahren bekannt. Auf eine weitere Anfrage des Berichterstatters des FG hat das FA den Vorgang der Absendung der angefochtenen Nacherhebungsbescheide wie folgt geschildert:

"Die Datierung des Bescheides erfolgt stets durch den zuständigen Buchhalter der Finanzkasse im Rahmen der Sollstellung. Bei einer Sollstellung im Laufe des Vormittags eines Tages (d.h. bis 13.00 Uhr) erhalten die Steuerbescheide stets das Datum des gleichen Tages. Die so behandelten Bescheide werden vom Buchhalter selbst kuvertiert und sogleich in ein im Kassenraum speziell dafür eingerichtetes Postabholfach gelegt. Dieses wird mit absoluter Sicherheit jeden Tag gegen 13.00 Uhr von dem Boten der Poststelle geleert. In der Poststelle werden die Sendungen sogleich frankiert und am selben Tage von einem Mitarbeiter der Geschäftsstelle (Poststelle) mit dem Dienstfahrzeug zum Bahnpostamt verbracht. Bis spätestens 15.00 Uhr eines jeden Tages treffen die Sendungen dort ein.

Bei Sollstellung eines Bescheides nach 13.00 Uhr erhält dieser weisungsgemäß das Datum des nächsten Tages und gelangt dann jeweils am Folgetag auf dem oben beschriebenen Wege zur Versendung.

Der so beschriebene Organisationsablauf wird jeden Tag genau eingehalten.

Die seinerzeit zuständige Buchhalterin ist eine absolut zuverlässige Kraft."

Das FG hat durch Urteil vom 19.März 1985 die Einspruchsentscheidung aufgehoben. Das FA habe die Einsprüche zu Unrecht wegen Versäumung der Einspruchsfrist verworfen. Die Zugangsvermutung des § 122 Abs.2 1.Halbsatz der Abgabenordnung (AO 1977) greife nicht ein, "weil der Tag der Aufgabe der strittigen Bescheide zur Post nicht exakt festgestellt werden" könne und dies zu Lasten des FA gehe. Die Darstellung des FA über die Absendung der Nacherhebungsbescheide belege lediglich, wie üblicherweise verfahren werde. Das reiche als Nachweis für den Tag der Aufgabe zur Post in dem hier zu beurteilenden Falle nicht aus. Entscheidend sei im Streitfall, "daß das Datum des Absendevermerks und das Datum des Poststempels bzw. der tatsächlichen Aufgabe zur Post auseinanderfallen" könnten. Die Person, die den Absendevermerk auf der Verfügung anbringe, sei nicht identisch mit der, die den Brief zur Post bringe. Es sei zwar nicht zu verkennen, daß die Stellung des FA im Rahmen des § 122 Abs.2 AO 1977 schwach sei, weil das FA Schwierigkeiten habe, den Tag der Aufgabe zur Post exakt nachzuweisen. Diese Nachteile müsse aber das FA tragen, denn auch für den Bürger sei es nicht einfach, schlüssig darzulegen und zu beweisen, wann er in den Besitz des Schriftstücks gelangt sei, zumal ihm nicht bekannt sei, wann das FA die Post abgesandt habe. Es sei zugunsten der Kläger davon auszugehen, daß sie die Nacherhebungsbescheide erst am 5.November 1982 erhalten und fristgerecht Einspruch eingelegt hätten. Demzufolge sei die Einspruchsentscheidung aufzuheben und dadurch der Weg frei zu einer materiell-rechtlichen Prüfung der Steuerbescheide durch das FA.

Mit der vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassenen Revision rügt das FA Verletzung des § 122 Abs.2 AO 1977. Es beantragt,

das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger haben sich nicht geäußert.

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs.3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Aufgehoben werden muß das Urteil des FG, weil es auf unrichtiger Anwendung des § 122 Abs.2 AO 1977 (in der bis zum 31.Dezember 1986 geltenden Fassung) beruht. Nach dieser Vorschrift gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post im Geltungsbereich dieses Gesetzes übermittelt wird, "mit dem dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen". Unrichtig angewendet hat das FG diese Vorschrift insofern, als es die Rechtsansicht vertritt, die Zugangsvermutung des § 122 Abs.2, 1.Halbsatz AO 1977 greife im vorliegenden Falle nicht ein, weil der Tag der Aufgabe der Grunderwerbsteuerbescheide zur Post nicht exakt festgestellt werden könne und dies zu Lasten des FA gehe. Damit hat das FG verkannt, daß die Behörde nur "im Zweifel" den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen hat. Die Frage, ob "Zweifel" daran bestanden, daß den Klägern die Steuerbescheide spätestens am 18.Oktober 1982 zugegangen sind, hatte das FG "nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung" zu beantworten (§ 96 Abs.1 Satz 1 FGO). Das Gebot "freier" Überzeugungsbildung verpflichtete das FG dazu, sich zunächst die geeigneten Grundlagen zu verschaffen, auf denen eine derartige Überzeugungsbildung erst möglich war. Hierzu gehörte eine angemessene Aufklärung des maßgeblichen Sachverhalts (§ 76 FGO). Das FG durfte sich nicht begnügen mit der zwar denkbaren, aber --nach der vom FA gegebenen Darstellung des Absendevorgangs-- wenig wahrscheinlichen Möglichkeit, daß der vermerkte Absendetag ein anderer sein könne als der Tag, an dem die Steuerbescheide zur Post gegeben wurden. Es durfte sich hinsichtlich des weiteren konkreten Geschehensablaufs, insbesondere hinsichtlich der Behauptung der Kläger, die Steuerbescheide erst am 5.November 1982 erhalten zu haben, nicht unwissend halten und dabei verbleibende Unsicherheiten mit dem Mittel der freien Überzeugungsbildung oder den Regeln der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu überwinden suchen. Vielmehr mußte es prüfen, ob und in welcher Hinsicht die Streitsache der weiteren tatsächlichen Aufklärung nicht mehr bedurfte (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.Juli 1986 4 C 40-45/82, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 310, § 108 VwGO Nr.181). Es hätte geboten sein können, die Kläger über den Zugang der Bescheide zu vernehmen (§ 81 Abs.1 FGO i.V.m. §§ 450 bis 455 der Zivilprozeßordnung) und sie zu fragen, z.B.

- ob sie die Briefe mit den Grunderwerbsteuerbescheiden dem Briefkasten entnommen haben (wer von ihnen) oder ob ihnen die Briefe auf andere Weise (z.B. unmittelbar vom Briefträger oder von einem Nachbarn) ausgehändigt worden sind (wem

- worauf ihre Erinnerung beruht, daß gerade der 5.November 1982 der Tag war, an dem ihnen die Steuerbescheide zugegangen sind,

- warum sie den Briefumschlag nicht mit einem Eingangsvermerk versehen und aufbewahrt haben, obwohl die Bescheide ihnen (nach ihrer Darstellung) verspätet zugegangen waren,

- warum sie keinen Anlaß sahen, sich unmittelbar nach dem 5.November 1982 an das FA zu wenden, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Rechtsbehelfsfrist (bezogen auf den 18.Oktober 1982 als Fristbeginn) noch lief.

Nicht ausreichend ist der Hinweis der Kläger, ihnen sei "ein Fall bekannt, wo der Steuerbescheid erst nach mehreren Tagen vom Zeitpunkt des im Briefkopf angegebenen Datums, den Empfänger erreichte", und daß in der "S-Zeitung" der Einsender eines Leserbriefs beklagt habe, die Post in S habe "verspätet einen Brief zugestellt". Denn solche allgemeinen, nicht auf den vorliegenden Fall bezogenen Hinweise begründen noch keine Zweifel an dem gesetzlich vermuteten Zeitpunkt des Zugangs der Grunderwerbsteuerbescheide an die Kläger.

Die Entscheidung des FG beruht auf der bezeichneten Rechtsverletzung, denn es ist nicht auszuschließen, daß das FG ohne sie anders entschieden hätte.

Die Sache wird an das FG zurückverwiesen, damit es unter Beachtung der obigen Ausführungen anderweitig verhandle und entscheide (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 62583

BFH/NV 1990, 1

BStBl II 1990, 108

BFHE 158, 297

BFHE 1990, 297

BB 1990, 56-56 (L1)

DB 1990, 260 (ST)

DStR 1990, 243 (KT)

HFR 1990, 108 (LT)

StE 1990, 33 (K)

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