Leitsatz (amtlich)

1. Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme gemäß § 131 Abs. 1 Satz 3 AO stellt keinen selbständig anfechtbaren Verwaltungsakt dar, sondern ist Bestandteil des Veranlagungsverfahrens. Sie kann nur im Wege des Einspruchs gegen den das Veranlagungsverfahren abschließenden Verwaltungsakt angegriffen werden.

2. Drohende behördliche Beschränkungen des Straßenverkehrs, die den Inhaber eines gewerblichen Unternehmens zur Betriebsverlegung veranlassen, rechtfertigen nicht die Bildung einer Rücklage für Ersatzbeschaffung gemäß Abschn. 35 EStR.

 

Normenkette

AO § 131 Abs. 1 S. 3; EStG §§ 4-5; EStR Abschn. 35

 

Tatbestand

Der Revisionsbeklagte (Steuerpflichtiger) betrieb auf eigenem Grundstück im Stadtkern von X ein Großhandelsgeschäft. Das Ladengeschäft befand sich in der A-Straße, das rückwärts anschließende Lagerhaus hatte seine Front an der rechtwinkelig dazu verlaufenden sehr engen B-Straße. An der Front des Lagerhauses hatte der Steuerpflichtige beim Aufbau im Jahre 1955 eine Einbuchtung von ca. 3,25m gelassen; das Lagerhaus besaß eine Einfahrt für LKW. 1961 verkaufte der Steuerpflichtige das Geschäftsgrundstück A-Straße/B-Straße (A/B-Straße). 1962 verlegte er seinen Betrieb in weiter außerhalb am Stadtrand liegende Gebäude, die er im Erbbaurecht errichtet hatte. Der Betrieb florierte nach der Verlegung nicht mehr. Der Steuerpflichtige mußte ihn kurze Zeit später unter Inkaufnahme erheblicher Verluste abstoßen.

Der Verkaufserlös für das Grundstück A/B-Straße überstieg den Buchwert dieses Grundstücks. Über die steuerliche Behandlung dieses Buchgewinns besteht Streit. Der Steuerpflichtige beantragte bei der Einkommensteuerveranlagung für das Streitjahr gemäß § 131 Abs. 1 Satz 3 AO, den Buchgewinn auf die folgenden Veranlagungszeiträume zu verteilen. Der Revisionskläger (FA) folgte diesem Antrag nicht, sondern erfaßte im Einkommensteuerbescheid vom 13. Mai 1963 den Gewinn als laufenden Gewinn. In einem Begleitschreiben vom gleichen Tage teilte das FA dem Steuerpflichtigen mit, daß seinem Erlaßantrag nicht gefolgt werden könne, weil es der Ansicht war, der Antrag sei schon in einem früheren bis zum Landesfinanzministerium gediehenen Verfahren abgelehnt worden. Den im Einspruch des Steuerpflichtigen gegen diesen Bescheid enthaltenen wiederholten Antrag, den Veräußerungsgewinn gemäß § 131 Abs. 1 Satz 3 AO bei der Steuerfestsetzung für 1961 nicht zu berücksichtigen, vielmehr zuzulassen, daß dieser außerordentliche Ertrag in fünf gleichen Beträgen in den Veranlagungsabschnitten 1962 bis 1966 besteuert werde, was in dem früheren Verfahren noch nicht erörtert worden sei, wies das FA durch besondere Verfügung ab.

Mit der gegen die Ablehnung des Erlaßantrags gerichteten Beschwerde zur OFD beantragte der Steuerpflichtige, gemäß § 131 Abs. 1 Satz 3 AO aus Billigkeitsgründen hinsichtlich der beim Verkauf des Grundstücks A/B-Straße aufgedeckten stillen Reserven so zu verfahren, "wie wenn § 6b EStG 1965 schon in Kraft gewesen wäre". Die Beschwerde blieb erfolglos. Die Entscheidung über den Einspruch stellte das FA auf Wunsch des Steuerpflichtigen zurück, bis das Erlaßverfahren nach § 131 Abs. 1 Satz 3 AO rechtskräftig abgeschlossen ist.

Auf die Klage des Steuerpflichtigen gegen die Beschwerdeentscheidung der OFD entschied das FG, das FA sei "verpflichtet, bei der Veranlagung für das Jahr 1961 den Buchgewinn aus der Veräußerung des Betriebsgrundstücks ... A/B-Straße ... auf eine Rücklage für Ersatzbeschaffung zu übertragen".

Zur Begründung dieser Entscheidung führte es aus, das FA sei - unabhängig von Billigkeitserwägungen - schon aus Rechtsgründen gehalten, gemäß Abschn. 35 EStR die Übertragung der aufgedeckten stillen Reserven auf das Ersatzwirtschaftsgut zuzulassen, denn - wie die Vernehmung zahlreicher Zeugen ergeben habe - habe der Steuerpflichtige auf Grund der katastrophalen bzw. chaotischen Verkehrsverhältnisse in der B-Straße entweder mit einem Halteverbot vor dem Lagerhaus oder mit einem völligen Durchfahrverbot für LKW in der B-Straße rechnen müssen. Beide Maßnahmen seien aber geeignet gewesen, den Geschäftsbetrieb des Steuerpflichtigen sofort zum Erliegen zu bringen. Demgemäß habe die Stadtverwaltung X dem Steuerpflichtigen auch nahegelegt, seinen Betrieb aus der Innenstadt zu verlegen und habe ihn bei der Beschaffung von Ersatzgelände unterstützt. Wenn der Steuerpflichtige in dieser Situation veräußert habe, so stehe dies einer Veräußerung zur Vermeidung eines behördlichen Eingriffs im Sinne des Abschn. 35 EStR gleich. Unerheblich sei dabei, daß kein unmittelbar auf die Substanz des Wirtschaftsguts zielender Eingriff (Enteignung, Beschlagnahme) gedroht habe, denn im Ergebnis hätten die zu erwartenden verkehrspolitischen Anordnungen die betriebliche Nutzung des Gebäudes ebenso unmöglich gemacht wie eine Beschlagnahme. Der Senat trage auch keine Bedenken, die Rechtsfrage der Voraussetzungen des Abschn. 35 EStR bereits im vorliegenden Verfahren - dessen Gegenstand die Gewährung einer Billigkeitsmaßnahme sei - abschließend zu entscheiden. Eine Billigkeitsmaßnahme nach § 131 Abs. 1 Satz 3 AO sei überflüssig, wenn der Steuerpflichtige schon nach dem EStG mit seinem Begehren im Recht sei. Deshalb müßte logischerweise vorweg entschieden werden, ob sein Begehren aus Rechtsgründen Erfolg habe. Hierzu müßte das FG das vorliegende Verfahren aussetzen und das FA bitten, über den Einspruch zu entscheiden, damit zunächst eine rechtskräftige Entscheidung über die Frage herbeigeführt würde, ob die stillen Reserven aus Rechtsgründen auf das Ersatzwirtschaftsgut zu übertragen seien. Sobald aber diese Frage rechtskräftig entschieden sei, liege eine unabänderliche Steuerfestsetzung vor. Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 3 AO seien dann nicht mehr möglich, denn sie könnten grundsätzlich nur vor oder bei der Steuerfestsetzung getroffen werden. Würde der Steuerpflichtige also in der Rechtsfrage in letzter Instanz unterliegen, so könnte ihm eine Billigkeitsmaßnahme nach § 131 Abs. 1 Satz 3 AO schon aus verfahrensrechtlichen Gründen keinesfalls mehr gewährt werden. Dieses Ergebnis widerspreche jeder Vernunft. Im Falle des § 131 Abs. 1 Satz 3 AO sei die Billigkeitsmaßnahme mit der Steuerfestsetzung gekoppelt. Die Billigkeitsmaßnahme beziehe sich nicht, wie im Falle des Satzes 1 der Vorschrift, auf die bereits festgesetzte Steuer, sondern sie verändere unmittelbar die Besteuerungsgrundlagen des Bescheids. Weil das so sei, müsse es zulässig sein, im vorliegenden Verfahren wegen der Billigkeitsmaßnahme festzustellen, daß die Besteuerungsgrundlagen aus Rechtsgründen so festzusetzen seien, daß eine Billigkeitsmaßnahme gar nicht mehr notwendig sei. Dem Steuerpflichtigen sei jedenfalls kein Vorwurf daraus zu machen, daß er angesichts der strikt ablehnenden Haltung des FA und der OFD zunächst nur die Frage der Billigkeitsmaßnahme zur gerichtlichen Entscheidung habe bringen wollen. Nachdem sich ergeben habe, daß seinem Antrag schon aus Rechtsgründen stattzugeben sei, gebiete es der Grundsatz der Prozeßökonomie, das hier festzustellen und damit - falls dieses Urteil Rechtskraft erlange - gleichzeitig den Einspruch gegen den Steuerbescheid in der Hauptsache zu erledigen.

Mit der Revision beantragt das FA, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen. Gerügt wird die Verletzung formellen (§ 40 FGO) und materiellen (§ 6 EStG) Rechts.

Das FA trägt vor, das FG habe über die Frage, ob die Übertragung stiller Reserven aus Rechtsgründen zuzulassen sei, im vorliegenden Verfahren nicht entscheiden dürfen. Die auch vom BFH vertretene Rechtsauffassung, daß in Fällen des § 131 Abs. 1 Satz 3 AO ein zweispuriges Rechtsmittelverfahren mit Einspruch gegen den Steuerbescheid und Beschwerde gegen die Ablehnung der Billigkeitsmaßnahme geführt werden müsse, sei zwar in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Im vorliegenden Falle ließen sich jedoch unabhängig von diesen verschiedenen Auffassungen Billigkeits- und Veranlagungsverfahren nicht mehr in einem Rechtsbehelf zusammenziehen, da bereits zwei verschiedene Verfahrensarten anhängig seien. Die Frage der Übertragung stiller Reserven auf ein Ersatzwirtschaftsgut sei zunächst im Veranlagungsverfahren zu prüfen und dort - da dieses Verfahren auf Anregung des Steuerpflichtigen ausgesetzt worden sei - noch nicht entschieden worden. Nur die Billigkeitsfrage sei Gegenstand der vom Steuerpflichtigen zum FG erhobenen Klage gegen die Beschwerdeentscheidung der OFD. Das FG habe unter Verletzung des Grundsatzes der Gewaltentrennung in ein schwebendes Verwaltungsvorverfahren eingegriffen, bevor es mit den dort zur Entscheidung stehenden Fragen durch eine Klageerhebung befaßt worden sei. Das FG habe im übrigen auch die Rechtsfrage, ob die Voraussetzungen des Abschn. 35 EStR vorlägen, unzutreffend beurteilt.

Der Steuerpflichtige beantragt die Zurückweisung der Revision. Er ist der Auffassung, das FG habe nur über die Billigkeitsmaßnahme entschieden. Wenn in den Urteisgründen festgestellt werde, eine steuerfreie Rücklage für Ersatzbeschaffung sei schon aus Rechtsgründen zulässig, so erwachse diese Rechtsmeinung des FG keineswegs in Rechtskraft. In Rechtskraft erwachse ein Urteilsspruch, nicht aber dessen Gründe. Die verfahrensmäßigen Überlegungen des FG seien überzeugend. Auch die Rüge der Verletzung materiellen Rechts durch das FA sei nicht begründet. Er - der Steuerpflichtige - sei zwar selbst davon überrascht worden, daß die steuerfreie Rücklage für Ersatzbeschaffung schon aus Rechtsgründen zu gewähren sei. Er halte diese Rechtsauffassung des FG aber nunmehr für zutreffend. Auf jeden Fall sei ihm die Rücklage jedoch aus Billigkeitsgründen zuzugestehen, weil bei Veräußerungsgewinnen auf Grund Verkehrszwangs eine unbillige, vom Gesetzgeber nicht vorhergesehene und offenbar auch nicht gewollte Härte einträte, wenn die sofortige Besteuerung vorgenommen werde. Daß die Veräußerung auf Grund Verkehrszwangs erfolgt sei, habe das FG zu Recht bejaht. An diese tatsächlichen Feststellungen sei der BFH gebunden. Das FG habe weder gegen Denkgesetze verstoßen noch den Sachverhalt mangelhaft aufgeklärt.

Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Die Frage, ob die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme gemäß § 131 Abs. 1 Sätze 2 bzw. 3 AO mit der Beschwerde angegriffen und ob die darauf ergangene Beschwerdeentscheidung in einem selbständigen Gerichtsverfahren neben dem Rechtsbehelfsverfahren gegen den Steuerbescheid überprüft werden kann (sogenannte Zweigleisigkeit) oder ob die Billigkeitsentscheidung Bestandteil der im Veranlagungsverfahren vom FA vorzunehmenden Prüfungen ist und infolgedessen nur im Rahmen des Einspruchsverfahrens angegriffen werden kann (sogenannte Eingleisigkeit) ist in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten. Für Zweigleisigkeit sprechen sich aus: FG Karlsruhe in EFG 1961, 80; FG Schleswig-Holstein in DStZ B 1958, 479; Becker-Riewald-Koch, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 9. Aufl., § 131 Anm. 3b (6); Berger, Der Steuerprozeß, S. 206; Flume, Steuerberater-Jahrbuch 1953/54 Anm. IV S. 94 f.; Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 131 Anm. 74; Kühn-Kutter, Reichsabgabenordnung, 10. Aufl., § 131 Anm. 8; Kruse in Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 131 Anm. 16; Maaßen in NJW 1955, 168; Mattern-Meßmer, Reichsabgabenordnung, § 131 Anm. 908, 911; Scholl, BB 1961, 366. Für ein eingleisiges Verfahren Treten ein: FG Saarland in EFG 1964, 187; Kühn, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 131 Anm. 8; Tipke in Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, Kommentar, § 230 Anm. 4 sowie Voss, BB 1961, 1197.

Der Senat ist der Auffassung, daß die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme nicht als selbständig anfechtbarer Verwaltungsakt angesehen werden kann, sondern vielmehr einen Bestandteil des Veranlagungsverfahrens darstellt mit der Folge, daß nur im Wege des Einspruchs gegen den das Veranlagungsverfahren abschließenden Verwaltungsakt eine Überprüfung der Billigkeitsentscheidung erreicht werden kann. Zwar ist § 131 Abs. 1 AO nicht so eindeutig gefaßt, daß schon der Wortlaut dieser Vorschrift diese und keine andere Interpretation erlauben würde. Die Wortfassung "es kann zugelassen werden" vermeidet eine Festlegung auf einen der beiden möglichen Wege. Dennoch sprechen nach Auffassung des Senats die vom Gesetz verwendeten Worte "bei der Festsetzung der Steuer" in stärkerem Maße für eine Einbeziehung der Billigkeitsentscheidung in das Festsetzungsverfahren als für eine eigenständige Natur dieser Maßnahme. Hinzu kommt, daß die in das Veranlagungsverfahren integrierte Billigkeitsprüfung sich für die Steuerpflichtigen, die Verwaltung und die Gerichte als die wesentlich zweckmäßigere Lösung erweist als die Durchführung eines selbständigen Billigkeitsverfahrens neben dem Veranlagungsverfahren, wie u. a. der vorliegende Rechtsstreit zeigt. Der Schwerpunkt des Veranlagungsverfahrens liegt in der zutreffenden Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen. Es liegt deshalb nahe, in diesem und nicht in einem anderen Verfahren zu prüfen, ob einzelne Besteuerungsgrundlagen bei der Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen nicht berücksichtigt werden sollen. Der von der Entscheidung betroffene Steuerpflichtige wird auf diese Weise der Notwendigkeit enthoben, zur Überprüfung der Billigkeits- und Rechtsfragen, die eng miteinander verknüpft sein können, zwei verschiedene Rechtswege (Einspruch - Beschwerde) zu beschreiten, deren unterschiedliche Bedeutung für den Laien ohnehin schwer erkennbar ist. Darüber hinaus wird vermieden, daß sich verschiedene gerichtliche Spruchkörper oder derselbe Spruchkörper mehrfach mit derselben Rechtssache - wenn auch unter verschiedenen Gesichtspunkten - befassen müssen. Schließlich vermeidet ein eingleisiges Verfahren, in welchem sowohl die Rechts- wie auch die Billigkeitsfragen zu entscheiden sind, eine Reihe von prozeßrechtlichen Schwierigkeiten. So kann sich z. B. die Frage, wie eine etwa rechtskräftig gewordene Einspruchsentscheidung geändert werden kann -nach § 218 Abs. 4 AO oder nach § 4 StAnpG-, um eine vom Steuerpflichtigen in letzter Instanz erstrittene Billigkeitsmaßnahme "bei der Festsetzung der Steuer" zu verwirklichen, beim eingleisigen Verfahren nicht mehr stellen. Ferner wird ausgeschlossen, daß über den Wegfall einer bestimmten Besteuerungsgrundlage aus Billigkeitsgründen ein Rechtsstreit durch mehrere Instanzen geführt wird, obgleich diese Besteuerungsgrundlage möglicherweise aus Rechtsgründen außer Ansatz zu bleiben hat.

Der Senat verkennt nicht, daß auch das eingleisige Verfahren rechtlich Schwierigkeiten in sich birgt. So dürfen Billigkeitsmaßnahmen der genannten Art in der Regel kraft Verwaltungsanweisung nicht von den FÄ in eigener Zuständigkeit verfügt werden. Das eingleisige Verfahren würde dagegen dem FA die Verpflichtung auferlegen, im Rahmen der von ihm zu treffenden Einspruchsentscheidung auch über die Billigkeitsfrage zu befinden. Dieser Widerspruch ist indes nicht so schwerwiegend, daß er ein zweigleisiges Verfahren zwingend erforderte. Vielmehr kann die Finanzverwaltung den Besonderheiten des eingleisigen Verfahrens durch entsprechende Anordnungen Rechnung tragen. Es kann dahinstehen, ob § 248 AO ein Weisungsrecht der vorgesetzten Behörde im Einspruchsverfahren ausschließt, soweit über Rechtsfragen zu entscheiden ist, denn jedenfalls hinsichtlich der Entscheidungen über Billigkeitsmaßnahmen kann eine solche Weisungsbefugnis nicht verneint werden.

In den Fällen, in denen Billigkeitsmaßnahmen nicht von den Landesfinanzbehörden getroffen werden können (Realsteuern - vgl. BFH-Urteile I 101/60 S vom 9. Januar 1962, BFH 74, 641, BStBl III 1962, 238; I 129/59 S vom 25. Mai 1962, BFH 75, 632, BStBl III 1962, 497 sowie IV 133/63 S vom 5. März 1964, BFH 79, 218, BStBl III 1964, 311), sind die allgemeinen Verwaltungsgerichte zur rechtlichen Beurteilung zuständig. Dadurch werden die Billigkeitsfragen vom Veranlagungsverfahren abgetrennt. Diese durch die Finanzverfassung der BRD für den Bereich der Realsteuern entstandene Besonderheit zwingt jedoch nicht dazu, auch bei der Einkommensteuer die Billigkeitsprüfung einem gesonderten Verfahren zuzuweisen.

2. Der Senat kann im vorliegenden Verfahren ohne Anrufung des Großen Senats des BFH entscheiden. Seit dem Inkrafttreten der FGO hat sich - soweit ersichtlich - nur der I. Senat des BFH im nicht veröffentlichten Urteil I 63/68 vom 16. September 1970 mit einem ähnlich gelagerten Fall befaßt. Er hat in dieser Entscheidung zwar in einer das Urteil nicht tragenden allgemeinen Wendung an dem vor Inkrafttreten der FGO in einigen Entscheidungen des BFH aufgestellten Grundsatz der Zweigleisigkeit festgehalten, die Sache aber gleichwohl auf Grund der besonderen Fallgestaltung an das FG zur Entscheidung im eingleisigen Verfahren zurückverwiesen.

3. In Anwendung der unter 1. aufgestellten Grundsätze auf den vorliegenden Rechtsstreit müßten die Vorentscheidung aufgehoben und die Klage gegen die Beschwerdeentscheidung abgewiesen werden. Die anstehenden Rechts- und Billigkeitsfragen wären sodann in dem beim FA noch anhängigen Einspruchs- und ggf. in den sich daran anschließenden Klage- und Revisionsverfahren zu prüfen. Eine solche Entscheidung des Senats würde indes den auf die bisherige Rechtsprechung zur Zweigleisigkeit und auf die entsprechenden Rechtsmittelbelehrungen der Finanzbehörden vertrauenden Steuerpflichtigen in unzumutbarer Weise belasten. Auf Grund dieser besonderen Situation geht der Senat davon aus, daß der Rechtsstreit nach einem - wenn auch nach dem Grundsatz der Eingleisigkeit mit einem falschen Rechtsbehelf bei der hierfür nicht zuständigen Stelle eingeleiteten - Verwaltungsvorverfahren ordnungsgemäß beim FG anhängig wurde und dort im vollen Umfang (Rechtsund Billigkeitsfrage) zur gerichtlichen Entscheidung stand. Von einer Aufhebung der Vorentscheidung und Abweisung der Klage aus verfahrensrechtlichen Gründen wird daher abgesehen.

4. Gleichwohl kann die Vorentscheidung keinen Bestand haben, denn das FG hat zu Unrecht die Voraussetzungen für die Bildung einer Rücklage für Ersatzbeschaffung (Abschn. 35 EStR) für gegeben erachtet. Verwaltung und Rechtsprechung lassen es zu, daß ein steuerpflichtiger Gewinn, der beim Abgang eines Wirtschaftsguts durch Auflösung stiller Rücklagen entstehen würde, durch Übertragung der stillen Rücklage auf ein Ersatzwirtschaftsgut oder durch Bildung einer steuerfreien Rücklage für Ersatzbeschaffung vermieden wird, wenn das Wirtschaftsgut infolge höherer Gewalt oder infolge eines behördlichen Eingriffs gegen Entschädigung aus dem Betriebsvermögen ausscheidet und im selben Wirtschaftsjahr ein Ersatzwirtschaftsgut angeschafft oder hergestellt wird oder wenn an dem auf das Ausscheiden des Wirtschaftsguts folgenden Bilanzstichtag eine Ersatzbeschaffung ernstlich geplant ist (Abschn. 35 EStR; Urteil des BFH I 97/65 vom 12. März 1969, BFH 95, 178, BStBl II 1969, 381). Das gleiche gilt, wenn ein Wirtschaftsgut zur Vermeidung eines behördlichen Eingriffs veräußert wird (BFH-Entscheidung I 18/5 vom 15. Januar 1969, BFH 95, 92, BStBl II 1969, 310). Nach der Rechtsprechung des I. Senats des BFH muß der behördliche Eingriff nicht in einer Enteignung liegen, sondern kann auch in einem Bauverbot bestehen (vgl. BFH-Entscheidung I 51/59 U vom 22. September 1959, BFH 72, 1, BStBl III 1961, 1). Den genannten Entscheidungen liegt der gemeinsame Gedanke zugrunde, daß durch behördliche Maßnahmen jeweils eine unmittelbare Einwirkung auf das aus dem Betrieb ausscheidende Wirtschaftsgut erfolgte. Hieran fehlt es im vorliegenden Falle. Weder trat hinsichtlich der öffentlich-rechtlich zulässigen Verwendungsmöglichkeit des Grundstücks eine Änderung ein noch wurde der Bestand des Gebäudes durch behördliche Maßnahmen angetastet. Der dem Steuerpflichtigen entstandene Nachteil, der ihn schließlich zur Veräußerung des Grundstücks bewog, ist vielmehr eine Folge der allgemeinen Zunahme des öffentlichen Straßenverkehrs, die vielerorts zu Haltebzw. Parkverboten, Straßensperrungen, Umleitungen oder ähnlichen verkehrstechnischen Maßnahmen zwingt, die wiederum in zahllosen Fällen zum Teil empfindliche Behinderungen der Anlieger nach sich ziehen.

In Fällen dieser art mag zwar eine wirtschaftliche Zwangslage bestehen. Dies allein rechtfertigt jedoch die Bildung einer Rücklage für Ersatzbeschaffung nicht (vgl. BFH-Urteil IV 40/62 U vom 20. August 1964, BFH 80, 83, BStBl III 1964, 504). Die Grundsätze über die steuerfreie Rücklage für Ersatzbeschaffung sind erkennbar auf bestimmte Ausnahmetatbestände beschränkt. Die Gewinnverwirklichung ergibt sich in den Regelfällen und somit auch im Streitfall aus der Anwendung der §§ 4, 5, 6 EStG, die den Ansatz der Entschädigung als Teil des Betriebsvermögens der Steuerpflichtigen (§ 5 EStG) und den Ansatz des neuen Grundstücks zu den Anschaffungskosten ohne Abzug einer Entschädigung (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 EStG) gebieten (vgl. BFH-Entscheidung I 97/65 vom 12. März 1969, a. a. O.).

Da das FG seine zugunsten des Steuerpflichtigen getroffene Entscheidung auf eine andere Rechtsauffassung stützte, mußte die Vorentscheidung aufgehoben werden. Die Sache geht an das FG zurück, das nunmehr zu prüfen haben wird, ob der Klage aus anderen Rechtsgründen stattgegeben werden kann, oder - falls nicht - ob das FA die Billigkeitsanträge des Steuerpflichtigen zu Unrecht abgelehnt hat. Dabei wird die vom Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes - Az. GmS 2-6/70 - zu erwartende Entscheidung zu § 131 AO zu beachten sein (vgl. Kommunale Steuer-Zeitschrift 1970 S. 49).

Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 69534

BStBl II 1971, 664

BFHE 1971, 493

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