Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Bei der Anrufung des Bundesfinanzhofs nach § 468 Absatz 1 AO hat das Strafgericht die Gründe darzulegen, die es zu einer von der Entscheidung der Finanzbehörden oder Finanzgerichte abweichenden Auffassung veranlassen.

Beruht die rechtskräftige Entscheidung der Finanzbehörden oder der Finanzgerichte auf Schätzungen nach § 217 AO, so besteht weder bezüglich der Besteuerungsgrundlagen noch bezüglich der Höhe der Steuerverkürzung eine Bindung der Strafgerichte an die Beurteilung durch die genannten Steuerbehörden.

 

Normenkette

AO §§ 217, 468 Abs. 1

 

Tatbestand

Auf Grund von Ermittlungen durch den Betriebsprüfungs- und Steuerfahndungsdienst hat das Finanzamt in erheblichem Umfange Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuer- sowie Ausgleichsumlagebeträge für die Zeit vom 1. Januar 1946 bis I/1949 nachgefordert. Diese Nachforderungen beruhen, da der Steuerpflichtige (Stpfl.) teils keine, teils unzureichende Aufzeichnungen geführt hat, auf Schätzungen, deren Grundlage ein Vermögensvergleich bildet; auch bei diesem sind eine Reihe von Posten schätzungsweise ermittelt. Die Steuerbescheide sind rechtskräftig.

Gegen den wegen Steuerhinterziehung erlassenen Strafbescheid hat der Stpfl. Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt. In der Hauptverhandlung vom 23. Oktober 1951 vor dem Schöffengericht stellte der Verteidiger den Antrag, über die Höhe der bis zum 20. Juni 1948 eingetretenen Steuerverkürzung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs herbeizuführen. Das Gericht hat daraufhin gemäß § 468 Absatz 1 der Reichsabgabenordnung (AO) die Aussetzung des Verfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung durch den Bundesfinanzhof beschlossen und diesem auf Grund des Beschlusses die Akten zur Entscheidung übersandt.

 

Entscheidungsgründe

Dem Antrage kann nicht entsprochen werden, da die Voraussetzungen für eine nach § 468 Absatz 1 AO zu treffende Entscheidung nicht vorliegen.

Diese Vorschrift will dem unerwünschten Ergebnis vorbeugen, daß Strafgerichte, wenn sie über Steuerhinterziehungen oder Steuergefährdungen zu befinden haben, das Bestehen eines Steueranspruchs abweichend von der Beurteilung der Steuerbehörden verneinen oder bejahen, oder die Höhe der Steuer in anderer Weise bestimmen. Die Einheitlichkeit der Rechtsordnung erfordert eine möglichst einheitliche Behandlung der gleichen Frage. Deshalb ist in gewissem Umfange eine Bindung der Strafgerichte an die Entscheidungen der Steuerbehörden vorgesehen. Wenn eine strafgerichtliche Entscheidung wegen Steuerhinterziehung oder Steuergefährdung davon abhängt, ob ein Steueranspruch besteht, oder ob und in welcher Höhe ein Steueranspruch verkürzt, oder ein Steuervorteil zu Unrecht gewährt ist, bestimmt § 468 Absatz 1 AO die Bindung der Strafgerichte an die steuerrechtliche Entscheidung, wenn der Bundesfinanzhof über die steuerlichen Vorfragen sachlich entschieden hat. Trifft das nicht zu, d. h. liegt zwar eine rechtskräftige Entscheidung des Finanzamts oder einer Rechtsmittelbehörde, die aber nicht der Bundesfinanzhof ist, vor, so hat das Gericht, wenn es von dieser Entscheidung abweichen will, die Entscheidung des Bundesfinanzhofs einzuholen. Das setzt voraus, daß das Gericht zu der Frage, ob ein Steueranspruch besteht, oder ob und in welcher Höhe ein solcher verkürzt ist, schlüssig Stellung genommen hat und dabei zu einem von dem rechtskräftigen Bescheid der Steuerbehörde abweichenden Ergebnis gelangt. Dazu gehört aber, daß das Gericht die Gründe, die es zu einer abweichenden Auffassung veranlassen, darlegt, damit der Bundesfinanzhof die Bedenken würdigen kann. Nur so können die Belange des Angeklagten und die abweichende Meinung des Gerichts in dem erforderlichen Maße berücksichtigt werden (siehe hierzu Entscheidungen des Reichsfinanzhofs V C 1/21 vom 13. Dezember 1921, Slg. Bd. 7 S. 290, Kartei, AO § 433 Rechtsspruch 1; VI e F 3/24 vom 14. Mai 1924, Steuer und Wirtschaft - StW - 1924 Nr. 245; IV F 16/25 vom 13. Januar 1926, Slg. Bd. 18 S. 111, Kartei, AO § 433 Rechtsspruch 30, 31; IV F 8/29 vom 18. September 1929, StW 1929 Nr. 767, Kartei, AO § 433 Rechtsspruch 49; III F 1/37 vom 23. September 1937, Reichssteuerblatt - RStBl. - 1937 S. 1088 Kartei, AO 1931 § 468 Allgemeines, Rechtsspruch 40; VI F 2/38 vom 15. Juni 1938, Grundwerk zur Steuerrechtsprechung in Karteiform - GW-StRK - I S. 487). Der Beschluß des Schöffengerichts wird diesen Voraussetzungen nicht gerecht. Es hat ohne eigene Stellungnahme ohne weiteres dem Antrage des Verteidigers entsprochen. Der Beschluß läßt nicht erkennen, daß das Schöffengericht zu der Frage der Höhe der Steuerverkürzung überhaupt Stellung genommen hat, noch viel weniger aus welchen Gründen. Das Gericht muß sich aber zur Höhe des Steueranspruchs äußern und erklären, warum es abweichen will. Es scheint der irrtümlichen Auffassung zu sein, der Bundesfinanzhof sei auch ohne eine entsprechende Darlegung zur Nachprüfung der Höhe der Steuerverkürzung berufen.

Abgesehen hiervon kommt auch aus einem weiteren Grunde die Anrufung des Bundesfinanzhofs nicht in Betracht.

Unstreitig liegen den rechtskräftigen Steuerbescheiden Tatbestände zugrunde, die im Schätzungsverfahren nach § 217 AO ermittelt sind. Das Strafrecht ist von dem Grundsatz beherrscht, daß bestraft nur werden kann, dessen Schuld voll nachgewiesen ist; bleiben rechtserhebliche Tatsachen unbewiesen, so muß zugunsten des Stpfl. entschieden werden. Das Strafrecht verlangt den Beweis der Schuld, das Schätzungsverfahren der Reichsabgabenordnung ist dagegen im großen Umfange auf Vermutungen, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten angewiesen. Deshalb haben bereits Reichsgericht wie Reichsfinanzhof ausgesprochen, daß eine Entscheidung nach § 468 Absatz 1 AO nicht in Betracht kommt, wenn die rechtskräftigen Veranlagungen in der Hauptsache auf Schätzungen beruhen. Zu der Frage, ob allgemein bezüglich der Höhe der Steuerverkürzung keine Bindung des ordentlichen Strafgerichts anzunehmen ist, braucht bei dem gegebenen Sachverhalt nicht Stellung genommen zu werden; in jedem Falle gilt das bei Schätzungen. Hier besteht ebensowenig eine Bindung an die Höhe wie an die Besteuerungsunterlagen. Das Strafgericht kann zwar die volle überzeugung von der Schuld des Angeklagten und der Richtigkeit der Höhe der Steuerverkürzung auch auf Grund der Schätzungen der Steuerbehörden oder der Finanzgerichte erlangen, wenn es auf dieser Grundlage von der Gewißheit der Ereignisse überzeugt ist (siehe Reichsgericht 5 D 955/37 und 4 D 643/37 in Deutsche Justiz 1938, S. 1497/98 und 380); es kann auch auf Grund dieser Erkenntnis zu einer Verurteilung des Angeklagten wegen Steuerhinterziehung oder Steuergefährdung gelangen. Es ist aber durch § 468 Absatz 1 AO nicht genötigt, die vom Finanzamt im Schätzungswege getroffene Entscheidung über die steuerlichen Vorfragen seiner strafrechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen (siehe Reichsgericht 1 D 396/32 vom 6. Februar 1934, Reichsgericht in Strafsachen Bd. 68 S. 45 ff., RStBl. 1934 S. 212, Kartei, AO 1931 § 468 Allgemeines, Rechtsspruch 19, 20; Entscheidungen des Reichsfinanzhofs V C 10/22 vom 17. Oktober 1922, RStBl. 1923 S. 33, Slg. Bd. 10 S. 280, Kartei; AO § 433 Rechtsspruch 7; VI F 2/37 vom 8. Dezember 1937, RStBl. 1938 S. 42, Slg. Bd. 42 S. 325, Kartei, AO § 468 Allgemeines, Rechtsspruch 41; VI F 2/38 vom 15. Juni 1938, GW-StRK I S. 487, RStBl. 1938 S. 612; Reichsgericht 3 D 127/43 vom 9. September 1943, GW-StRK I S. 488). Der Reichsfinanzhof hat darüber hinaus sogar ausgesprochen, daß der Strafrichter an Entscheidungen von Finanzbehörden oder Finanzgerichten darüber, ob ein Steueranspruch besteht, nicht gebunden ist, wenn diese Entscheidungen auf Schätzungen beruhen (Entscheidung des Reichsfinanzhofs V c F 3/41 vom 16. September 1941, GW-StRK I S. 489, RStBl. 1941 S. 792). Um so weniger kann von einer Bindung des Strafrichters an die von den Finanz- oder Rechtsmittelbehörden vorgenommene Höhe der Schätzungen die Rede sein. In diesen Fällen ist für eine Anwendung des § 468 Absatz 1 AO kein Raum. Der Beschluß des Schöffengerichts beruht demnach auch aus diesem Grunde auf einer rechtsirrigen Auffassung des Zweckes und der Bedeutung des § 468 Absatz 1 AO. Es ist, wie dargelegt, bezüglich der Höhe der Steuerverkürzung an die Feststellungen des Finanzamts nicht gebunden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 407375

BStBl III 1952, 103

BFHE 1953, 261

BFHE 56, 261

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Finance Office Professional. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge