Leitsatz (amtlich)

Begehrt der Steuerpflichtige die Erstattung von Eingangsabgaben ausschließlich aus Gründen, die eine Berichtigung des Steuerbescheids rechtfertigen könnten, darf, auch wenn der Antrag auf Erstattung aus Billigkeitsgründen lautet, von einer Prüfung, ob von der Berichtigungsbefugnis nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO Gebrauch gemacht werden soll, nicht abgesehen werden.

 

Normenkette

AO § 94 Abs. 1 Nr. 1, § 131 Abs. 1 S. 1; FGO § 102; ZG § 23

 

Tatbestand

Die Zollzweigstelle (ZZ) X fertigte in der Zeit vom 27. Juli 1965 bis zum 6. Juni 1966 in 8 Sendungen sogenannte "Cremogen-Trinkfrüchte" (hergestellt aus Aprikosen-, Pfirsich-, Birnen-, Heidelbeer-, Orangen- und Tomatensaft), die der Kläger aus Italien eingeführt hatte, zum freien Verkehr ab. Die als Aprikosensaft, Heidelbeersaft usw. angemeldeten Waren wies die ZZ verschiedenen Tarifstellen der Tarifnr. 20.07 des Zolltarifs (ZT) zu. Die Eingangsabgabenbescheide, ausgenommen die Bescheide vom 11. Mai und 6. Juni 1966, wurden vorläufig erteilt und mit Verfügung des Zollamts (ZA) A vom 23. Mai 1966 für endgültig erklärt. Bei der ersten Abfertigung entnahm die ZZ Proben und sandte sie der Zolltechnischen Prüfungs- und Lehranstalt (ZPLA) B zwecks Untersuchung ein. Diese teilte der ZZ mit Schreiben vom 20. Dezember 1965 mit, die Getränke fielen unter verschiedene Positionen der Tarifstelle 20.07-B. Bei späteren Abfertigungen beantragte der Kläger allgemein Abfertigung gemäß § 79 Abs. 2 des Zollgesetzes (ZG). Die ZZ fertigte den bis dahin niedriger verzollten Tomatensaft entsprechend diesen Anträgen ab. Mit Schreiben vom 15. August 1966 wandte sich die ZZ unter Vorlage eines von dem Kläger eingereichten Gutachtens der ZPLA C nach dem die Getränke - außer Tomatensaft - der Tarifnr. 22.02 zuzuweisen waren, an die ZPLA B und bat um Überprüfung. In dem Schreiben ist ferner darauf hingewiesen, der Kläger habe einen Zollbescheid des ZA D vorgelegt, in dem dieselben Waren ebenfalls der Tarifnr. 22.02 zugewiesen worden seien, nachdem sie die ZPLA E untersucht habe.

Die ZPLA B antwortete nach erneuter Probenunter suchung mit Schreiben vom 29. September 1966, sie zöge das Gutachten vom 20. Dezember 1965 zurück und schließe sich der Auffassung an, daß die Getränke - außer Tomatensaft - der Tarifnr. 22.02 zu unterstellen seien. Ein Wasserzusatz habe weder mit Sicherheit angenommen noch ausgeschlossen werden können. Aus diesem Grunde habe sie vorher die Waren der Tarifnr. 20.07 zugeordnet. Sie schließe sich aber der Auffassung der OFD Y an, die in mehreren verbindlichen Zolltarifauskünften (vZTA) vergleichbare Ware der Tarifnr. 22.02 zugewiesen habe.

Mit seinen Schreiben vom 4. und 8. Oktober 1966 beantragte der Kläger, die "zu hoch gezahlten Zollgebühren" aus Billigkeitsgründen zu erstatten. In seinem Schreiben vom 28. Februar 1967 bezifferte der Kläger diesen Betrag auf 6 556,70 DM und im Klageverfahren mit Schriftsatz vom 7. Mai 1968 auf 6 080,20 DM.

Das Hauptzollamt (HZA) lehnte den Antrag durch Verfügung vom 12. Mai 1967 ab, weil der Kläger weder vor den Einfuhren eine vZTA eingeholt noch gegen die Zollbescheide Rechtsbehelfe eingelegt habe. Die Beschwerde blieb erfolglos.

Auf die Klage wurden die Beschwerdeentscheidung vom 30. Oktober 1967 und die ablehnende Verfügung vom 12. Mai 1967 aufgehoben.

Das FG hielt die Aufhebung wegen zweier verschiedener Rechtsfehler für gerechtfertigt. Einmal sei der Antrag des Klägers in Anbetracht des vorliegenden Sachverhalts objektiv nicht zutreffend gewürdigt worden. Der Antrag auf Erstattung "aus Billigkeitsgründen" sei nicht der zweckmäßigste Antrag gewesen. Eine Berichtigung nicht zutreffend festgesetzter Eingangsabgaben ermögliche § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO. Grundsätzlich sei davon auszugehen, daß der Steuerpflichtige den Antrag stellen wolle, der dem Sachverhalt und der Rechtslage am angemessensten sei. Das HZA hätte klären müssen, welchen Antrag der Kläger stellen wolle.

Abgesehen von diesem Verfahrensfehler hielten die Entscheidungen der Zollverwaltung einer Nachprüfung, ob das Ermessen bei der Entscheidung über einen Billigkeitserlaß fehlerfrei ausgeübt worden sei, nicht stand. Der Ermessensfehler liege darin, daß der vorliegende Sachverhalt weder vollständig noch ausreichend gewürdigt worden sei. Der Antrag hätte nicht mit der Begründung abgelehnt werden dürfen, der Kläger habe es unterlassen, gemäß § 23 ZG eine vZTA einzuholen, weil es nicht Zweck der vZTA sei, den Zollbeteiligten vor unberechtigten Abgabenforderungen zu schützen. Auch die Begründung, der Kläger habe es unterlassen, gegen die ergangenen Bescheide Einspruch einzulegen, könne die Ablehnung der begehrten Erstattung aus Billigkeitsgründen nicht rechtfertigen, weil nach Sachlage für den Kläger kein Grund vorgelegen habe, gegen die Zollbescheide Einsprüche einzulegen, die mit einem Kostenrisiko verbunden gewesen wären. Abschließend heißt es in den Entscheidungsgründen des finanzgerichtlichen Urteils, daß das HZA nach Aufhebung der ergangenen Verwaltungsentscheidungen über den Antrag des Klägers vom 4. und 8. Oktober 1966 neu zu entscheiden haben werde. Dabei werde in Verbindung mit dem Kläger zu prüfen sein, ob der Antrag nicht als Berichtigungsantrag gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO auszulegen sei. Gegebenenfalls sei auch bei einer Ermessensentscheidung gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO der Sachverhalt unter Berücksichtigung der Entscheidungsgründe des FG zu würdigen.

Mit seiner Revision beantragt das HZA, die Vorentscheidung aufzuheben, sinngemäß mit dem weiteren Begehren, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wird geltend gemacht, Anträge auf Berichtigung eines Steuerbescheids nach § 94 AO und auf Erstattung von Eingangsabgaben aus Billigkeitsgründen nach § 131 AO seien verfahrensmäßig scharf voneinander zu trennen. Dies gelte insbesondere wegen der unterschiedlichen sachlichen Voraussetzungen und vor allem wegen der verschiedenen Anfechtungsarten. Seien aber die Verfahren demnach verschieden, so bestimme der Antragsteller, welchen Weg er beschreiten wolle. Beantrage er - wie vorliegend - Erstattung "aus Billigkeitsgründen", dann dürfte nur dieses Verfahren durchzuführen sein. Anlaß zu einer Klarstellung und damit zu einer Rückfrage hätte nur dann bestanden, wenn der Antrag unklar formuliert gewesen wäre oder der Billigkeitsantrag völlig neben der Sache gelegen hätte.

Die Voraussetzungen für eine Berichtigung der Steuerbescheide nach § 94 AO seien im Streitfalle nicht gegeben gewesen. Es sei ständige Rechtsprechung des BFH und der FG, daß die Ablehnung der Berichtigung unanfechtbarer Steuerbescheide in der Regel nicht ermessensfehlerhaft sei, wenn der Steuerpflichtige von einem möglichen Rechtsbehelf keinen Gebrauch gemacht habe. Dies gelte insbesondere auch für Tarifstreitigkeiten. Die Besonderheiten der neuesten Rechtsprechung des BFH zu § 94 AO, die von den früheren Entscheidungen nicht abwichen, sondern sie ergänzten und verdeutlichten, lägen nicht vor.

Der Ansicht des FG, daß für den Kläger kein Grund vorgelegen habe, die Bescheide anzufechten, weil er vermutlich erst im August 1966 Zweifel an der Richtigkeit der Tarifierung gehabt habe, könne nicht gefolgt werden. Es stehe außer Zweifel, daß dem Kläger bereits im Mai 1966 bekanntgewesen sei, daß andere Zollstellen im Zollgebiet die Säfte der Tarifnr. 22.02 zugeordnet hätten.

Auch die vom FG erhobenen Zweifel an dem Zugang der Endgültigkeitserklärung des ZA A vom 23. Mai 1966 müßten inzwischen als ausgeräumt angesehen werden. Die Urschrift dieser Verfügung, die nunmehr den Akten beigefügt sei, enthalte den Absendenachweis. Im übrigen habe der Kläger erst in der mündlichen Verhandlung vor dem FG den Zugang auf Befragen des Gerichts bestritten.

Nach allem habe es daher beim Kläger gelegen, die Bescheide entweder anzufechten oder sie mit der Tarifierung der Zollstelle hinzunehmen. Die Entscheidung in dieser Hinsicht könne einem Importeur nicht abgenommen werden; er habe sie im Rahmen des kaufmännischen Risikos selbst zu treffen.

Gerade in Tarifsachen seien Meinungsverschiedenheiten über die richtige Tarifierung eingeführter Waren an der Tagesordnung. Hier sei es unerläßlich, daß Zollbeteiligte jeweils alsbald zu erkennen gäben, ob sie gegen die Tarifierung einer Zollstelle vorgehen wollten. Jede vZTA, die zu neuen Erkenntnissen komme, würde sonst zu einer Welle von Erstattungen führen, wenn sich dadurch eine niedrigere Abgabenbelastung ergebe.

Eine Berichtigung der Steuerbescheide nach § 94 AO sei somit nicht in Betracht gekommen. Es habe für das HZA also auch kein Anlaß bestanden, den Kläger auf diesen nach Ansicht der Verwaltung erfolglosen Weg besonders hinzuweisen.

Da die Gründe, die der Kläger vorgebracht habe, Fragen der Rechtmäßigkeit der Steuerbescheide beträfen, bestehe grundsätzlich keine Veranlassung, sie auch noch im Billigkeitsverfahren zu berücksichtigen. Ein besonderer Ausnahmefall liege nicht vor. Wenn die unzutreffenden Gutachten der ZPLA als Billigkeitsgrund gewertet werden sollten, genüge nicht objektive Unrichtigkeit; darüber hinaus müsse ein Verschulden der Untersuchungsstelle vorliegen. Daran fehle es aber. Die Änderung der Tarifbeurteilung einer Ware allein reiche dazu nicht aus.

Der Kläger hat im Revisionsverfahren keinen Antrag gestellt und auch keine Stellungnahme abgegeben.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Der Vorschrift des § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO, daß die Revisionsbegründung oder die Revision die verletzte Rechtsnorm bezeichnen muß, ist genügt. Das HZA hat zwar nicht ausdrücklich erklärt, welche Rechtsnorm nach seiner Auffassung durch die Vorentscheidung verletzt worden sei, aber insgesamt doch zum Ausdruck gebracht, daß seine auf § 131 AO gestützte Entscheidung über den Erstattungsantrag richtig gewesen sei und daher vom FG nicht hätte aufgehoben werden dürfen. Damit sind die Mindestanforderungen des § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO auch insoweit erfüllt (vgl. BFH-Urteil II R 118/67 vom 5. November 1968, BFH 94, 116, BStBl II 1969, 84).

Das FG hat zu Recht die ablehnende Verfügung des HZA und die Beschwerdeentscheidung aufgehoben. Denn das HZA hat durch seine mit der Beschwerdeentscheidung gebilligte Verfügung von dem ihm in den Vorschriften des § 94 Abs. 1 Nr. 1 und des § 131 Abs. 1 AO eingeräumten Ermessen in einer zweckwidrigen Weise Gebrauch gemacht (§ 102 FGO). § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO ermächtigt das HZA, einen Bescheid über Zölle oder Verbrauchsteuern auch nach Eintritt der Unanfechtbarkeit zu ändern. Zweck dieser Ermächtigung ist die Verwirklichung der nachträglichen Erkenntnis, daß der Bescheid nicht der durch die Besteuerungsnorm geschaffenen materiellen Rechtslage entspricht. Die in § 131 Abs. 1 AO enthaltene Ermächtigung, Steuern zu erlassen oder zu erstatten, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig ist, geht hingegen grundsätzlich davon aus, daß der Steuerbescheid richtig ist, also der Besteuerungsnorm entspricht. Ihr Zweck liegt darin, sachlichen und persönlichen Besonderheiten des Einzelfalles, die der Gesetzgeber in der Besteuerungsnorm nicht berücksichtigt hat, durch eine den Steuerbescheid selbst nicht ändernde Korrektur des Steuerbetrages insoweit Rechnung zu tragen, als sie die steuerliche Belastung als unbillig erscheinen lassen. Wenn daher nach Eintritt der Unanfechtbarkeit eines Bescheides über Zölle oder Verbrauchsteuern der Steuerpflichtige beantragt, den festgesetzten Abgabenbetrag ganz oder teilweise zu erlassen oder zu erstatten, und sich für sein Begehren ausschließlich auf Gründe beruft, die eine Berichtigung rechtfertigen könnten, darf das HZA nicht von einer Prüfung absehen, ob es von der ihm durch § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO erteilten Befugnis zur Änderung des Bescheids Gebrauch machen kann. Dabei ist es unerheblich, ob der Steuerpflichtige, wie im vorliegenden Fall, die Meinung bekundet, die erbetene Maßnahme sei aus Gründen der Billigkeit geboten. Auch ein ausdrücklicher Antrag, unanfechtbar festgesetzte Zölle oder Verbrauchsteuern nach § 131 AO aus Billigkeitsgründen zu erlassen oder zu erstatten, ist unter den genannten Umständen grundsätzlich zunächst nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO zu prüfen.

Der Senat teilt nicht die Auffassung des HZA, daß infolge der Verschiedenheit der Rechtsbehelfe gegen eine Entscheidung nach § 131 AO einerseits und nach § 94 AO andererseits der Steuerpflichtige mit seinem Antrag bestimme, welchen Weg er beschreiten wolle. Eine solche Bedeutung kann einem Antrag des Steuerpflichtigen schon deshalb nicht zukommen, weil das Gesetz weder die Berichtigung des Bescheids nach § 94 AO noch den Erlaß oder die Erstattung von Abgaben aus Billigkeitsgründen nach § 131 AO von einem Antrag abhängig gemacht hat. Stellt also ein Steuerpflichtiger einen ausdrücklichen "Antrag" auf eine Maßnahme der in den §§ 94 und 131 AO erwähnten Art, so kann die Formulierung des Antrags grundsätzlich für die von der Sache her gebotene Prüfung des Falles nicht maßgebend sein. Nur da, wo verfahrensrechtlich ein Antrag vorgesehen ist, kann es auf dessen Wortlaut ankommen. Im übrigen setzt die Auffassung des HZA, aus der Verschiedenheit der gegen Entscheidungen nach § 94 AO und nach § 131 AO gegebenen Rechtsbehelfe ergebe sich, daß der Steuerpflichtige durch seinen Antrag den von ihm gewollten Weg bestimme, voraus, daß dem Steuerpflichtigen die Verschiedenheit der Rechtsbehelfe überhaupt bekannt ist. Eine solche Kenntnis kann aber dem Steuerpflichtigen nicht unterstellt werden und ist im vorliegenden Falle auch nicht festgestellt.

Das FG hat zutreffend auf den durch das Begehren nach Erstattung "zuviel" gezahlter Abgaben betonten Zusammenhang des Antrags des Klägers mit dem von diesem durch die Tarifauskünfte geführten Nachweis hingewiesen, daß die Abgabenbescheide auf falschen Tarifierungen beruhten. Da Maßnahmen nach § 94 und § 131 AO nicht von einem Antrag des Steuerpflichtigen abhängen, machte der Umstand, daß in dem Antrag von einer Erstattung "aus Billigkeitsgründen" die Rede war, es entgegen der Meinung des FG nicht erforderlich, vor einer Entscheidung nach § 94 AO durch Rückfrage zu klären, ob der Kläger eine solche erstrebt. Das HZA hätte wegen des zwischen dem Erstattungsbegehren und der Fehlerhaftigkeit der Abgabenbescheide bestehenden deutlichen Zusammenhangs trotz der Berufung des Klägers auf "Billigkeitsgründe" ohne weiteres und sogar in erster Linie prüfen müssen, ob Anlaß besteht, die Bescheide nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern. Aus dem Urteil des FG geht hervor, daß eine solche Prüfung nicht stattgefunden hat.

Da das HZA durch die angefochtene Verfügung vom 12. Mai 1967 die Erstattung der zuviel gezahlten Abgaben abgelehnt hat, ohne sich darüber zu äußern, ob ein Anlaß besteht, die Bescheide nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern und damit die Voraussetzung für eine Erstattung nach § 151 AO zu schaffen, verstößt die Verfügung gegen die Pflicht des HZA zur sachgerechten Ausübung des ihm durch § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO eingeräumten Ermessens. Schon deshalb hat das FG die Verfügung zu Recht aufgehoben.

Die angefochtene Verfügung des HZA und die Beschwerdeentscheidung der OFD, die den Antrag des Klägers als Antrag auf Erstattung von Abgaben aus Billigkeitsgründen im Sinne des § 131 AO behandelt haben, sind, wie erwähnt, Ermessensentscheidungen der Finanzverwaltungsbehörden im Sinne des § 102 FGO. Diese können von den FG nur dahin nachgeprüft werden, ob die durch das Gesetz der Ermessensausübung gesetzten Grenzen eingehalten sind sowie darauf, ob kein Ermessensmißbrauch im Sinne einer willkürlichen Handhabung der vom Gesetz gegebenen Ermächtigung vorliegt. Die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit sind nicht befugt, ihr eigenes Ermessen an die Stelle des Verwaltungsermessens zu setzen, weil sie etwa auf Grund einer anderen Beurteilung des an sich mehrere Entscheidungen als vertretbar zulassenden Sachverhalts eine andere Entscheidung für angebracht hielten. Ausgenommen ist nur der Fall, daß nur eine Entscheidung möglich ist, nämlich die Gewährung des begehrten Billigkeitserweises. In diesem Falle darf auch das FG bei Ablehnung eines Billigkeitserweises durch die Verwaltung im Sinne einer Billigkeitsmaßnahme entscheiden (vgl. Urteil des BFH VII 22/62 S vom 19. Januar 1965, BFH 81, 572, BStBl III 1965, 206). Die Auffassung des Senats ist durch den Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes GmS-OGB 3/70 vom 19. Oktober 1971 (BFH 105, 101, BStBl II 1972, 603 Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1972 S. 380) bestätigt worden, in dessen Rechtssatz es heißt, daß die Entscheidung der Behörde gemäß § 131 Abs. 1 Satz 1 AO darüber, ob die Einziehung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, von den Gerichten nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen ist, wobei der Maßstab der Billigkeit Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens bestimmt.

Das FG ist der Auffassung, daß, abgesehen von dem vermeintlichen Verfahrensfehler, die ablehnenden Entscheidungen der Verwaltung nicht ermessensfehlerfrei seien. Der Ermessensfehler liege darin, daß der vorliegende Sachverhalt weder vollständig noch ausreichend gewürdigt worden sei.

Die Verwaltung hat einen Billigkeitserweis einmal deswegen abgelehnt, weil der Kläger es unterlassen habe, eine vZTA gemäß § 23 ZG einzuholen. Der Senat tritt der Auffassung der Vorinstanz bei, daß es kein Grund für eine Verweigerung eines Billigkeitserweises sein konnte, daß der Kläger keine vZTA eingeholt hat. Die vZTA soll - unter anderem - vor berechtigten Nachforderungen schützen. Im Streitfalle geht es aber nicht um eine Nachforderung von Abgaben, sondern im Gegenteil um eine Erstattung zuviel entrichteter Abgaben. Es kann auch nicht eingewendet werden, daß es nicht zu den höheren Abgabenforderungen gekommen wäre, wenn der Kläger vor Beginn der Einfuhren eine vZTA eingeholt hätte. Zwar ergibt sich aus dem Schreiben der ZPLA B vom 29. September 1966, daß die für derartige vZTA zuständige OFD Y vergleichbare Waren in ihrer vZTA vom 14. Oktober 1965 der Tarifnr. 22.02 zugewiesen hat. Doch lag diese Auskunft nach dem Beginn der Einfuhren des Klägers, so daß es nicht ausgeschlossen ist, daß die OFD Y zu einem früheren Zeitpunkt die Ware einer Tarifstelle mit höherer Zollbelastung zugewiesen hätte und erst nachträglich die fehlerhafte Tarifierung festgestellt worden wäre. Es ist jedenfalls nicht erwiesen, daß eine vZTA dem Kläger vor Beginn der Einfuhren von Nutzen gewesen wäre.

Die Nichteinholung einer vZTA kann also keinen Grund für die Ablehnung der begehrten Erstattung der Abgaben aus Billigkeitsgründen darstellen.

Die Verwaltung hat einen Billigkeitserweis auch deswegen abgelehnt, weil der Kläger es unterlassen hat, gegen die Abgabenbescheide Einspruch einzulegen, obwohl er an deren Richtigkeit zumindest nach Kenntnis des Abfertigungsbeleges Nr. 2/5179 des ZA D vom 9. Mai 1966 und des Gutachtens der ZPLA C habe zweifeln müssen. Das ZA A habe erst mit Schreiben vom 23. Mai 1966 Zollbescheide für endgültig erklärt, die dem Erstattungsantrag zugrunde gelegen hätten. Die beiden restlichen Einfuhrsendungen seien im Mai bzw. Juni 1966 abgefertigt worden.

Den Ausführungen der Zollverwaltung muß entnommen werden, daß sie einen Billigkeitserweis gewährt hätte, wenn dem Kläger im Mai bzw. Juni 1966 die abweichende Tarifauffassung anderer Zollstellen noch nicht bekanntgewesen wäre, wenn er also im Vertrauen auf die Richtigkeit der Zollbescheide es unterlassen hätte, diese anzufechten.

Das FG hat aus den in der Vorentscheidung näher dargelegten Gründen dazu festgestellt, es sei zweifelhaft, ob der Kläger die erwähnten Unterlagen schon bei den Abfertigungen vom 11. Mai und 6. Juni 1966 zur Verfügung hatte. Weiter heißt es in der Vorentscheidung, es erscheine zweifelhaft, ob er diese Unterlagen schon Ende Mai 1966 besaß, als ihm - wie das HZA behaupte - die Endgültigkeitserklärung des ZA A vom 23. Mai 1966 der bis dahin als vorläufig ergangenen Zollbescheide zugegangen ist. Da der Kläger nach der Feststellung der Vorinstanz den Zugang der Endgültigkeitserklärung bestritten hat und in der mündlichen Verhandlung der Nachweis des Zugangs nicht erbracht werden konnte, hat das FG den Zugang als sehr ungewiß angesehen. Wenn das HZA nunmehr den Akten die Urschrift der Endgültigkeitserklärung mit dem Absendevermerk beigefügt hat, ist damit allein der Zugang dieser Erklärung nicht bewiesen. Es spricht nur eine Vermutung dafür, daß dieses Schriftstück abgesandt worden ist. Da der Kläger den Zugang bestritten hat, ist nach § 17 Abs. 2 VwZG die Behörde für den Zugang beweispflichtig.

Da sonach die von der Zollverwaltung angeführten Gründe die Ablehnung des Erstattungsantrages nicht rechtfertigen, hat die Vorinstanz die Verwaltungsentscheidungen zu Recht aufgehoben und der Zollverwaltung aufgetragen, über den Antrag des Klägers vom 4. und 8. Oktober 1966 erneut zu entscheiden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 425952

BStBl II 1972, 806

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