Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufrechnung durch das FA - nur bei materiell-rechtlichem Bestehen der Gegenforderung

 

Leitsatz (NV)

Das FA kann zwar gegen Steuererstattungsansprüche mit Steuerforderungen aufrechnen, die angefochten worden sind. Die Aufrechnung ist aber nur wirksam, wenn die Gegenforderung materiell-rechtlich besteht.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 47, 218 Abs. 2, § 226 Abs. 1, 3; BGB §§ 387, 389

 

Tatbestand

Dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) stehen aufgrund der Einkommensteuerveranlagungen ... Steuerguthaben zu, die der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) mit Steuerrückständen aus den Einkommensteuerveranlagungen ... verrechnet hat. Der Einspruch und die Klage gegen den Abrechnungsbescheid des FA, mit dem die Guthaben für die Jahre ... wegen der Aufrechnung mit 0 DM ausgewiesen sind, blieben erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) führte aus, die Aufrechnung durch das FA mit den Einkommensteuerschulden ... des Klägers sei wirksam. Der Kläger könne sich nicht mit Erfolg darauf berufen, daß die Einkommensteuer nicht bestandskräftig festgesetzt worden sei und er diese Schulden bestreite. Denn das FA könne - im Gegensatz zum Steuerpflichtigen (§ 226 Abs. 3 der Abgabenordnung - AO 1977 -) - auch mit bestrittenen und nicht bestandskräftigen Steueransprüchen aufrechnen. Die Tatsache, daß die Einkommensteuerbescheide ... angefochten und inzwischen teilweise zugunsten des Klägers geändert worden seien, stehe einer wirksamen Aufrechnung nicht entgegen. Sie führe lediglich dazu, daß insoweit die Aufrechnung nachträglich ihre Wirkung verliere mit der Folge, daß nunmehr der Differenzbetrag zu erstatten sei. Die Forderung des FA sei auch fällig und vollziehbar, denn sie sei weder ausgesetzt noch gestundet.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts, weil das FG über das Bestehen der Gegenforderung des FA nicht entschieden habe.

Bei der Frage, ob die Aufrechnung des FA wirksam sei, komme es entscheidend darauf an, ob dessen Gegenforderungen materiell berechtigt seien. Die volle materiell-rechtliche Überprüfung der Gegenforderungen im Verfahren über den Abrechnungsbescheid sei deshalb geboten, weil mit diesem entschieden werde, ob und ggf. in welcher Höhe der hier von ihm (dem Kläger) geltend gemachte Steuererstattungsanspruch noch bestehe. Eine lediglich formelle oder rechnerische Überprüfung der zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen, wie sie das FG vorgenommen habe, werde der Bedeutung des Abrechnungsbescheids, der in einem förmlich geregelten Verwaltungsverfahren mit Rechtsbehelfsmöglichkeiten ergehe, nicht gerecht. Wenn auch das FA - im Gegensatz zum Steuerpflichtigen - befugt sei, mit bestrittenen und nicht bestandskräftig festgestellten Gegenforderungen aufzurechnen, so stehe die Wirksamkeit dieser Aufrechnung doch unter der Voraussetzung, daß sich die Gegenforderungen in dem späteren Prozeß als materiell berechtigt erwiesen.

Unzutreffend sei insbesondere die Auffassung des FG, es sei ohne Belang, daß die Steuerbescheide ... später teilweise zu seinen (des Klägers) Gunsten geändert worden seien. Da die Gegenforderungen des FA bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung mehrmals erheblich herabgesetzt worden seien, hätte der Abrechnungsbescheid des FA als rechtswidrig aufgehoben oder geändert werden müssen. Das FG habe aber den Bestand der wechselseitigen Forderungen inhaltlich nicht überprüft und sogar die Minderung der Gegenforderungen, soweit sie auf geänderten Bescheiden beruhe, unberücksichtigt gelassen. Ferner sei die Vollziehung der gegen ihn ergangenen Einkommensteuerbescheide ... bezüglich mehrerer Teilbeträge ausgesetzt worden. Auch diese sich aus den Steuerakten ergebende Tatsache habe das FG bei seiner Entscheidung verfahrensfehlerhaft außer acht gelassen. Bei der gebotenen Sachaufklärung über das Bestehen der Gegenforderungen des FA hätte das FG der Klage in voller Höhe stattgeben müssen.

Im Streitfall seien vor dem FG Klageverfahren wegen der gegen ihn ergangenen Einkommensteuerbescheide ... anhängig. Das FG habe bei der Entscheidung über den Abrechnungsbescheid die Wahl gehabt, ob es dieses Verfahren bis zur Erledigung der Klagen über die Einkommensteuerbescheide aussetzen, alle Klagen verbinden oder über den Abrechnungsbescheid unter eigener Prüfung der wechselseitigen Forderungen entscheiden wolle. Bei seiner Entscheidung über den Abrechnungsbescheid habe das Gericht dann nicht nur die Prüfung der zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen des FA, sondern auch die der klägerischen Einkommensteuerguthaben, die ebenfalls noch nicht rechtskräftig festgestellt seien, unterlassen.

Das FG habe ferner übersehen, daß der angefochtene Abrechnungsbescheid im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung schon deshalb unrichtig gewesen sei, weil für das Jahr ... inzwischen ein höheres Steuerguthaben als im Abrechnungsbescheid ausgewiesen festgesetzt worden sei. Die Fehlerhaftigkeit des Abrechnungsbescheids ergebe sich insbesondere daraus, daß er vom Status der Bescheide ausgehe, die bis zum ... erlassen worden seien, und die zahlreichen Änderungen und Aussetzungen der Vollziehung bis zum Ergehen des Abrechnungsbescheids und in der Folgezeit unberücksichtigt lasse. Das FA habe es versäumt, den Abrechnungsbescheid sukzessive zu ändern, und dem FG seien diese Fehler verborgen geblieben, weil es die Steuerakten nicht beigezogen habe.

Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung den Abrechnungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung dahin abzuändern, daß das an ihn auszuzahlende Steuerguthaben entsprechend dem materiell-rechtlichen Bestehen der Forderungen und Gegenforderungen festgesetzt wird, hilfsweise, die Sache an das FG zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Nach § 218 Abs. 2 AO 1977 entscheidet die Finanzbehörde über Streitigkeiten, die die Verwirklichung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis betreffen, durch Verwaltungsakt. Das gilt auch, wenn die Streitigkeit einen Erstattungsanspruch (§ 37 Abs. 2 AO 1977) betrifft. Der nach § 218 Abs. 2 AO 1977 zu erteilende Abrechnungsbescheid ergeht im Steuererhebungsverfahren. Er hat nur die Feststellung zum Inhalt, ob eine bestimmte Zahlungsverpflichtung erloschen ist (§ 47 AO 1977), d.h. ob wirksam gezahlt, aufgerechnet, verrechnet, erlassen, ob Verjährung eingetreten, die Schuld bereits vor der Begründung der Zahlungspflicht erloschen oder der Forderungsausgleich durch Vollstreckungsmaßnahmen erreicht worden ist. Die Begründung der Zahlungsverpflichtung ist hingegen nicht Gegenstand des Abrechnungsbescheids; sie wird vorausgesetzt. Deshalb können Gründe, die gegen die Steuerfestsetzung selbst erhoben werden, nicht im Abrechnungsverfahren geltend gemacht werden (vgl. Urteil des Senats vom 22. Juli 1986 VII R 10/82, BFHE 147, 117, BStBl II 1986, 776, 778 m.w.N.).

Im Streitfall streiten die Beteiligten darüber, ob und inwieweit der Steuererstattungsanspruch des Klägers aufgrund der Einkommensteuerveranlagung ... durch Aufrechnung mit Gegenforderungen des FA erloschen ist. Eine Entscheidung darüber kann nur nach Überprüfung des materiell-rechtlichen Bestehens der Gegenforderungen getroffen werden. Das folgt für den Erlöschenstatbestand der Aufrechnung, auf den sich das FA beruft, aus den §§ 387, 389 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), wonach nur die Aufrechnung mit bestehenden Forderungen bewirkt, daß die Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind. Nach den gemäß § 226 Abs. 1 AO 1977 für die Aufrechnung mit Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis sinngemäß geltenden Vorschriften des bürgerlichen Rechts muß die Gegenforderung, mit der der Schuldner aufrechnet, voll wirksam und fällig, d.h. erzwingbar sein (vgl. Palandt/Heinrichs, Bürgerliches Gesetzbuch, 51. Aufl., § 387 Anm. 5).

Wie der Senat im Urteil vom 17. September 1987 VII R 50-51/86 (BFHE 151, 304, BStBl II 1988, 366) ausgeführt hat, kann die Finanzbehörde - anders als der Steuerpflichtige aufgrund des für die Behörde nicht anwendbaren § 226 Abs. 3 AO 1977 - grundsätzlich auch mit solchen Forderungen aufrechnen, die vom Aufrechnungsgegner bestritten und noch nicht rechtskräftig festgestellt sind. Nach dieser Entscheidung ist die Behörde sogar befugt, mit einer Gegenforderung aufzurechnen, die auf einem angefochtenen und einstweilen nicht vollziehbaren Verwaltungsakt beruht. Die Anfechtung der Einkommensteuerbescheide ... durch den Kläger und die von der Revision behauptete Aussetzung der Vollziehung dieser Bescheide stellt also im Streitfall kein (formelles) Aufrechnungshindernis für das FA dar. Der Senat hat aber in der zitierten Entscheidung weiter ausgeführt, daß die Aufrechnung durch die Behörde nur wirksam ist (§§ 387, 389 BGB), wenn die Gegenforderung materiell-rechtlich besteht, was im Falle der Anfechtung der dieser Forderung zugrunde liegenden Verwaltungsakte erst feststeht, wenn die Anfechtungsverfahren rechtskräftig abgeschlossen sind (BFHE 151, 304, 310 bis 313, BStBl II 1988, 366). Die Entscheidung im Anfechtungsverfahren über den materiell-rechtlichen Bestand der Gegenforderung (Rechtmäßigkeit des zugrunde liegenden Verwaltungsakts) ist damit vorgreiflich für das Verfahren über die Wirksamkeit der Aufrechnung. Wie der Senat in BFHE 151, 304, 313, BStBl II 1988, 366 ausgeführt hat, empfiehlt es sich in derartigen Fällen, das Verfahren über die Aufrechnung gemäß § 74 FGO auszusetzen.

2. a) Die Vorentscheidung war aufzuheben, da sie mit den vorstehend dargestellten Rechtsgrundsätzen nicht in Einklang steht. Das FG hat im Verfahren über den Abrechnungsbescheid lediglich die formalen Voraussetzungen für die vom FA erklärte Aufrechnung (Gegenseitigkeit und Gleichartigkeit der Forderungen, Fälligkeit der Forderung des FA, keine Anwendbarkeit des § 226 Abs. 3 AO 1977), nicht aber den materiell-rechtlichen Bestand der Gegenforderungen, über die eine Anfechtungsklage beim FG anhängig ist, überprüft.

Ohne eine materiell-rechtliche Entscheidung über die Gegenforderungen hätte aber das FG die Klage gegen den Abrechnungsbescheid nicht abweisen dürfen. Denn ob eine Aufrechnung Tilgungwirkung entfaltet und damit der Abrechnungsbescheid, der diese Aufrechnung beinhaltet, rechtmäßig ist, entscheidet sich letztlich aufgrund von Erfolg oder Mißerfolg der Anfechtungsklage. Den verfahrensmäßigen Schwierigkeiten, die sich aus der Vorgreiflichkeit des Anfechtungsverfahrens über die der Gegenforderung zugrunde liegenden Verwaltungsakte für das Verfahren über den Abrechnungsbescheid ergeben, kann durch eine Verbindung der Klageverfahren zu gemeinsamer Entscheidung (§ 73 Abs. 1 FGO) oder durch eine Aussetzung des Verfahrens über den Abrechnungsbescheid bis zur Entscheidung über die Anfechtungsklage gegen den die Gegenforderung festsetzenden Steuerbescheid (§ 74 FGO) Rechnung getragen werden. Da der Senat wegen des noch anhängigen Klageverfahrens gegen die Einkommensteuerbescheide ... des Klägers über die Wirksamkeit der Aufrechnung durch das FA nicht abschließend entscheiden kann, war das Verfahren über den Abrechnungsbescheid an das FG zurückzuverweisen.

b) Bei seiner erneuten Entscheidung wird das FG folgendes zu beachten haben:

Für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit eines Abrechnungsbescheids wie bei der hier vorliegenden Anfechtungsklage sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Einspruchsentscheidung) maßgebend (Beschluß des Senats vom 2. März 1971 VII R 74/68, BFHE 102, 7, BStBl II 1971, 498; Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 218 AO 1977 Tz. 10). Der gerichtlichen Entscheidung sind also hinsichtlich der Hauptforderung des Klägers - Steuererstattungsanspruch aufgrund der Einkommensteuerveranlagungen ... - die Steuerfestsetzungen des FA in der Höhe zugrunde zu legen, wie sie im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung zum Abrechnungsbescheid bestanden haben. Spätere Änderungen der Einkommensteuerbescheide ... durch das FA oder das FG bleiben im vorliegenden Abrechnungsverfahren außer Betracht; sie könnten nur in einem neu zu erteilenden Abrechnungsbescheid Berücksichtigung finden. Dies folgt daraus, daß der Abrechnungsbescheid eine Entscheidung im Erhebungsverfahren ist, mit der über das Erlöschen einer Zahlungsverpflichtung (hier: Erstattungsanspruch des Klägers), nicht aber über die Entstehung des Steueranspruchs zu befinden ist (§ 218 Abs. 2 AO 1977: Verwirklichung der Ansprüche; BFHE 102, 7, BStBl II 1971, 498, 499).

Da - wie oben ausgeführt - im Hinblick auf die Wirksamkeit der Aufrechnung das materiell-rechtliche Bestehen der Gegenforderungen, mit denen das FA aufgerechnet hat, der uneingeschränkten Überprüfung im vorliegenden Abrechnungsverfahren unterliegt, kommt es insoweit nicht auf die formelle Bescheidlage (Steuerfestsetzungen zu einem bestimmten Zeitpunkt) an. Maßgeblich für die Wirksamkeit der Aufrechnung und das Erlöschen der vom Kläger geltend gemachten Erstattungsansprüche ist vielmehr, in welcher Höhe die Einkommensteuer ... in dem anhängigen finanzgerichtlichen Verfahren endgültig (rechtskräftig) festgesetzt wird. Das FG wird deshalb ggf. das vorliegende Verfahren bis zum Ergehen dieser gerichtlichen Entscheidung über die Steuerbescheide gemäß § 74 FGO aussetzen müssen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 419193

BFH/NV 1994, 285

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