Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung

 

Leitsatz (amtlich)

Das FG ist zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung verpflichtet, wenn es den Kläger in der mündlichen Verhandlung mit einem Hinweis überrascht hat, zu dem er ―insbesondere wegen der geraume Zeit zurückliegenden Vorgänge― nicht sofort Stellung nehmen konnte und ihm das Gericht keine Möglichkeit zur Stellungnahme mehr gegeben hat.

 

Normenkette

FGO § 93 Abs. 3 S. 2, § 119 Nr. 3

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches FG

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist selbständig tätig. Er war in den Streitjahren 1987 bis 1989 Eigentümer eines Einfamilienhauses, in dem sich seine Wohnung, ein von ihm beruflich genutztes Atelier und eine Einliegerwohnung befanden. Die Einliegerwohnung vermietete er aufgrund eines Einheitsmietvertrages an seinen volljährigen Sohn, der damals noch Schüler war, für monatlich 170 DM zuzüglich Nebenkosten in Höhe von 30 DM. Nach Abzug anteiliger Werbungskosten ergaben sich für die Wohnung negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung.

Der Kläger machte in den Streitjahren bei der Gewinnermittlung Lohnkosten für seinen Sohn in Höhe von monatlich 430 DM bzw. 440 DM bzw. 450 DM geltend, die er pauschal versteuert hatte. Die geleisteten Stunden und die jeweiligen Stundenlöhne wurden von einer Angestellten des Klägers aufgeschrieben, die auf einer ähnlichen vertraglichen Basis für den Kläger tätig war.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) erkannte Miet- und Arbeitsvertrag mit dem Sohn steuerlich nicht an.

Der Kläger erhob wegen beider Streitpunkte Klage. Seinem Beweisantrag entsprechend wurde sein Sohn als Zeuge zu dem Beweisthema: "Inhalt und Durchführung des Arbeits- und Mietvertrages" geladen.

Am 17. Juni 1999 fand die mündliche Verhandlung statt, zu der der Sohn erschien. Zu Beginn beantragte der Klägervertreter, auch die zum Termin erschienene Angestellte des Klägers als Zeugin zum Beweisthema zu vernehmen. Das Finanzgericht (FG) erörterte zunächst mit dem Kläger das Arbeitsverhältnis mit seinem Sohn. Dieser erklärte, er habe mit seinem Sohn einen monatlichen Festlohn vereinbart. Auf Vorhalt des Gerichts, aus welchen Gründen gleichwohl Aufzeichnungen über die geleisteten Stunden bzw. Stundenlöhne geführt worden seien, erklärte der Kläger, dazu könne er "jetzt" nichts sagen. Daraufhin teilte ihm der Vorsitzende ―nach einer Unterbrechung der Sitzung― mit, dass es nach Auffassung des Senats an einer klaren und eindeutigen Vereinbarung über die Arbeitspflichten des Sohnes fehle. Ein monatlicher Festlohn und Stundenaufzeichnungen könnten nicht in Einklang gebracht werden. Eine Einvernahme von Zeugen sei damit entbehrlich geworden. Nachdem der Klägervertreter gegen die Auffassung des FG Bedenken erhoben hatte, erging der Beschluss, den Beteiligten "eine schriftliche Entscheidung" zuzustellen.

Am Tag nach der mündlichen Verhandlung beantragte der Kläger schriftlich die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung. Nach Schluss der mündlichen Verhandlung habe ein ausführliches Gespräch mit dem Sohn und der zum Termin erschienenen Angestellten des Klägers stattgefunden. Beide hätten die Richtigkeit und Schlüssigkeit der Quittungen bzw. der Aufzeichnungen bestätigt. Die Wiedereröffnung des Verfahrens sei daher zur Vermeidung von Verfahrensfehlern dringend geboten.

Das FG wies die Klage ab. Hinsichtlich des Arbeitsverhältnisses fehle es an einer klaren und eindeutigen Vereinbarung über den Umfang der geschuldeten Arbeitsleistung. Bei einem monatlichen Festlohn wären nämlich Stundenaufzeichnungen entbehrlich gewesen. Es sei nicht nachvollziehbar, wie Stundenaufzeichnungen und Festgehalt sich hätten entsprechen können. Unter Fremden sei es zudem undenkbar, dass ein Arbeitnehmer dem Arbeitgeber je nach Bedarf zur Verfügung stehe. Auch sei keine Urlaubsregelung getroffen worden. Da es somit an einer inhaltlich klaren und eindeutigen Vereinbarung fehle, habe es der Vernehmung der zum Termin geladenen bzw. gestellten Zeugen nicht bedurft. Da das Arbeitsverhältnis nicht anzuerkennen sei, könnten auch die Mietzahlungen und damit das Mietverhältnis nicht anerkannt werden. Auch halte dieses einem Fremdvergleich nicht stand.

Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung sei nicht geboten. Der Kläger habe nicht vorgetragen, warum er den nachgereichten schriftsätzlichen Vortrag nicht bereits in der mündlichen Verhandlung habe erbringen können. Auch sei das Vorbringen unerheblich, denn an der widersprüchlichen Darlegung der Arbeitsverpflichtung ändere sich nichts.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung rechtlichen Gehörs, mangelnde Sachaufklärung und Unrichtigkeit der Vorentscheidung.

Die während des Revisionsverfahrens ergangenen Einkommensteueränderungsbescheide hat der Kläger fristgerecht zum Gegenstand des Verfahrens erklärt. Die tatsächlichen Grundlagen des Streitstoffs haben sich durch die Bescheide nicht geändert.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision des Klägers ist begründet. Die Vorentscheidung ist aufzuheben. Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).

Die Vorentscheidung verletzt § 93 Abs. 3 Satz 2 FGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), § 96 Abs. 2 FGO. Das FG hat den vom Kläger gestellten Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu Unrecht abgelehnt. Es hätte unter den im Streitfall gegebenen Umständen den Vortrag des Klägers, dass die Vereinbarung eines monatlichen Festlohns einerseits und die Aufzeichnung der geleisteten Stunden andererseits von den Zeugen hätten plausibel erklärt werden können, in seine Urteilsfindung miteinbeziehen müssen. In formeller Sicht reichte es allerdings aus, dass das FG seine Entscheidung, die mündliche Verhandlung nicht wieder zu eröffnen, im Urteil selbst getroffen und begründet hat (vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 28. Februar 1996 II R 61/95, BFHE 179, 245, BStBl II 1996, 318; vom 15. März 2000 IV B 79/99, BFH/NV 2000, 1212).

1. Die Verfahrensrügen wurden in der von § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO a.F. geforderten Form gerügt.

Zwar hat der Kläger die Rüge, das FG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör durch die Ablehnung der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung verletzt, nur durch Bezugnahme auf seinen Schriftsatz im Verfahren über die Zulassung der Revision begründet. Dies reicht jedoch aus, da der erkennende Senat auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin die Revision zugelassen hat (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 2. Juli 1998 IV R 60/97, BFH/NV 1999, 149). Dies gilt auch, wenn der Zulassungsbeschluss ―wie im Streitfall― gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) ohne Begründung ergangen ist (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 5. Juni 1997 III R 183/94, BFH/NV 1998, 203). Da der Kläger seine Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision ausschließlich auf eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG gestützt hat und der Senat daraufhin die Revision zugelassen hat, war auch ohne Begründung des Beschlusses erkennbar, dass der Senat den Verfahrensverstoß bejaht hat.

2. Nach § 93 Abs. 3 Satz 2 FGO kann das Gericht die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beschließen. Die Wiedereröffnung liegt grundsätzlich im Ermessen des Gerichts ("kann"). Dieses Ermessen ist jedoch nach der Rechtsprechung sämtlicher obersten Bundesgerichte (zu § 156 der Zivilprozeßordnung ―ZPO― bzw. § 104 Abs. 3 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ―VwGO― bzw. § 121 des Sozialgerichtsgesetzes ―SGG― bzw. § 64 Abs. 6 des Arbeitsgerichtsgesetzes) auf Null reduziert, wenn durch die Ablehnung einer Wiedereröffnung wesentliche Prozessgrundsätze verletzt würden, so z.B. wenn der Vorsitzende seine Verpflichtung, auf die Beseitigung von Formfehlern oder auf die Stellung von klaren Anträgen hinzuwirken, oder den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzen würde oder wenn die Sachaufklärung noch nicht ausreicht (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 29. November 1973 IV R 221/69, BFHE 111, 21, BStBl II 1974, 115; BFH-Beschluss vom 12. Januar 1994 VIII R 44/93, BFH/NV 1994, 495, m.w.N.; Urteil des Bundesgerichtshofs ―BGH― vom 28. Oktober 1999 IX ZR 341/98, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 2000, 142; Urteil des Bundesarbeitsgerichts ―BAG― vom 23. Januar 1996 9 AZR 600/93, BAGE 82, 74, NJW 1996, 2749; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 27. März 1985 4 C 79/84, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ―NVwZ― 1986, 200, NJW 1986, 339; BAG-Urteil vom 24. April 1970 3 AZR 328/69, Der Betrieb ―DB― 1970, 1790; vgl. auch Hellwig in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 93 FGO Rdnr. 12, m.w.N.; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 58. Aufl., § 156 Rdnr. 3). Die mündliche Verhandlung ist insbesondere wiederzueröffnen, wenn eine Partei zu einem Hinweis des Gerichts in der (letzten) mündlichen Verhandlung Stellung nimmt und/oder Beweisanträge stellt, sofern es sich um einen erstmaligen und überraschenden Hinweis gehandelt hat, zu dem insbesondere wegen der geraume Zeit zurückliegenden Vorgänge kein sofortiger detaillierter Sachvortrag und Beweisantritt in der mündlichen Verhandlung zu erwarten war (vgl. BGH-Urteil vom 8. Februar 1999 II ZR 261/97, Deutsches Steuerrecht ―DStR― 1999, 810).

3. Nach diesen Grundsätzen war im Streitfall eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung geboten:

a) Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung in zweierlei Hinsicht überrascht. Ihm wurde zunächst vorgehalten, die Vereinbarung eines Festlohns und die Aufzeichnungen über die geleisteten Arbeitsstunden bzw. die jeweiligen Stundenlöhne seien nicht in Einklang zu bringen. Dieser Vorhalt war insoweit überraschend, als die Vereinbarungen im Streitfall erkennbar dazu dienten, zum einen keine sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen des Arbeitgebers entstehen zu lassen und zum anderen den für steuerliche Zwecke wesentlichen Nachweis der tatsächlich geleisteten Arbeit zu führen.

Ferner durfte der Kläger, nachdem das FG ―seinem Antrag entsprechend― seinen Sohn als Zeugen zur mündlichen Verhandlung geladen hatte, davon ausgehen, dass das Gericht Zweifelsfragen, die der Kläger nicht mehr aus seiner Erinnerung beantworten konnte, durch Zeugeneinvernahme klären werde. Mit einer Entscheidung des Gerichts, weder den geladenen noch die zusätzlich gestellte Zeugin zu vernehmen, sondern nunmehr ausschließlich den Kläger zu befragen, musste der Kläger unter den gegebenen Umständen nicht rechnen.

b) Zwar wurde dem Kläger in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gegeben, Fragen zu beantworten. Auch wurde ihm mitgeteilt, dass das Gericht eine Zeugeneinvernahme nunmehr für entbehrlich halte. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist aber auch dann verletzt, wenn das Gericht auf einen Vorhalt sofort entscheidet, ohne eine angemessene Frist abzuwarten, innerhalb der ein Beteiligter eine eventuell beabsichtigte Stellungnahme unter normalen Umständen abgeben kann (vgl. z.B. Bundesverfassungsgericht ―BVerfG―, Beschluss des 1. Senats vom 27. September 1978 1 BvR 570/77, BVerfGE 49, 212, 215, 216). Da die streitigen Vorgänge im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung mehr als 10 Jahre zurück lagen und die Einzelheiten des Inhalts und der Durchführung des Arbeits- und Mietvertrags zunächst durch Zeugeneinvernahme geklärt werden sollten, wäre dem Kläger zur Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör eine angemessene Frist einzuräumen gewesen, um sich selbst über weitere Einzelheiten klar zu werden. Schließlich waren die Aufzeichnungen, Quittungen u.ä. nicht vom Kläger persönlich, sondern von einer Angestellten erstellt worden.

c) Der Kläger musste nach Ladung des Zeugen insbesondere auch nicht damit rechnen, dass das FG zu der Frage, ob klare und eindeutige Vereinbarungen vorliegen, keine Zeugen vernehmen wird. Schließlich hat der BFH für den vergleichbaren Fall verdeckter Gewinnausschüttungen bei beherrschenden Gesellschaftsverhältnissen bereits wiederholt entschieden, dass über den Inhalt von Vereinbarungen ggf. Beweis zu erheben ist. Erst wenn sich auf diese Weise der Inhalt einer Vereinbarung nicht zweifelsfrei feststellen lässt, ist für die Annahme unklarer Verträge Raum (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 24. März 1999 I R 20/98, BFH/NV 1999, 1566, m.w.N.; vom 22. Oktober 1998 I R 29/98, BFH/NV 1999, 972, m.w.N.).

d) Der Schriftsatz, in dem der Kläger Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragt hat, enthält auch kein neues tatsächliches Vorbringen (vgl. hierzu z.B. BFH-Urteil vom 15. Januar 1991 VII R 86/89, BFH/NV 1992, 81, m.w.N.; Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, a.a.O., § 156 Rdnr. 7). In Beantwortung der in der mündlichen Verhandlung offen gebliebenen Frage bestätigt er letztlich nur, dass der geladene Zeuge bzw. die zur mündlichen Verhandlung gestellte Zeugin die Richtigkeit bzw. Schlüssigkeit der vom FG bezweifelten Vereinbarungen bestätigen könnten.

e) Der Kläger hat ferner ausdrücklich eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragt (zur Notwendigkeit eines solchen Antrags vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 12. November 1993 VIII R 17/93, BFH/NV 1994, 492; wegen Wiedereröffnung ggf. auch ohne Antrag vgl. BFH-Urteil vom 29. November 1985 VI R 13/82, BFHE 145, 125, BStBl II 1986, 187).

4. Da sich die Ablehnung der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung im Streitfall als Verletzung des Rechts des Klägers auf rechtliches Gehör darstellt (vgl. auch Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 93 Rdnr. 13, m.w.N.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 93 FGO Tz. 15), ist das FG-Urteil als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen (§ 119 Nr. 3 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 613720

BFH/NV 2001, 1504

BStBl II 2001, 726

BFHE 2002, 9

BB 2001, 1888

DStR 2001, 1565

DStRE 2001, 1064

HFR 2001, 1081

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