Entscheidungsstichwort (Thema)

Höhe der Einkünfte als steuerlich relevante Tatsache bei Nichterklärung gewerblicher Einkünfte - grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 bei nachträglicher Geltendmachung eines Verlusts aus Gewerbebetrieb

 

Leitsatz (amtlich)

Wird nachträglich bekannt, daß der Steuerpflichtige nicht erklärte Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielt hat, so stellt die Höhe dieser Einkünfte die steuerlich relevante Tatsache dar, die zu einer Änderung nach § 173 Abs.1 Nr.1 oder 2 AO 1977 führt, je nach dem, ob sich die Steuer dadurch gegenüber der bisher festgesetzten Steuer erhöht oder ermäßigt (Anschluß an BFH-Urteil vom 24.April 1991 XI R 28/89, BFHE 164, 192, BStBl II 1991, 606).

 

Orientierungssatz

Grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 liegt vor, wenn ein Steuerpflichtiger in seiner Einkommensteuererklärung einen Verlust aus Gewerbebetrieb nicht erklärt hat, obwohl er im Veranlagungszeitraum eine Handelsvertretung übernommen hatte und sich bei der Erstellung der Einkommensteuererklärung statt sich der Hilfe des zuständigen Finanzamts oder eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe zu bedienen, eine Person, die nicht die erforderliche Qualifikation besessen hat und zur Hilfe in Steuersachen nicht befugt gewesen ist, zu Rate gezogen hat.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nrn. 1-2

 

Verfahrensgang

FG des Saarlandes (Entscheidung vom 25.05.1990; Aktenzeichen 1 K 159/90)

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute. Am 29.April 1988 reichten sie bei dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) eine --durch einen Bekannten gefertigte-- Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1987 ein. In dieser Erklärung gaben sie lediglich Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit sowie aus Vermietung und Verpachtung an. Das FA folgte diesen Angaben der Kläger und setzte mit Bescheid vom 15.September 1988 die Einkommensteuer für das Streitjahr fest.

Mit Schreiben vom 16.Mai 1989 reichten die Kläger eine für die Zeit vom 4.Juni bis 31.Dezember 1987 gefertigte Gewinn- (bzw. Verlust-)Rechnung beim FA ein, die sich auf eine vom Kläger betriebene Handelsvertretung bezog. Sie beantragten, den hiernach ermittelten Verlust gemäß § 173 Abs.1 Nr.2 der Abgabenordnung (AO 1977) durch Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides zu berücksichtigen. Das FA lehnte dies ab.

Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gab das Finanzgericht (FG) der von den Klägern erhobenen Klage statt. Das FG begründete sein in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1991, 443 veröffentlichtes Urteil im wesentlichen wie folgt: Die Tatsache, daß der Kläger im Mai 1987 eine Handelsvertretertätigkeit aufgenommen habe, sei zwar dem FA bis zur Stellung des Antrags auf Änderung des bestandskräftigen Bescheides nicht bekannt gewesen. Auch treffe die Kläger an dem nachträglichen Bekanntwerden dieser Tatsache ein grobes Verschulden. Dieses grobe Verschulden sei jedoch nach § 173 Abs.1 Nr.2 Satz 2 AO 1977 unbeachtlich, da die nachträglich bekanntgewordenen neuen Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führten, in unmittelbarem Zusammenhang mit solchen Tatsachen ständen, die zu einer höheren Steuer führten. Der Kläger habe aus seiner gewerblichen Tätigkeit Betriebsausgaben gehabt, die sich steuermindernd, und Betriebseinnahmen, die sich steuererhöhend ausgewirkt hätten (Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28.März 1985 IV R 159/82, BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120, 122). Der steuererhöhende Vorgang sei nicht ohne den steuermindernden Vorgang denkbar (Hinweis auf BFH-Urteil vom 30.Oktober 1986 III R 164/82, BFH/NV 1987, 353); denn beide Vorgänge beruhten auf der gewerblichen Tätigkeit des Klägers.

Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Es trägt im wesentlichen vor, für die Festsetzung der Einkommensteuer des Streitjahres 1987 seien zunächst allein die erklärten Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung und aus nichtselbständiger Arbeit maßgebend gewesen, nicht auch Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Das nachträgliche Bekanntwerden dieser gewerblichen Einkünfte des Klägers und die Höhe des sich daraus ergebenden Verlustes stellten daher eine einheitliche nachträglich bekanntgewordene Tatsache dar. Es sei nicht gerechtfertigt, die Einkünfte aus ein und derselben Tätigkeit in steuererhöhende Einnahmen und steuermindernde Ausgaben aufzuteilen. Das FA verweist hierzu auf das Urteil des BFH vom 24.April 1991 XI R 28/89 (BFHE 164, 192, BStBl II 1991, 606).

Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage. Die Voraussetzungen für eine Änderung des Einkommensteuerbescheides 1987 zugunsten der Kläger nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 liegen --entgegen der Auffassung des FG-- im Streitfall nicht vor.

1. Steuerbescheide sind nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 zu ändern, soweit Tatsachen bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen nachträglich bekanntwerden. Tatsache i.S. des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 22.Mai 1992 VI R 17/91, BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80). Eine derartige Tatsache ist im Streitfall die Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit durch den Kläger, die im Streitjahr zu negativen Einkünften (§ 15 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) führte. Diese Tatsache ist dem FA erst nachträglich, nämlich nach Erlaß des Einkommensteuerbescheides und Eintritt der Bestandskraft bekanntgeworden. Bei der entsprechend den Angaben der Kläger durchgeführten Veranlagung berücksichtigte das FA keine Einkünfte aus Gewerbebetrieb.

Ob eine nachträglich bekanntgewordene Tatsache zu einer höheren oder niedrigeren Steuer führt, hängt davon ab, von welchen Tatsachen die Besteuerung bisher ausgegangen ist (BFH-Urteile vom 6.Oktober 1961 VI 220/60 U, BFHE 74, 106, BStBl III 1962, 41 und in BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120). Legt das FA seiner Veranlagung die vom Steuerpflichtigen erklärten Einkünfte zugrunde, so sind damit die Einkünfte in der vom Steuerpflichtigen ermittelten Höhe erfaßt. Stellt sich später heraus, daß dabei Einkünfte einer Einkunftsart --wie im Streitfall solche aus Gewerbebetrieb-- überhaupt nicht erklärt bzw. berücksichtigt worden sind, so stellen diese Einkünfte, d.h. die Höhe dieser Einkünfte, die nachträglich bekanntgewordene steuerlich relevante Tatsache dar, die zu einer Berichtigung nach § 173 Abs.1 Nr.1 oder Nr.2 AO 1977 führt, je nachdem, ob sich die Steuer dadurch gegenüber der bisher festgesetzten Steuer erhöht oder ermäßigt. Es ist nicht gerechtfertigt, in einem solchen Fall die Einkünfte in steuererhöhende Betriebseinnahmen oder Vermögensmehrungen auf der einen und steuermindernde Betriebsausgaben oder Vermögensminderungen auf der anderen Seite aufzuspalten. Denn es werden nicht etwa wie bei einer --bisher schon angezeigten-- gewerblichen Tätigkeit nachträglich nicht erfaßte Einnahmen und mit diesen Einnahmen im Zusammenhang stehende Betriebsausgaben bekannt; bekannt wird vielmehr die gewerbliche Tätigkeit als solche mit den hieraus erzielten Einkünften, dem Ergebnis einer Saldierung von Aufwendungen und Erträgen (BFH-Beschluß vom 21.November 1983 GrS 2/82, BFHE 140, 50, BStBl II 1984, 160 - C.I.2.b). Die Ausübung der gewerblichen Tätigkeit und die Höhe des hieraus erzielten Gewinnes bzw. Verlustes bilden einen einheitlichen Vorgang, den das FA mangels Kenntnis bei der Festsetzung der Steuer nicht berücksichtigen konnte. Danach kommt § 173 Abs.1 Nr.2 Satz 2 AO 1977 im Streitfall nicht zur Anwendung.

Ein anderes Ergebnis würde auch zu einer ungerechtfertigten Schlechterstellung derjenigen Steuerpflichtigen führen, bei denen nach vorangegangener Schätzung wegen Nichtabgabe der Steuererklärung und bestandskräftiger Festsetzung der Einkommensteuer zusätzlich negative Einkünfte aus Gewerbebetrieb mitgeteilt werden (vgl. Urteil in BFHE 164, 192, BStBl II 1991, 606). Auch in einem solchen Fall hat der BFH angenommen, daß die Ausübung des Gewerbebetriebes durch den Kläger und die Höhe des von ihm erzielten Verlustes eine einheitliche, dem FA nachträglich bekanntgewordene Tatsache bilden.

Entgegen der Auffassung des Klägers folgt auch aus der Entscheidung des BFH vom 8.August 1991 V R 106/88 (BFHE 165, 424, BStBl II 1992, 12) nichts anderes. Der V.Senat weist in dieser zur Umsatzsteuer ergangenen Entscheidung ausdrücklich darauf hin, daß bei vorangegangenen Gewinnschätzungen andere Grundsätze als im Umsatzsteuerrecht gelten.

2. Das FG hat allerdings zutreffend entschieden, daß die Kläger ein grobes Verschulden daran trifft, daß der Verlust aus Gewerbebetrieb dem FA verspätet bekanntgeworden ist. Als grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn er die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und nicht entschuldbarer Weise verletzt (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteile vom 29.Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693 und vom 21.Juli 1989 III R 303/84, BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960). Ein grobes Verschulden kann vorliegen, wenn ein Steuerpflichtiger seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er z.B. unvollständige Steuererklärungen abgibt. Zwar ist dem Steuerpflichtigen ein auf mangelnder Kenntnis steuerrechtlicher Vorschriften beruhender Rechtsirrtum im allgemeinen nicht anzulasten (BFH-Urteil vom 10.August 1988 IX R 219/84, BFHE 154, 481, BStBl II 1989, 131). Dies gilt aber nur, wenn er seine Erklärungspflichten, zu denen es auch gehört, im Steuererklärungsformular auf bestimmte Vorgänge bezogene Fragen zu beantworten, erfüllt hat und sich aufdrängenden Zweifelsfragen nachgegangen ist (BFH-Urteil vom 13.Juni 1989 VIII R 174/85, BFHE 157, 196, BStBl II 1989, 789).

Von diesen Grundsätzen ist auch das FG bei seiner Entscheidung ausgegangen und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Kläger grobschuldhaft gehandelt haben, weil sie es bei Übernahme der Handelsvertretung unterlassen haben, sich mit den damit verbundenen steuerlichen Pflichten vertraut zu machen, zumal auch die entsprechenden vertraglichen Vereinbarungen und das von ihnen auszufüllende Steuererklärungsformular genügend Hinweise auf die steuerlichen Folgen der Tätigkeit enthielten. Schuldhaft sei zudem gewesen, daß sie, statt sich der Hilfe der zuständigen Behörde oder eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe zu bedienen, eine Person, die nicht die erforderliche Qualifikation besessen habe und zur Hilfe in Steuersachen nicht befugt gewesen sei, zu Rate gezogen hätten. Diese Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

3. Die Vorentscheidung, die der Rechtsauffassung des Senats nicht entspricht, ist aufzuheben. Die Sache ist spruchreif, die Klage abzuweisen (§ 126 Abs.3 Nr.1 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 64685

BFH/NV 1994, 17

BStBl II 1994, 346

BFHE 172, 397

BFHE 1994, 397

BB 1994, 132

BB 1994, 563

BB 1994, 563-564 (LT)

DB 1994, 360 (L)

DStR 1994, 246 (KT)

DStZ 1994, 188 (KT)

HFR 1994, 125-126 (LT)

StE 1994, 31 (K)

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