Leitsatz (amtlich)

Tritt ein Westberliner Unternehmer, der einen in Berlin (West) hergestellten Gegenstand an einen westdeutschen Unternehmer veräußert hat, in der nachfolgenden Lieferkette erneut als Käufer und Veräußerer dieses Gegenstandes auf und ist der Gegenstand bis zum Zeitpunkt dieser letzten Veräußerung noch nicht aus Berlin (West) in den übrigen Geltungsbereich des Berlinförderungsgesetzes verbracht worden, steht dem (ersten) westdeutschen Abnehmer ein Kürzungsanspruch nach § 2 BerlinFG nicht zu (Anschluß an Urteil vom 31. März 1977 V R 99/72, BFHE 123, 84, BStBl II 1977, 810).

 

Normenkette

BerlinFG 1970 §§ 1-2; UStG 1967 § 3 Abs. 2

 

Tatbestand

Die Antragstellerin betreibt in der Bundesrepublik einen Großhandel mit Fleisch und Fleischbedarfsartikeln. In den Jahren 1973 bis 1975 kaufte sie Fleisch von der Westberliner Betriebstätte einer in H ansässigen Import- und Export-Handelsgesellschaft (im folgenden IH genannt), deren Prokuristin sie ist. Für die Bezüge nahm sie gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1967) den Vorsteuerabzug in Anspruch und kürzte gemäß § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 Nr. 12 Buchst. b und Abs. 4 des Berlinförderungsgesetzes (BerlinFG 1970) die von ihr geschuldete Umsatzsteuer in Höhe von 2,8 v. H. der für die Ware in Rechnung gestellten Entgelte. Dabei ergaben sich folgende Zahlen:

Kürzungen nach

Netto-Einkaufspreise Vorsteuerabzug dem BerlinFG

DM DM DM

1973 2 976 936,75 163 731,40 83 354,22

1974 3 085 024,87 169 676,30 86 380,69

1975 2 758 622,51 151 724,20 77 241,43

Die Umsatzsteuer 1973 und 1974 ist daraufhin durch Bescheide vom 30. Oktober 1975 bzw. vom 26. Januar 1976 auf negative Steuerschulden von 87 796,70 DM bzw. 90 550,35 DM vorläufig festgesetzt worden. Die negative Steuer ist ausgezahlt worden. Für das Jahr 1975 sind der Antragstellerin aufgrund ihrer Umsatzsteuervoranmeldungen negative Steuern von 80 351,32 DM ausgezahlt worden.

Anläßlich einer Betriebsprüfung stellte das Finanzamt fest, daß das Fleisch zunächst in der Berliner Betriebstätte der IH verblieb. Die Antragstellerin verkaufte es unter dem Einkaufspreis an die X-OHG oder die Y-KG - beide in H -, deren Gesellschafter mit der Antragstellerin verwandt sind. In ihren Rechnungen an die beiden Gesellschaften wies die Antragstellerin die Umsatzsteuer mit 5,5 v. H. der Entgelte wie folgt aus:

Entgelt Steuer

DM DM

1973 2 899 105 159 450,70

1974 3 012 339 165 678,60

1975 2 695 934 148 276,30.

Die Gesellschaften verkauften die Ware wiederum an die IH, die das Fleisch dann durch ihre Berliner Betriebstätte an Abnehmer in Westdeutschland lieferte. Dabei wurde die Ware erstmals von Berlin (West) in den übrigen Geltungsbereich des Berlinförderungsgesetzes verbracht.

Das Finanzamt sieht in der Lieferkette einen Mißbrauch bürgerlich-rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten (§ 6 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes - StAnpG -). Es hat daher die Lieferungen der IH an die Antragstellerin und die Weiterlieferung der Ware durch diese als nicht bewirkt angesehen und durch Bescheide vom 28. März 1979 die Umsatzsteuer für 1973 und 1974 auf 399,25 DM bzw. 263,80 DM heraufgesetzt und für 1975 erstmals auf 923,70 DM festgesetzt.

Nach erfolglosem Einspruch hat die Antragstellerin Klage gegen die Bescheide erhoben und zugleich Aussetzung der Vollziehung beantragt. Den Antrag, die Vollziehung der angefochtenen Steuerbescheide auszusetzen, hat das Finanzgericht abgelehnt (Beschluß vom 19. November 1979 IV 183/79, Umsatzsteuer-Rundschau 1980 S. 53 - UStR 1980, 53 -). Es fehle bereits an einer Lieferung der IH an die Antragstellerin. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin fänden die für das Reihengeschäft geltenden Grundsätze (§ 3 Abs. 2 UStG 1967) keine Anwendung. Denn trete der erste Unternehmer der Reihe später in der Reihe ein weiteres Mal auf, so werde sie - entgegen dem Urteil des Reichsfinanzhofs vom 14. Januar 1938 V 49/36 (RFHE 43, 214, RStBl 1938, 399) - unterbrochen mit der Folge, daß die dann von ihm bewirkte Lieferung an den nächsten Abnehmer nicht mehr als gleichzeitige Lieferung der vorherigen Unternehmer an ihre jeweiligen Abnehmer gelte.

Gegen den ablehnenden Beschluß richtet sich die vom Finanzgericht zugelassene Beschwerde der Antragstellerin. Die Antragstellerin ist der Ansicht, bei nochmaligem Auftreten des ersten Unternehmers in der Reihe breche die Lieferkette nicht ab. An der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Steuerbescheide bestünden ernsthafte Zweifel, zumal der Reichsfinanzhof in dem zitierten Urteil unter Aufgabe eines früheren Erkenntnisses (Urteil vom 15. Dezember 1933 V A 441/33, Steuer und Wirtschaft II 1934 S. 443 - StuW II 1934, 443 -) denselben Standpunkt zum Reihengeschäft eingenommen habe.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde der Antragstellerin ist nur zum Teil begründet.

1. Über das Bestehen eines Kürzungsanspruchs nach § 2 Abs. 1 BerlinFG 1970 ist im Rahmen der Umsatzsteuerfestsetzung zu entscheiden (§ 11 Abs. 1 BerlinFG 1970; vgl. noch zu § 2 Abs. 1 und 6 des Berlinhilfegesetzes - BHG 1968 -: Urteil des Bundesfinanzhofs vom 15. Mai 1975 V R 84/70, BFHE 117, 1, BStBl II 1976, 41).

Zutreffend geht das Finanzgericht davon aus, daß der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide 1973 bis 1975 insoweit statthaft ist, wie die Bescheide die Rechtsposition der Antragstellerin gegenüber den usprünglichen Steuerbescheiden bzw. gegenüber dem Voranmeldungsverfahren verschlechtert haben. Die angefochtenen Bescheide sind einer Aussetzung der Vollziehung in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen der ursprünglich festgesetzten bzw. vorangemeldeten negativen und der nunmehr festgesetzten positiven Umsatzsteuerschuld zugänglich. In diesem Umfang wird von der Antragstellerin etwas gefordert, was im Falle der Weigerung mit Beitreibungsmaßnahmen erzwungen werden könnte (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs vom 28. November 1974 V B 52/73, BFHE 114, 169, BStBl II 1975, 239 sowie vom 5. Februar 1976 V B 73/75, BFHE 118, 149, BStBl II 1976, 435).

2. Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht die Vollziehung angefochtener Verwaltungsakte ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an deren Rechtmäßigkeit bestehen. Derartige Zweifel sind im vorliegenden Fall insoweit gegeben, als den angefochtenen Steuerbescheiden die Auffassung des Finanzamts zugrunde liegt, die IH hätte gegenüber der Antragstellerin keine steuerrechtlich anzuerkennenden Lieferungen erbracht. Dagegen bestehen keine Zweifel daran, daß der Antragstellerin die Vergünstigung des § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 Nr. 12 Buchst. b BerlinFG 1970 zu Recht versagt worden ist.

a) Gemäß § 2 Abs. 1 BerlinFG 1970 hat der Kürzungsanspruch eines westdeutschen Unternehmers (§ 5 Abs. 2 BerlinFG 1970) zur Voraussetzung, daß er von einem Berliner Unternehmer (§ 5 Abs. 1 BerlinFG 1970) von diesem in Berlin (West) hergestellte Gegenstände erworben hat und die Gegenstände aus Berlin (West) in den übrigen Geltungsbereich des Berlinförderungsgesetzes gelangt sind. Mit diesem Kürzungsanspruch des westdeutschen Unternehmers geht ein entsprechender Kürzungsanspruch des Berliner Unternehmers gemäß § 1 Abs. 1 BerlinFG 1970 einher. Damit wird eine Warenbewegung auf der Grundlage einer Lieferung gemäß §§ 1 und 2 BerlinFG 1970 begünstigt, bei der der Liefergegenstand aus der Verfügungsmacht des liefernden Westberliner Unternehmers ausscheidet und in diejenige des westdeutschen Abnehmers übergeht. Demgemäß ist ein im vorstehenden Sinne durch das Berlinförderungsgesetz begünstigter Vorgang nicht gegeben, wenn eine in Berlin (West) belegene Betriebstätte eines Unternehmers, der seine Geschäftsleitung im übrigen Geltungsbereich dieses Gesetzes oder im Ausland hat (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 BerlinFG 1970), an den nicht in Berlin (West) gelegenen Betriebsteil des Unternehmens (vgl. § 5 Abs. 2 Nr. 1 BerlinFG 1970) "liefert". Hier stehen sich nicht zwei Unternehmer im Rahmen des Leistungsaustausches gegenüber (vgl. Sönksen/Söffing, Kommentar zum Berlinförderungsgesetz, K § 5 Rdnr. 11; Urteil des Bundesfinanzhofs vom 16. Dezember 1965 V 55/62, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Berlinhilfegesetz 1950, § 3, Rechtsspruch 9 = Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1966 S. 183 - HFR 1966, 183 -). Es ist vielmehr ein innerbetrieblicher Vorgang gegeben, der unter den besonderen, hier nicht gegebenen Voraussetzungen nach § 1a BerlinFG 1970 begünstigt sein kann.

Entsprechend ist die von § 1 Abs. 1 und von § 2 Abs. 1 BerlinFG 1970 geforderte Warenbewegung des Gegenstandes von Berlin (West) in den übrigen Geltungsbereich des Berlinförderungsgesetzes zu beurteilen. Auch sie erfordert nicht nur eine räumliche Bewegung des Gegenstandes von Berlin (West) in den übrigen Geltungsbereich des Berlinförderungsgesetzes, sondern eine Warenbewegung im Zusammenhang mit einem Leistungsaustausch zwischen einem Westberliner Lieferer und einem Abnehmer im übrigen Geltungsbereich des Berlinförderungsgesetzes oder im Ausland (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs vom 31. März 1977 V R 99/72, BFHE 123, 84, BStBl II 1977, 810).

Folgt in einer Lieferkette, an deren Anfang ein Westberliner Unternehmer steht, auf einen oder mehrere westdeutsche Abnehmer erneut als Abnehmer in der Kette die Westberliner Betriebstätte oder deren Unternehmensteil im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 1 BerlinFG 1970 und lösen diese Geschäfte die Warenbewegung von Berlin (West) in den übrigen Geltungsbereich des Berlinförderungsgesetzes noch nicht aus, so entsteht für den ersten westdeuschen Abnehmer in dieser Lieferkette noch kein Kürzungsanspruch nach § 2 Abs. 1 BerlinFG 1970. Die Warenbewegung im Sinne der §§ 1 und 2 BerlinFG 1970 im Zusammenhang mit einem Leistungsaustausch ist vielmehr erst dann zu bejahen, wenn die erneut in die Lieferkette eingeschaltete Westberliner Betriebstätte oder deren Unternehmensteil im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 1 BerlinFG 1970 an einen westdeutschen Endabnehmer weiterliefert und daraufhin aufgrund dieses Leistungsaustausches die Warenbewegung aus Berlin (West) in den übrigen Geltungsbereich des Berlinförderungsgesetzes vollzogen wird. In diesem Falle wäre, wenn die Westberliner Betriebstätte im eigenen Namen mit dem Endabnehmer kontrahiert hat, diese nach § 1 Abs. 1 BerlinFG 1970 und der westdeutsche Endabnehmer nach § 2 Abs. 1 BerlinFG 1970 kürzungsberechtigt. Kontrahiert der im Bundesgebiet oder im Ausland belegene Unternehmensteil (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 BerlinFG 1970) im eigenen Namen mit dem westdeutschen Endabnehmer, scheiden Kürzungsansprüche aus, da in diesem Falle nicht durch einen Westberliner Unternehmer geliefert worden ist.

Aufgrund vorstehender Erwägungen steht der Antragstellerin ein Kürzungsanspruch nach § 2 Abs. 1 BerlinFG 1970 nicht zu. Sie ist in eine Lieferkette eingeschaltet gewesen, an deren Anfang die Westberliner Betriebstätte der IH steht und in deren Gefolge als weiterer Abnehmer entweder diese selbst oder ihr westdeutscher Unternehmensteil aufgetreten ist. Die IH (sei es mit ihrem Westberliner, sei es mit ihrem westdeutschen Unternehmensteil) konnte bei dieser Gestaltung der Geschäfte über das Schicksal des jeweiligen Liefergegenstandes bestimmen. Die IH hat erst durch den Verkauf der Liefergegenstände an westdeutsche Endabnehmer eine endgültige Bestimmung in der Weise getroffen, daß nunmehr wegen dieser mit den westdeutschen Endabnehmern getroffenen Leistungsaustausche die damit zusammenhängenden Warenbewegungen von Berlin (West) in den übrigen Geltungsbereich des Berlinförderungsgesetzes veranlaßt und vollzogen wurden.

Bei dieser Sachlage kann es für die Anwendung des Berlinförderungsgesetzes dahingestellt bleiben, ob der Lieferkette ein Reihengeschäft im Sinne des § 3 Abs. 2 UStG 1967 zugrunde gelegen hat.

b) Während somit keine ernsthaften Bedenken gegen die Versagung der Kürzungsansprüche nach § 2 Abs. 1 BerlinFG 1970 bestehen, ist bezüglich der Fragen, ob Lieferungen der IH an die Antragstellerin und Weiterlieferungen an deren Abnehmer gegeben sind, und ob der Antragstellerin daraus Ansprüche auf Vorsteuerabzüge zustehen, eine die Aussetzung der Vollziehung rechtfertigende Unsicherheit in der Rechtslage gegeben. Dazu macht die Antragstellerin zutreffend geltend, daß der Reichsfinanzhof mit Urteil vom 14. Januar 1938 in RFHE 43, 214 trotz nochmaligen Auftretens des ersten Unternehmers in der Lieferkette ein Reihengeschäft angenommen habe, und daß diese Entscheidung in der Literatur vielfach zustimmend zitiert werde (Rau/Dürrwächter/Flick/Geist, Umsatzsteuergesetz, Mehrwertsteuer, Kommentar, 3. Aufl., Bd. I, § 3 Anm. 664; Hartmann/Metzenmacher, Umsatzsteuergesetz, Mehrwertsteuer, Kommentar, 6. Aufl., 2. Bd., § 3 Anm. 42; Plückebaum/Malitzky, Umsatzsteuergesetz, Mehrwertsteuer, Kommentar, 10. Aufl., Bd. II/2, §§ 1 bis 3 Anm. 936). Demgegenüber hat der Reichsfinanzhof im Urteil vom 15. Dezember 1933 V A 441/33 in StuW II 1934, 443 eine gegenteilige Rechtsauffassung eingenommen. Der Bundesfinanzhof hat zu den divergierenden Urteilen des Reichsfinanzhofs noch nicht Stellung genommen.

2. Die Vollziehung der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide 1973 bis 1975 ist daher lediglich in Höhe der Differenz zwischen den durch die Weiterlieferungen der Fleichwaren entstandenen Umsatzsteuern und den auf den Vorbezügen ruhenden Vorsteuern auszusetzen. Die Differenzen belaufen sich auf folgende Beträge:

Für 1973 auf 4 280,70 DM

für 1974 auf 3 997,70 DM und

für 1975 auf 3 447,90 DM

Im übrigen ist die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 73307

BStBl II 1980, 429

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