Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung der Sachaufklärungspflicht und des rechtlichen Gehörs

 

Leitsatz (NV)

1. Die Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht durch das FG ist nur ordnungsgemäß erhoben, wenn entweder substantiiert dargelegt wird, dass in der mündlichen Verhandlung vor dem FG Beweisanträge zu Protokoll erklärt worden sind und die unterlassene Beweisaufnahme gerügt worden ist oder schlüssig dargetan wird, das FG hätte auch unabhängig von einem entsprechenden Beweisantrag von Amts wegen eine Beweisaufnahme durchführen müssen.

2. Die ordnungsgemäße Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs setzt den Vortrag voraus, dass das FG sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt hat, zu denen die Beteiligten sich zuvor nicht äußern konnten.

 

Normenkette

FGO § 76 Abs. 1, § 96 Abs. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 3 S. 3, § 155; ZPO § 295

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches FG (Urteil vom 18.11.2004; Aktenzeichen 14 K 179/00)

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) bezog im Jahr 1999 Kindergeld in Höhe von 1 115 DM monatlich von der Beklagten und Beschwerdegegnerin (Familienkasse).

Am 5. Juli 1999 teilte die Klägerin der Familienkasse mit, sie habe den am 25. Juni 1999 abgesandten Scheck über das ihr zustehende Kindergeld noch nicht erhalten und fragte an, wann sie das Geld abholen könne. Die Klägerin erhielt daraufhin nach einer entsprechenden Verfügung der Familienkasse das Kindergeld für Juni am 9. Juli 1999 bar ausgezahlt.

Im Zuge entsprechender Ermittlungen teilte die Postbank mit, das Kindergeld für Juni sei bereits am 29. Juni 1999 um 9.15 Uhr bei der Postfiliale in H im Stadtteil L nach Vorlage des am 28. Juni 1999 von der Postbank Nürnberg ausgestellten Verrechnungsschecks ordnungsgemäß ausgezahlt worden. Der Scheckeinreicher habe sich mit dem Reisepass der Klägerin ausgewiesen. Eine Kopie des Verrechnungsschecks mit der auf der Rückseite durch eine Unterschrift der Klägerin bestätigten Barauszahlung war der Mitteilung der Postbank beigefügt.

Die Familienkasse forderte die Klägerin daraufhin mit Bescheid vom 14. Januar 2000 auf, das für den Monat Juni 1999 einmal zuviel gezahlte Kindergeld auf der Grundlage von § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zurückzuerstatten.

Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) führte in seiner Entscheidung im Wesentlichen aus, die Echtheit der Unterschrift der Klägerin auf der Bestätigung betreffend den Erhalt des Bargeldes am 29. Juni 1999 sei durch das eingeholte graphologische Gutachten bestätigt worden. Hiernach habe die Klägerin mit "sehr hoher Wahrscheinlichkeit" --mithin dem zweithöchsten Wahrscheinlichkeitsgrad-- selbst ihre Unterschrift auf der Bestätigung angebracht. Auch die gesamten Umstände des Sachverhalts sprächen dafür, dass sie es gewesen sei, die bereits am 29. Juni 1999 das ihr für den Monat Juni 1999 zustehende Kindergeld abgeholt habe. Gegen den von der Klägerin vorgetragenen möglichen Geschehensablauf, ein Dritter habe die Unterschrift gefälscht und die Seriennummer ihres Reisepasses missbräuchlich verwendet, spreche mitentscheidend auch der Umstand, dass die Klägerin es unterlassen habe, eine entsprechende Strafanzeige zu stellen.

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin im Wesentlichen die Verletzung der Sachaufklärungspflicht des Gerichts nach § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch das Übergehen von Beweisanträgen als Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Beschwerde ist unzulässig und deshalb durch Beschluss zu verwerfen (§ 132 FGO).

Die fachkundig vertretene Klägerin hat die gerügten Verfahrensmängel schon nicht hinreichend dargelegt (§§ 115 Abs. 2 Nr. 3, 116 Abs. 3 Satz 3 FGO).

1. Wird eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht des FG in Form eines Verstoßes gegen den Grundsatz der unmittelbaren Beweisaufnahme geltend gemacht, gehört zur ordnungsgemäßen Bezeichnung des Verfahrensmangels auch der Vortrag, dass die Nichterhebung der angebotenen Beweise in der mündlichen Verhandlung gerügt wurde oder weshalb diese Rüge nicht möglich war (ständige Rechtsprechung, z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 17. November 1997 VIII B 16/97, BFH/NV 1998, 608, und vom 8. Oktober 2003 VII B 51/03, BFH/NV 2004, 217). Da der im finanzgerichtlichen Verfahren geltende Untersuchungsgrundsatz nach § 76 Abs. 1 FGO einschließlich des Prinzips der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme eine Verfahrensvorschrift ist, auf deren Einhaltung ein Beteiligter --ausdrücklich oder durch Unterlassen einer Rüge-- verzichten kann (§ 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnug --ZPO--), hat die unterlassene rechtzeitige Rüge den endgültigen Rügeverlust zur Folge.

Das Übergehen von Beweisanträgen kann nicht mehr mit der Verfahrensrüge angegriffen werden, wenn der in der maßgeblichen mündlichen Verhandlung anwesende oder fachkundig vertretene Beteiligte, dem die Nichtbefolgung seiner Beweisanträge erkennbar war, den Verfahrensverstoß nicht gerügt und damit auf die Wahrnehmung seiner Rechte verzichtet hat. Der Rügeberechtigte muss die Rüge sowie die übergangenen Beweisanträge zu Protokoll erklären (vgl. BFH-Beschluss vom 17. Dezember 1999 VII B 183/99, BFH/NV 2000, 597; Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 116 Rz. 49; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 81 FGO Tz. 34, § 115 FGO Tz. 92).

Diesen Anforderungen entspricht die Beschwerdebegründung nicht.

Die Klägerin hat weder substantiiert dargelegt noch ist es aus dem Sitzungsprotokoll des FG ersichtlich, dass sie in der mündlichen Verhandlung vor dem FG Beweisanträge zu Protokoll erklärt und die unterlassene Beweisaufnahme gerügt hat. Ausweislich des Sitzungsprotokolls sind außer den Sachanträgen keine weiteren Anträge --also auch keine Beweisanträge-- gestellt worden.

2. Soweit die Klägerin mit der Rüge mangelnder Sachaufklärung geltend macht, das FG hätte auch unabhängig von einem entsprechenden Beweisantrag von Amts wegen (§ 76 Abs. 1 FGO) eine Beweisaufnahme durchführen müssen, so wären für eine schlüssige Verfahrensrüge Ausführungen dazu erforderlich gewesen, welche Tatsachen das FG hätte aufklären müssen, welche entscheidungserheblichen Tatsachen sich bei einer weiteren Sachaufklärung voraussichtlich ergeben hätten, inwiefern eine weitere Aufklärung auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einem anderen Ergebnis hätte führen können und aus welchen Gründen sich dem FG unter Berücksichtigung seines Rechtsstandpunktes die Notwendigkeit einer weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hätte aufdrängen müssen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschlüsse vom 18. März 2004 VII B 53/03, BFH/NV 2004, 978; vom 28. Juli 2004 IX B 136/03, BFH/NV 2005, 43, jew. m.w.N.). Ein Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht ist in diesem Zusammenhang nur gegeben, wenn das FG eine konkrete Möglichkeit, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären, nicht genutzt hat (Tipke/Kruse, a.a.O., § 115 FGO Tz. 91).

Diesen Anforderungen genügt der Vortrag der Klägerin in der Beschwerdeschrift nicht.

Vielmehr wird aus ihrem Vorbringen deutlich, dass aus maßgeblicher Sicht des FG gerade keine weitere Beweisaufnahme geboten war. Das FG ist bei der Würdigung der zur Verfügung stehenden Beweismittel --insbesondere dem Sachverständigengutachten und den schriftlichen Mitteilungen der Postbank-- zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin habe das ihr zustehende Kindergeld für Juni 1999 bereits am 29. Juni 1999 bei der Postfiliale Langenhagen bar entgegengenommen. Da der Sachverhalt mithin aus Sicht des FG hinreichend geklärt war, war eine weitere Beweiserhebung entbehrlich.

3. Soweit sich die Klägerin sinngemäß gegen die Beweiswürdigung des FG wendet, legt sie ebenfalls keinen Zulassungsgrund i.S. des § 115 Abs. 2 FGO dar.

Fehler in der Tatsachen- und Beweiswürdigung sind keine Verfahrensfehler, sondern materiell-rechtliche Fehler, die grundsätzlich nicht zur Zulassung der Revision führen (BFH-Beschluss vom 5. Juni 2003 I B 135/02, BFH/NV 2003, 1429, m.w.N.). Zwar kann zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Revision zuzulassen sein (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Altern. 2 FGO), wenn das Urteil des FG willkürlich oder unter keinem rechtlichem Gesichtspunkt vertretbar erscheint (Senatsbeschluss vom 29. Oktober 2003 III B 15/03, BFH/NV 2004, 166, m.w.N.). Ein solch schwerwiegender Rechtsfehler lässt sich den Ausführungen der Klägerin aber nicht entnehmen.

Im Übrigen widersprechen die Schlussfolgerungen des FG auch nicht den allgemeinen Grundsätzen der Beweiswürdigung oder allgemeinen Erfahrungssätzen und Denkgesetzen. Insbesondere durfte das FG die Aussage der Deutschen Post, bei der Klägerin werde "in der Regel zwischen 9 und 10 Uhr" zugestellt, nach dem Wortsinn dahin gehend auslegen, dass es von dieser Regel Ausnahmen gab. Die Auslegung der Klägerin, "in der Regel" sei mit dem Begriff "ausschließlich" gleichzusetzen, steht dagegen in Widerspruch zu dem Wortlaut der schriftlichen Aussage der Post und darüber hinaus zu der Lebenswirklichkeit, wonach atypische Geschehensabläufe bei der Postzustellung gerichtsbekannt sind.

4. Auch die Verfahrensrüge der Klägerin, das FG habe durch den Erlass einer Überraschungsentscheidung den Grundsatz auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, ist nicht in zulässiger Form erhoben worden.

Insoweit ist nicht vorgetragen, dass das FG sein Urteil entgegen § 96 Abs. 2 FGO auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt hätte, zu denen die Beteiligten sich zuvor nicht äußern konnten. Vielmehr ergibt sich aus den Akten, dass beide Beteiligte noch vor der mündlichen Verhandlung ausreichend Gelegenheit hatten, zu allen der Entscheidung des FG zugrunde liegenden schriftlichen Unterlagen Stellung zu nehmen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1454001

BFH/NV 2006, 88

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