Entscheidungsstichwort (Thema)

Zu den Anforderungen an die Pflichten nach § 76 Abs. 2 FGO

 

Leitsatz (NV)

  1. Macht der Kläger im Klageverfahren bereits konkrete Angaben, die für ein Verwirklichen eines Steuertatbestandes sprechen, so muss das Gericht, dem dieser Vortrag nicht ausreicht, den Kläger jedenfalls in der mündlichen Verhandlung auffordern, seine Angaben weiter zu substantiieren. Es darf die Klage ohne jeglichen Hinweis nicht als unbegründet zurückweisen.
  2. Auch bei verzichtbaren Verfahrensmängeln geht das Rügerecht durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge nicht verloren, wenn sich der gerügte Verfahrensverstoß erst aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils selbst ergibt.
 

Normenkette

FGO § 76 Abs. 2, § 96 Abs. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3

 

Verfahrensgang

Hessisches FG (Urteil vom 23.07.2003; Aktenzeichen 2 K 2173/99)

 

Tatbestand

I. Die Beteiligten stritten in dem Verfahren vor allem darum, ob und inwieweit Einkünfte aus der Vermietung verschiedener Grundstücke dem Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) oder seiner Mutter als Vermächtnisnießbraucherin zuzurechnen seien. Darüber hinaus begehrte der Kläger, eine in früheren Jahren angeblich versehentlich unterbliebene Absetzung für außergewöhnliche technische oder wirtschaftliche Abnutzung nachzuholen. Überdies wandte er sich im Schriftsatz vom 20. Dezember 2001 u.a. dagegen, dass "die Ende Dezember 1983 für den Monat Januar 1984 von der Fa. A für das Objekt B gezahlte Miete in Höhe von DM 10.322" vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt ―FA―) "zu Unrecht als Einnahme für 1983 angesetzt" wurde, "während dieser Betrag richtigerweise für 1984 anzusetzen ist".

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage (auch) insoweit ab und führte zur Begründung aus, der Kläger habe die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 11 Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht dargetan. Mangels Vorlage des entsprechenden Mietvertrags sei bereits der Zeitpunkt der Fälligkeit der Miete für den Monat Januar 1984 zweifelhaft. Zudem habe der Kläger lediglich vorgetragen, die Mietzahlung für Januar 1984 sei Ende Dezember 1983 erfolgt. Da der Kläger aber nicht nachgewiesen habe, wann genau die Zahlung erfolgt sei, könne nicht ausgeschlossen werden, dass im Streitfall die Höchstgrenze von zehn Tagen überschritten worden sei.

Hiergegen richtet sich die u.a. auf Verletzung des rechtlichen Gehörs gestützte Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers. Das Gericht habe den Kläger weder im vorbereitenden Verfahren noch in der mündlichen Verhandlung auf die Notwendigkeit zur Vorlage der Nachweise über den Zeitpunkt der Zahlung hingewiesen.

Das FA beantragt, die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde, die sich nach Auffassung des Senats auf die Streitjahre 1983 und 1984 beschränkt, ist begründet. Sie führt nach § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) wegen Einkommensteuer 1983 und 1984 zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

1. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegen vor. Das FG hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO, § 76 Abs. 2 FGO). Das angefochtene Urteil beruht auf dieser Verletzung (§ 119 Nr. 3 FGO).

Das FG hat ―wie der Kläger zutreffend geltend macht― gegen § 76 Abs. 2 FGO verstoßen. Danach hat der Vorsitzende u.a. darauf hinzuwirken, dass ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt werden. Dies hat der im Streitfall zuständige Einzelrichter nicht beachtet. Er hat die Klage in Bezug auf die Einkommensteuer 1983 und 1984 abgewiesen, weil der Kläger die tatsächlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 Satz 2 EStG mit seinem Schriftsatz vom 20. Dezember 2001 nicht dargetan habe. Da der Kläger aber bereits konkrete Angaben gemacht hatte, die für ein Verwirklichen des Tatbestands des § 11 Abs. 1 Satz 2 EStG sprechen (Zahlung der Miete für Januar 1984 Ende Dezember 1983) hätte das Gericht, dem dieser Vortrag nicht ausreichte, den Kläger jedenfalls in der mündlichen Verhandlung auffordern können und müssen, seine Angaben weiter zu substantiieren. Es durfte die Klage ohne jeglichen Hinweis nicht als unbegründet zurückweisen.

2. Die schlüssige Rüge der Verletzung des Rechts auf Gehör erforderte keine Ausführungen darüber, was bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen worden wäre (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 3. September 2001 GrS 3/98, BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802).

Der Kläger hat sein Rügerecht entgegen der Auffassung des FA auch nicht verloren. Zwar handelt es sich bei dem Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs um einen solchen, auf dessen Rüge verzichtet werden kann (§ 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung, vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 96 FGO Tz. 124, m.w.N.). Auch geht bei verzichtbaren Verfahrensmängeln das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge verloren. Dies kann jedoch nicht gelten, wenn sich der gerügte Verfahrensverstoß ―wie hier― erst aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils selbst ergibt, den Beteiligten daher eine rechtzeitige Rüge in der mündlichen Verhandlung nicht möglich war (BFH-Beschluss vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207, m.w.N.).

 

Fundstellen

Haufe-Index 1140043

BFH/NV 2004, 973

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