Leitsatz (amtlich)

1. Die Verwirkung von Säumniszuschlägen kann nach den Vorschriften über die Aussetzung und Aufhebung der Vollziehung angefochtener Verwaltungsakte durch das Gericht der Hauptsache aufgehoben werden.

2. Die Aussetzung der Vollziehung und die Anordnung, die Vollziehung aufzuheben, haben keine Rückwirkung.

 

Normenkette

FGO § 69 Abs. 3, 2

 

Tatbestand

Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin), die vom Antrags- und Beschwerdegegner (FA) wegen Werklieferungen im Inland (Aufstellung der von ihr im Ausland hergestellten Papiermaschinen) durch Bescheide zunächst zur Umsatzsteuer von insgesamt ... DM sodann aufgrund eines ermäßigenden Änderungsbescheides zu ... DM herangezogen worden war, hatte diese Bescheide angefochten und ist dabei auch auf dem Rechtsweg unterlegen (vgl. den gemäß Art. 1 Nr. 7 BFH-EntlastG ergangenen Beschluß des Senats vom 5. Mai 1977 V R 63/74).

Die Rechtmäßigkeit der Steuerbescheide erschien zunächst dem FA selbst nicht zweifelsfrei. Es hat deshalb der Antragstellerin durch verschiedene Verfügungen Aussetzung der Vollziehung für die Zeit vom ... bis ... gewährt. In der Folgezeit hat es die fälligen Steuern nicht endgültig beigetrieben. Mit Verfügung lehnte das FA einen weiteren Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab. Die Antragstellerin erneuerte den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim FG, nachdem sie dort die Umsatzsteuerbescheide mit der Klage angefochten hatte. Mit diesem Antrag hat sie die Aussetzung der Vollziehung ab Fälligkeit der Umsatzsteuern erbeten, ohne allerdings das Schutzbedürfnis für die Vergangenheit darzulegen. Das FG hat hierauf durch Beschluß die Aussetzung der Vollziehung gegen Sicherheitsleistung im Umfang des Klagegegenstands gewährt, jedoch den Antrag auf Anordnung der Rückwirkung der Aussetzung übergangen. Dieser Beschluß wurde der Antragstellerin zugestellt. Mit Telegramm bat die Antragstellerin, den Beschluß dahin zu ergänzen, daß die Aussetzung vom Fälligkeitstag an wirksam ist. Diesen Antrag hat das FG durch Beschluß abgelehnt. Es hat dazu ausgeführt:

Für den Antrag fehle die Rechtsgrundlage. Nach § 69 Abs. 3 und 4 der FGO könne Aussetzung der Vollziehung als rechtsgestaltender Verwaltungsakt nur ex nunc gewährt werden. Eine Rückwirkung würde vorausgegangenen Sicherungs- und Vollziehungsakten der Finanzbehörde die Rechtsgrundlage entziehen und sie damit rechtswidrig machen. Eine andere Frage sei es, ob der Antragstellerin ein Anspruch auf Aufhebung etwaiger Akte dieser Art zustehe. Hierüber habe das FG nicht zu entscheiden.

Gegen diesen Beschluß hat die Antragstellerin Beschwerde erhoben, mit der sie ihren Antrag weiterverfolgt. Sie hat dazu ausgeführt: Die Versagung der Aussetzung für die Zeit vom ... bis ... habe zur Folge, daß Säumniszuschläge verwirkt seien (§ 1 Abs. 1 StSäumG). Dies sei unbillig, da zunächst beim FA selbst und später beim FG ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verwaltungsakte bestanden hätten und damit fortlaufend die Rechtsgrundlage für die Aussetzung der Vollziehung gegeben gewesen sei. Aus diesem Gesichtspunkt sei das Interesse des FA an der Aufrechterhaltung von Sicherungs- und Vollstreckungsmaßnahmen nicht schutzwürdig gewesen. Trotz dem neu vorgetragenen, auf die Verwirkung der Säumniszuschläge hinweisenden Gesichtspunkt hat das FG der Beschwerde nicht abgeholfen.

Das FA ist der Beschwerde entgegengetreten.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist begründet.

Nach § 69 Abs. 3 FGO kann das Gericht der Hauptsache oder der Vorsitzende die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen. Die Aussetzung soll angeordnet werden, u. a. wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen. Wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen ist, so kann das Gericht ganz oder teilweise die Aufhebung der Vollziehung anordnen.

1. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der die Aussetzung der Vollziehung anordnende Beschluß die auf dem Verwaltungsakt beruhende bisherige Rechtslage unberührt läßt und rechtmäßig auch nicht durch ausdrückliche Anordnung des Gerichts mit Rückwirkung ausgestattet werden kann. Im Gegensatz zur Meinung des FG ist jedoch der Mangel einer Ex-tunc-Wirkung kein Ausfluß der rechtsgestaltenden Natur des Beschlusses - denn die Rückwirkung rechtsgestaltender Entscheidungen ist grundsätzlich legitim (vgl. das kassatorische Urteil!) -, vielmehr ist die Aussetzung der Vollziehung tatbestandsmäßig ausschließlich auf eine Gestaltung des Rechtsverhältnisses zwischen den Beteiligten seit dem Erlaß der gerichtlichen Entscheidung ausgerichtet. Diese Auffassung beruht auf folgenden Erwägungen:

Die den Gerichten durch § 69 Abs. 3 FGO eingeräumte Möglichkeit der Rechtsgestaltung ist auf die Aussetzung und die Aufhebung der Vollziehung beschränkt. Dazu haben das BVerwG im Urteil vom 21. Juni 1961 VIII C 398/59 (BVerwGE 13, 1, 5) und im Anschluß hieran auch der BFH im Beschluß vom 20. April 1971 VII B 114/70 (BFHE 101, 494, BStBl II 1971, 402) zutreffend klargestellt, daß derartige Anordnungen - anders als in der Regel kassatorische (den Verwaltungsakt aufhebende) Entscheidungen - die Wirksamkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes und der durch ihn eingetretenen Regelung unberührt lassen.

Unter dieser Voraussetzung kann die Aussetzung der Vollziehung nur bedeuten, daß die Verwirklichung der im Verwaltungsakt ausgesprochenen Rechtsfolge (Steueranspruch) oder der sich aus ihr ergebenden weiteren Rechtsfolgen (Nebenfolgen) durch besondere gesetzlich vorgesehene Maßnahmen künftig ausgeschlossen ist und andererseits die Aufhebung der Vollziehung nur bewirkt, daß das FA durchgeführte Vollziehungsmaßnahmen nunmehr rückgängig zu machen hat. Denn wenn Anordnungen nach § 69 Abs. 3 FGO Rückwirkung beigelegt würde, so hätte dies, da Vollziehungsmaßnahmen nicht ungeschehen gemacht werden können, nur die Bedeutung der Verneinung ihrer Rechtsgrundlage. Da diese im Verwaltungsakt liegt, würde die Rückwirkung also die Wirksamkeit des Verwaltungsakts in Frage stellen und damit in Widerspruch zu den oben wiedergegebenen Grundsätzen treten.

Im übrigen ist auf den Mangel der Rückwirkung auch aus § 69 Abs. 3 Satz 4 FGO zu schließen, der bestimmt, daß das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anzuordnen hat, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung bereits vollzogen ist. Würde dem Gericht schon durch § 69 Abs. 3 Sätze 1 und 2 FGO die Möglichkeit eingeräumt sein, der Aussetzung der Vollziehung Rückwirkung beizulegen, so hätte es dieser Bestimmung nicht bedurft.

2. Das FG ist aber trotzdem mit seinem Beschluß dem Antrag der damaligen Klägerin nicht gerecht geworden. Das Begehren der Antragstellerin auf rückwirkende Aussetzung der Vollziehung enthält nämlich auch die nach ihrem Gegenstand gleichartige und nur dem Umfang nach geringere Sachbitte, die Aufhebung der Vollziehung anzuordnen, soweit der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung bereits vollzogen (§ 69 Abs. 3 Satz 4 FGO) und die Antragstellerin von dieser Vollziehung fortdauernd beschwert ist.

Das FG hätte deshalb, da die Antragstellerin ihr Interesse an einer Aufhebung der Vollziehung mit dem Hinweis auf die Verwirkung von Säumniszuschlägen in der Beschwerdeschrift dargelegt hat, jedenfalls in der Abhilfeentscheidung (§ 130 Abs. 1 FGO) prüfen müssen, ob das Rechtsinstitut der Aufhebung der Vollziehung auch die kraft Gesetzes eintretende Verwirkung von Säumniszuschlägen (§ 1 StSäumG) ergreift.

Diese Frage ist nach Auffassung des beschließenden Senats aus folgenden Gründen zu bejahen:

Die Verwirkung von Säumniszuschlägen gehört nicht zum Regelungsinhalt des Steuerbescheids; dieser ist vielmehr auf die Festsetzung einer Steuer gerichtet. Die Aufhebung der Verwirkung von Säumniszuschlägen berührt deshalb die Wirksamkeit der im Steuerbescheid enthaltenen Regelung nicht.

Nach § 1 Abs. 1 StSäumG ist, abgesehen von den hier nicht in Frage stehenden Ausnahmefällen der Absätze 2 und 3 für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von eins v. H. des rückständigen Steuerbetrags verwirkt, wenn eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstags entrichtet wird.

Diese Säumniszuschläge haben rechtlich und wirtschaftlich die Natur eines Druck- oder Zwangsmittels, das den Steuerpflichtigen anhalten soll, die Steuern rechtzeitig zu entrichten (BFH-Urteil vom 8. November 1955 V 90/55 S, BFHE 61, 521, BStBl III 1955, 399 - ständige Rechtsprechung). Als solches dienen die Säumniszuschläge der Verwirklichung des auf dem Steuerbescheid beruhenden Leistungsgebots und damit auch der Verwirklichung des Steuerbescheids. Die Verwirkung der Säumniszuschläge hat die Vollziehbarkeit (den "Ablauf des Fälligkeitstags"-§ 1 Abs. 1 StSäumG) zur Voraussetzung. Sie können deshalb unbedenklich als ein Mittel zur Vollziehung der auf eine Geldleistung gerichteten Steuerbescheide angesprochen werden, wenn auch durch ihre Verwirkung nicht der Verwaltungsakt selbst vollzogen oder die Erfüllung seines Leistungsgebots sichergestellt wird, sondern nur im Wege der Zufügung eines Übels auf die Leistungsbereitschaft des Steuerpflichtigen eingewirkt wird.

Diese Rechtsfolge aus der Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts muß der Aufhebung nach § 69 Abs. 3 Satz 4 FGO unterliegen, obwohl sie kraft Gesetzes automatisch eingetreten ist. Denn es entspricht dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift, einen umfassenden vorbeugenden Rechtsschutz zu gewähren, also zu verhindern, daß der von einem angefochtenen und in seiner Rechtmäßigkeit zweifelhaften Verwaltungsakt Betroffene während der Dauer des Schwebezustandes der Wirksamkeit dieses Verwaltungsakts Nachteile erleidet oder die bereits eingetretene Beschwer vorübergehend oder wie hier (Verwirkung!) endgültig tragen muß. Aus diesem Grundsatz folgt auch, daß anders als im Regelfall (Beitreibungsmaßnahmen, Vereinnahmung von Zahlungen, soweit sie als Vollziehung anzusehen ist) das FA nicht zur Aufhebung (Beseitigung der Maßnahme, Rückzahlung) verpflichtet wird, sondern daß die Verwirkung durch rechtsgestaltende gerichtliche Entscheidung ex tunc beseitigt wird. Aufgrund dieser Entscheidung gelten Säumniszuschläge als nicht entstanden und sind deshalb, soweit sie bereits eingezogen sind - wie beigetriebene Steuern nach Aufhebung der Vollziehung -, zurückzuzahlen.

Da die Verwirkung von Säumniszuschlägen für den Steuerpflichtigen eine selbständige Beschwer bildet, die nach rechtskräftiger Abweisung der gegen den Steuerbescheid erhobenen Anfechtungsklage bestehenbleibt, kann einem Antrag auf Aufhebung der Verwirkung, dem während der Rechtshängigkeit der Hauptsache hätte stattgegeben werden müssen, das Rechtsschutzbedürfnis nicht abgesprochen und damit der Erfolg auch dann nicht versagt werden, wenn der Antragsteller in der Hauptsache rechtskräftig abgewiesen wurde.

Da der Antragstellerin schon im Verwaltungsverfahren und auf ihre Anträge für die Dauer beider gerichtlicher Instanzen Aussetzung der Vollziehung gewährt wurde, muß von einer rechtlichen Lage ausgegangen werden, die auch die Aufhebung der Verwirkung von Säumniszuschlägen für die Zeit vor dem rechtskräftigen Abschluß des gerichtlichen Verfahrens rechtfertigt, in der mangels einer Aussetzung der Vollziehung Säumniszuschläge entstanden sind.

Der angefochtene Beschluß des FG war deshalb aufzuheben und dem Antrag der Antragstellerin mit der Maßgabe stattzugeben, daß die Verwirkung von Säumniszuschlägen aufgehoben wird.

Mit dieser Entscheidung wird dem in der Beschwerdebegründung dargelegten Interesse der Antragstellerin in vollem Umfang Rechnung getragen. Es ist deshalb nicht geboten, den nach seinem Wortlaut weitergehenden Antrag der Antragstellerin formell abzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72081

BStBl II 1977, 645

BFHE 1978, 258

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