Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit eines erneuten Vollziehungsaussetzungsantrags nach rechtskräftiger Ablehnung; Haftung des Verfügungsberechtigten

 

Leitsatz (NV)

1. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung während des Revisionsverfahrens ist auch dann zulässig, wenn der Antragsteller gegen den die Aussetzung der Vollziehung ablehenden Beschluß des Finanzgerichts keine Beschwerde eingelegt hat.

2. Zur Haftung des Verfügungsberechtigten für nicht abgeführte Steuern bei Unklarheit über die Höhe der vorhandenen Mittel.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 69, 35, 34 Abs. 1; FGO § 69; VGFGEntlG Art. 3 § 7 Abs. 2

 

Tatbestand

Der Kläger, Revisionskläger und Antragsteller (Antragsteller) gründete im Jahre 1969 zusammen mit seiner Ehefrau die F-GmbH (GmbH), nachdem er seit 1962 Inhaber eines . . .betriebs gewesen war. Von dem Stammkapital von 20 000 DM übernahmen der Antragsteller 500 DM und seine Ehefrau, die zur alleinigen Geschäftsführerin bestellt wurde, 19 500 DM. Die GmbH unterhielt Verkaufsstände für . . . Sie wurde am 12. Oktober 1978 im Handelsregister wegen Vermögenslosigkeit gelöscht, nachdem am 29. Mai 1978 die Eröffnung des Konkursverfahrens mangels Masse abgelehnt worden war. Durch Beschluß des Registergerichts vom 13. Oktober 1980 wurde der Antragsteller zum Nachtragsliquidator bestellt.

Die GmbH betrieb einen Verkaufsstand in der Halle des Hauptbahnhofs. Die Pacht wurde nach einer auf den Angaben des Antragstellers beruhenden Umsatzformel bemessen.

Für die Streitjahre (1975 und 1976) wurden dem Beklagten, Revisionsbeklagten und Antragsgegner (Finanzamt - FA -) keine Steuererklärungen der GmbH eingereicht. Im Anschluß an eine Betriebsprüfung kam das FA zu der Auffassung, daß für die Streitjahre, für die unstreitig keine ordnungsmäßige Buchführung vorliegt, aufgrund einer Nachkalkulation ein Gewinn von je 40 000 DM zu schätzen sei. Für die nach dieser Bemessungsgrundlage geschuldete Körperschaftsteuer hafte der Antragsteller als Verfügungsberechtigter i. S. des § 35 der Abgabenordnung (AO 1977), weil er der tatsächliche Geschäftsführer der GmbH gewesen sei. Der gegen den Haftungsbescheid vom 11. Juli 1978 eingelegte Einspruch hatte bezüglich der Körperschaftsteuerbeträge keinen Erfolg. Im Laufe des Klageverfahrens ermäßigte das FA die Haftungsschuld in der Weise, daß die Körperschaftsteuerschuld nicht mehr nach einem zu versteuernden Einkommen von je 40 000 DM für die beiden Streitjahre, sonden von 18 904 DM (1975) und 22 804 (1976) bemessen wurde. Im übrigen wurde der Haftungsbescheid zurückgenommen.

Die Klage des Antragstellers hatte keinen Erfolg.

Mit der bei dem Senat anhängigen Revision rügt der Antragsteller Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Mit Antrag vom 26. September 1984 an den Bundesfinanzhof (BFH) begehrt der Antragsteller, die Vollziehung des angefochtenen Haftungsbescheids auszusetzen. In dem Aussetzungsverfahren verweist er auf sein Vorbringen im Revisionsverfahren, aus dem sich ernstliche Zweifel gegen die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids ergäben. Das FA habe den Aussetzungsantrag des Antragstellers am 4. Mai 1984 anläßlich einer Vorsprache abgelehnt.

Der Antragsteller beantragt, die Vollziehung des Haftungsbescheides vom 11. Juli 1978 in Gestalt der Änderungsfassung vom 5. Februar 1982 ohne Sicherheitsleistung auszusetzen.

Das FA beantragt, den Antrag abzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Auf den Antrag des Antragstellers war die Vollziehung des angefochtenen Haftungsbescheides ohne Sicherheitsleistung auszusetzen. An der Rechtmäßigkeit dieses Bescheides bestehen ernstliche Zweifel.

1. Der Antrag, die Vollziehung des Haftungsbescheides ohne Sicherheitsleistung auszusetzen, ist zulässig.

Ein solcher Antrag konnte bei dem erkennenden Senat gestellt werden. Dieser ist, da die Revision gegen den Haftungsbescheid bei ihm anhängig ist, Gericht der Hauptsache; die übrigen Voraussetzungen des § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und die des Art. 3 § 7 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) sind erfüllt. Das FA hat nach dem unwidersprochenen Vorbringen des Antragstellers dessen Aussetzungsantrag abgelehnt. Daß dies anläßlich einer Vorsprache und offenbar nicht schriftlich geschehen ist, ist unerheblich.

Die von dem FA erwähnten Beschlüsse des Finanzgerichts (FG) Baden-Württemberg vom 14. März 1980 und vom 4. Februar 1983 stehen dem erneuten Antrag nicht entgegen. Nach § 69 Abs. 3 Satz 5 FGO können Beschlüsse über Aussetzungsanträge jederzeit geändert oder aufgehoben werden; nach Art. 3 § 7 Abs. 2 VGFGEntlG kann jeder Beteiligte unter bestimmten Voraussetzungen die Änderung oder Aufhebung eines solchen Beschlusses beantragen. Das bedeutet, daß die am Steuerprozeß Beteiligten bereits gestellte und abgelehnte Aussetzungsanträge grundsätzlich wiederholen können (so Beschluß des BFH vom 24. Oktober 1968 IV B 40/68, BFHE 93, 543, BStBl II 1969, 40). Ein solcher Antrag an den BFH ist auch dann zulässig, wenn der Antragsteller davon abgesehen hat, gegen die ablehnenden Beschlüsse des FG Beschwerde einzulegen. Darin liegt ebensowenig ein Rechtsmißbrauch (vgl. BFH-Beschluß vom 31. Oktober 1973 II S 9/73, BFHE 110, 435, BStBl II 1974, 59) wie in der Wiederholung eines abgelehnten Antrags mit neuer Begründung (vgl. BFHE 93, 543, BStBl II 1969, 40). Die neue Begründung bzw. die Geltendmachung neuer Umstände sieht der Senat im Streitfall in dem (im Antragsschriftsatz, aber in anderem Zusammenhang enthaltenen) Hinweis des Antragstellers auf die Entscheidung des Senats in der Prozeßkostenhilfesache I S 12/83 (Gewährung der Prozeßkostenhilfe). Damit hat der Antragsteller geltend gemacht, daß sein Rechtsmittel - abweichend von der Ansicht des FG - hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und deshalb ernstliche Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides bestehen.

Für das Aussetzungsverfahren besteht auch ein Rechtsschutzbedürfnis. Der Antragsteller hat aufgrund seiner aus dem Prozeßkostenhilfeverfahren I S 12/83 gerichtsbekannten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die durch seine neuerlichen diesbezüglichen Darlegungen bestätigt werden, ein berechtigtes Interesse daran, die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Haftungsbescheides ohne Sicherheitsleistung zu erreichen.

2. Bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Haftungsbescheides (vgl. BFH-Beschluß vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182) kann die eingeschränkte Prüfungsmöglichkeit des Revisionsgerichts bezüglich des FG-Urteils (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) nicht unberücksichtigt bleiben: In dem Aussetzungsverfahren dürfen keine Umstände verwertet werden, deren Berücksichtigung dem Gericht bei der Gewährung des endgültigen Rechtsschutzes im Hauptverfahren verwehrt ist. Deshalb können - wenn das FG der Klage nicht oder nicht voll entsprochen hat - ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes i. S. des § 69 FGO nur dann bestehen, wenn unter revisionsrechtlichen Gesichtspunkten mit einer Aufhebung oder einer Änderung des Bescheides gerechnet werden kann. Daher ist bei einer voraussichtlich endgültigen Entscheidung über die Revision (Verwerfung, Zurückweisung oder Sachentscheidung; § 126 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 1 FGO) der wahrscheinliche Ausgang dieses Verfahrens, bei voraussichtlicher Aufhebung und Zurückverweisung der Sache (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO) der wahrscheinliche Ausgang des Verfahrens vor dem FG summarisch zu beurteilen (BFH-Beschluß vom 21. November 1973 I S 8/73, BFHE 110, 498, BStBl II 1974, 114).

3. Der Aussetzungsantrag des Antragstellers ist auch begründet. Eine summarische Prüfung des angefochtenen Haftungsbescheides ergibt ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit.

a) Auf der Grundlage der vom FG offenbar auch für die Haftung wegen Körperschaftsteuer 1975 angenommenen Geltung der AO 1977 (vgl. Art. 97 § 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -) hat, wer als Verfügungsberechtigter im eigenen oder fremden Namen auftritt, die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters, soweit er sie rechtlich und tatsächlich erfüllen kann (§ 35 AO 1977). Gesetzliche Vertreter haben die steuerlichen Pflichten der vertretenen Personen zu erfüllen; sie haben insbesondere dafür zu sorgen, daß die Steuern aus den Mitteln entrichtet werden, die sie verwalten (§ 34 Abs. 1 AO 1977). Die in den §§ 34 un 35 AO 1977 bezeichneten Personen haften, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden (§ 69 Satz 1 AO 1977).

b) Das FG sieht den Tatbestand des § 69 AO 1977 als erfüllt an, weil der Antragsteller als Verfügungsberechtigter der GmbH für die Streitjahre weder zutreffende Körperschaftsteuererklärungen abgegeben noch die zur Begleichung der Steuerschulden erforderlichen Geldmittel zurückgehalten habe, obwohl Geldmittel vorhanden gewesen seien, wie die von der GmbH erwirtschafteten Gewinne auswiesen. Diese Auffassung des FG ist in tatsächlicher Hinsicht nicht abgesichert. Es steht nicht fest, ob, in welchem Umfang und in welchem Zeitraum der GmbH entsprechende Mittel zur Verfügung gestanden haben (vgl. BFH-Urteil vom 26. April 1984 V R 128/79, BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776; unter 3). Die Verpflichtung nach § 34 Abs. 1 Satz 2 AO 1977, dafür zu sorgen, daß die Steuern aus den verwalteten Mitteln entrichtet werden, setzt voraus, daß die GmbH - ungeachtet sonstiger Verbindlichkeiten - in dem maßgebenden Zeitpunkt (vgl. BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776; unter 3 b) über hinreichende Mittel zur Begleichung der Steuerschulden verfügte oder daß der Antragsteller, wenn diese Lage nicht gegeben war, die vorhandenen Mittel nicht nur zur Befriedigung privater Gläubiger, sondern auch des FA verwendet hat (vgl. BFH-Urteile vom 8. Juli 1982 V R 7/76, BFHE 137, 1, BStBl II 1983, 249; vom 25. Juni 1953 IV 513/52, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 109, Rechtsspruch 3).

c) Die Feststellungen des FG besagen nichts darüber, zu welchen Zeitpunkten die streitigen Körperschaftsteuerbeträge bei pflichtgemäßer Erfüllung der steuerlichen Obliegenheiten der GmbH fällig gewesen wären, und ob zu diesen Zeitpunkten oder später hinreichende Mittel zur vollen oder teilweisen Begleichung der Steuerschuld vorhanden waren. Soweit das FG aus der Höhe der von der GmbH erwirtschafteten (geschätzten) Gewinne auf das Vorhandensein von Geldmitteln schließt, ist dies nicht zwingend. Steuerschulden werden in der Regel erst einige Zeit nach Ablauf des Wirtschaftsjahres fällig, in dessen Verlauf sich Gewinne möglicherweise liquiditätsmäßig ausgewirkt haben. Zumindest hinsichtlich der Haftung für die Körperschaftsteuer 1976 hätten sich angesichts des Zahlungsverzugs der GmbH gegenüber . . . mit der darauf folgenden Kündigung des Pachtverhältnisses im Juli 1977 Ermittlungen aufdrängen müssen, wie weit die GmbH in diesem Zeitraum über Mittel verfügt und private Gläubiger bevorzugt hat. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Abflusses von Geldmitteln an die Gesellschafter der GmbH kann auch der Erwägung Bedeutung zukommen, daß die Gesellschafter damit - angesichts der drohenden Kündigung - den Verlust des Standplatzes und - soweit ersichtlich - die Grundlage ihrer damaligen wirtschaftlichen Existenz riskiert hätten.

4. Eine Aussetzung der Vollziehung gegen Sicherheitsleistung ist nicht gerechtfertigt.

Es kann dahinstehen, ob für den Antragsteller ein günstiger Verfahrensausgang gewiß oder (nur) wahrscheinlich ist (vgl. BFH-Beschluß vom 22. Dezember 1969 V B 115-116/69, BFHE 97, 240, 243, BStBl II 1970, 127). Wie dem Senat aus dem Prozeßkostenhilfeverfahren I S 12/83 sowie aus dem neuerlichen Vorbringen des Antragstellers bekannt ist, wird es dem Antragsteller trotz zumutbarer Anstrengungen nicht möglich sein, eine Sicherheitsleistung in der erforderlichen Höhe zu erbringen. Eine solche kann deshalb von ihm nicht verlangt werden (vgl. BFH-Beschluß vom 9. April 1968 I B 73/67, BFHE 92, 89, BStBl II 1968, 456).

 

Fundstellen

Haufe-Index 413750

BFH/NV 1987, 385

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