Leitsatz (amtlich)

1. Erklären die Beteiligten einen beim FG nach § 69 Abs. 3 FGO gestellten Antrag auf Vollziehungsaussetzung in der Hauptsache für erledigt, nachdem das FA die Vollziehungsaussetzung zunächst abgelehnt hatte, dann aber auf eine neben dem Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO eingelegte Beschwerde des Steuerpflichtigen hin die Vollziehung aussetzt, so ist über die Verfahrenskosten nach § 138 Abs. 1 FGO zu entscheiden.

2. Es entspricht billigem Ermessen, daß in einem solchen Fall der Steuerpflichtige und das FA die Verfahrenskosten je zur Hälfte tragen, es sei denn, daß der Steuerpflichtige auf Grund besonderer Umstände (z. B. Androhung von Vollstreckungsmaßnahmen durch das FA) Anlaß hatte, beide Rechtsbehelfe nebeneinander zu ergreifen.

 

Normenkette

FGO § 69 Abs. 3, § 138 Abs. 1-2

 

Tatbestand

Der Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) betreibt ein Werkzeug- und Maschinenbauunternehmen. Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (FA) erließ im Anschluß an eine Betriebsprüfung am 28. Juni 1973 geänderte Einkommensteuerbescheide für 1968 bis 1970 und am 6. Juli 1973 geänderte Gewerbesteuermeßbescheide für 1968 bis 1970. Der Antragsteller legte dagegen Einspruch ein. Gleichzeitig beantragte er beim FA, die Vollziehung der angefochtenen Steuerbescheide auszusetzen und die nachgeforderten Steuerbeträge bis zur Entscheidung über die Vollziehungsaussetzung zu stunden. Das FA entsprach dem Stundungsantrag. Mit Verfügung vom 19. Februar 1974 lehnte das FA die beantragte Aussetzung der Vollziehung ab, stellte aber eine weitere Stundung der nachgeforderten Einkommensteuer und Ergänzungsabgabebeträge in Aussicht.

Gegen die Verfügung des FA vom 19. Februar 1974 legte der Antragsteller mit Schreiben vom 27. Februar 1974 Beschwerde ein. Am gleichen Tage beantragte der Antragsteller beim FG, die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1968 bis 1970 und der Gewerbesteuermeßbescheide 1968 bis 1970 auszusetzen.

Das FA erließ am 27. Februar 1974 Einspruchsentscheidungen, die für 1969 und 1970 zu einer geringfügigen Herabsetzung der Einkommensteuer- und Gewerbesteuermeßbeträge führten. Dagegen erhob der Antragsteller Klage, über die noch nicht entschieden ist.

Die Beschwerde gegen die Ablehnungsverfügung des FA vom 19. Februar 1974 legte das FA der OFD vor. Diese wies das FA an, die Vollziehung der angefochtenen Steuerbescheide auszusetzen. Das FA setzte daraufhin

a) mit Verfügung vom 8. April 1974 die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide für 1968 bis 1970 in Höhe von 70 204 DM Einkommensteuer und 2 107 DM Ergänzungsabgabe und

b) mit Verfügung vom 17. April 1974 die Vollziehung der Gewerbesteuermeßbescheide 1968 bis 1970 in Höhe von 9 795 DM aus.

Der Antragsteller und das FA erklärten nunmehr die beim FG gestellten Anträge des Antragstellers auf Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide und Gewerbesteuermeßbescheide in der Hauptsache für erledigt. Der VIII. Senat des FG erließ am 12. Juli 1974 in dem Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1968 bis 1970 einen Beschluß, mit dem er die Verfahrenskosten dem FA auferlegte. Das FG führte aus, der Antrag habe nach dem Ergebnis der außergerichtlichen Erledigung vollen Erfolg gehabt. Es erscheine billig, daß die Staatskasse die Verfahrenskosten trage (§§ 143 Abs. 1, 138 Abs. 1, 135 Abs. 1 FGO). Des weiteren erließ der VIII. Senat des FG am 12. Juli 1974 in dem Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuermeßbescheide 1968 bis 1970 einen Beschluß, mit dem er die Verfahrenskosten ebenfalls dem FA auferlegte. Die Begründung des Beschlusses entspricht dem oben erwähnten Beschluß in der Einkommensteuersache lediglich mit dem Unterschied, daß die Entscheidung nicht auf § 138 Abs. 1, sondern auf § 138 Abs. 2 FGO gestützt ist.

Das FA legte gegen die Beschlüsse vom 12. Juli 1974 jeweils Beschwerde ein. Das FA beantragt, die angefochtenen Beschlüsse aufzuheben und die Verfahrenskosten dem Antragsteller aufzuerlegen. Das FA macht geltend, ein Fall des § 138 Abs. 2 FGO liege nicht vor, weil der Rechtsstreit nicht durch Zurücknahme oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts erledigt worden sei (Beschluß des BFH vom 16. November 1967 V B 9/67, BFHE 90, 456, BStBl II 1968, 120). Gemäß § 138 Abs. 1 FGO erscheine es billig, dem Antragsteller die Kosten aufzuerlegen, weil er diese veranlaßt habe. Er habe den Antrag bei Gericht gestellt, ohne die endgültige Entscheidung der Verwaltung abzuwarten.

Der Antragsteller beantragt, die Beschwerden als unbegründet zurückzuweisen. Er ist der Meinung, daß ein Fall des § 138 Abs. 2 FGO vorliege und daß für die Anträge ein Rechtsschutzbedürfnis bestanden habe.

Das FG hat den Beschwerden nicht abgeholfen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerden sind teilweise begründet. Es entspricht billigem Ermessen, dem Antragsteller und dem FA die Kosten der beiden Aussetzungsverfahren je zur Hälfte aufzuerlegen.

Dem Beschwerdevorbringen des FA ist im Ergebnis darin beizupflichten, daß die Kostenentscheidung nicht auf § 138 Abs. 2 FGO gestützt werden kann, sondern sich aus § 138 Abs. 1 FGO ergibt.

1. Nach § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO sind die Kosten der Behörde aufzuerlegen, soweit ein Rechtsstreit dadurch in der Hauptsache erledigt wird, "daß dem Antrag des Steuerpflichtigen durch Rücknahme oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsaktes stattgegeben oder daß im Falle der Untätigkeitsklage gemäß § 46 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 innerhalb der gesetzlichen Frist dem außergerichtlichen Rechtsbehelf stattgegeben oder der beantragte Verwaltungsakt erlassen wird". Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind nicht erfüllt, wenn ein Steuerpflichtiger einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO stellt, gleichzeitig Beschwerde gegen eine Verfügung des FA einlegt, mit der das FA die Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hat, und die OFD der Beschwerde stattgibt. In einem derartigen Fall erledigt sich zwar der Rechtsstreit nach § 69 Abs. 3 FGO in der Hauptsache, aber nicht durch "Rücknahme oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsaktes". Das FA kann sich zur Stütze seiner Auffassung, § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO sei nicht anwendbar, zwar nicht auf den BFH-Beschluß V B 9/67 berufen. In diesem Falle hatte der BFH die Anwendbarkeit des § 138 Abs. 2 FGO nur deshalb verneint, weil der Steuerpflichtige den Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO gestellt hatte, noch bevor das FA die Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hatte. Der V. Senat des BFH war der Meinung, daß in einem solchen Fall überhaupt noch kein Verwaltungsakt ergangen sei, weil der Steuerbescheid im Verfahren nach § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO nicht "angefochtener Verwaltungsakt" sei. Der Streitfall ist demgegenüber anders gelagert, denn im Streitfall hat das FA mit Verfügung vom 19. Februar 1974 ausdrücklich die beantragte Aussetzung der Vollziehung der durch Einspruch angefochtenen Einkommensteuer- und Gewerbesteuermeßbescheide abgelehnt. Gleichwohl ist § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO nicht anwendbar. Wenn beim Gericht der Hauptsache gemäß § 69 Abs. 3 FGO ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt wird, nachdem vorher das FA die Vollziehungsaussetzung abgelehnt hat, so ist die Ablehnungsverfügung des FA nicht ein angefochtener Verwaltungsakt im Sinne des § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO. Denn der Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO ist - anders als eine Klage gegen die Ablehnungsverfügung des FA und gegen die diese Ablehnungsverfügung bestätigende Beschwerdeentscheidung der OFD - nicht auf die Aufhebung oder Änderung der Verfügung des FA gerichtet, mit der das FA die Vollziehungsaussetzung abgelehnt hat. Dies folgt schon daraus, daß ein Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO bereits dann zulässig ist und auch begründet sein kann, wenn das FA lediglich einen Steuerbescheid erlassen hat und ein Antrag auf Vollziehungsaussetzung beim FA noch nicht gestellt und demgemäß auch nicht abgelehnt war (vgl. BFH-Beschlüsse vom 16. Dezember 1966 V S 8/66, BFHE 87, 340, BStBl III 1967, 144; vom 4. Dezember 1967 GrS 4/67, BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199; vom 10. November 1971 I B 14/70, BFHE 104, 39, BStBl II 1972, 222). Die Vorschrift des § 69 Abs. 3 FGO bietet gegenüber dem sogenannten Urteilsverfahren nach § 69 Abs. 2 FGO (§ 242 AO) einen eigenständigen Rechtsbehelf. Dieser ist zwar materiell auf ein gleichartiges Ziel gerichtet wie das sogenannte Urteilsverfahren, hat aber nicht die Rechtmäßigkeit der Ablehnungsverfügung des FA zum Streitgegenstand, sondern einen rechtlichen Anspruch des Antragstellers auf eine originär gestaltende Entscheidung des Gerichts, nämlich die Beseitigung der sofortigen Vollziehbarkeit des Steuerbescheids. Die Entscheidung des Gerichts im Verfahren nach § 69 Abs. 3 FGO hat allerdings die rechtliche Eigenschaft, daß sie, wenn sie zugunsten des Steuerpflichtigen ausfällt, gegenüber einer Ablehnungsverfügung des FA Vorrang hat und diese damit gegenstandslos macht. Das kann aber nicht dazu führen, die Ablehnungsverfügung des FA im Verfahren nach § 69 Abs. 3 FGO als "angefochtenen Verwaltungsakt" im Sinne des § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO zu werten.

2. Nach § 138 Abs. 1 FGO entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens, wenn der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist; dabei ist der bisherige Sach- und Streitstand zu berücksichtigen.

Der I. Senat des BFH hat in seinem Beschluß I B 14/70 die Auffassung vertreten, daß es billigem Ermessen entspricht, dem Steuerpflichtigen und dem FA die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte aufzuerlegen, wenn der Steuerpflichtige, ohne vorher beim FA eine Aussetzung der Vollziehung zu beantragen, unmittelbar beim Gericht einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO stellt, das FA auf diesen Antrag hin die Vollziehung aussetzt und sich damit das Verfahren nach § 69 Abs. 3 FGO in der Hauptsache erledigt. Dabei sei zu berücksichtigen einerseits, daß das FA die Vollziehung ausgesetzt habe, was auf gute Erfolgsaussichten des beim Gericht gestellten Antrags schließen lasse, und andererseits, daß ein Anlaß zur Anrufung des Gerichts nicht gegeben gewesen sei. Dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden entspreche es, bei der Entscheidung über die Kostenlast auch den Umstand zu berücksichtigen, daß infolge der Inanspruchnahme des Gerichts Kosten entstanden seien, die vermeidbar gewesen wären, wenn der Steuerpflichtige sich zuvor an seinen Gegner gewandt hätte.

Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an. Er vertritt darüber hinaus die Ansicht, daß die Grundsätze des Beschlusses I B 14/70 sinngemäß auch dann anzuwenden sind, wenn ein Steuerpflichtiger gegen eine Verfügung des FA, mit der dieses die Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hat, Beschwerde zur OFD einlegt und daneben einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO stellt, ohne daß hierzu durch besondere Umstände, wie z. B. die Androhung von Vollstreckungsmaßnahmen, ein spezifischer Anlaß gegeben war. Hat in einem solchen Fall die Beschwerde Erfolg, noch bevor das FG mit dem Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO entscheidet, und erklären die Beteiligten dieses Verfahrens daraufhin die Hauptsache für erledigt, so entspricht es billigem Ermessen, die Kosten des gerichtlichen Verfahrens je zur Hälfte dem Steuerpflichtigen und dem FA aufzuerlegen. Es ist zwar das gute Recht eines Steuerpflichtigen, der sich beim FA erfolglos um die Vollziehungsaussetzung bemüht hat, von einer Beschwerde an die OFD abzusehen und statt dessen einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO zu stellen. Ein derartiger Antrag ist verfahrensrechtlich selbst dann zulässig und nicht etwa mangels Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abzulehnen, wenn der Steuerpflichtige gegen die Ablehnungsverfügung des FA Beschwerde bei der OFD eingelegt hat. Im Rahmen einer Entscheidung über die Kosten des (zulässigen) gerichtlichen Verfahrens kann jedoch nach billigem Ermessen nicht außer Betracht bleiben, ob der Steuerpflichtige Anlaß hatte, zwei Rechtsbehelfe nebeneinander zu ergreifen, ob es also gerade des Nebeneinanders der Rechtsbehelfe bedurfte, um die Aussetzung der Vollziehung zu erreichen. Dies ist in einem Fall wie dem Streitfall, in dem die Beschwerde Erfolg hatte und ein spezifischer Anlaß gerade für ein Nebeneinander der Rechtsbehelfe nicht vorlag, zu verneinen. Es sind durch die Inanspruchnahme des Gerichts Kosten entstanden, die vermeidbar gewesen wären, wenn der Antragsteller die Beschwerdeentscheidung der OFD abgewartet hätte. Da besondere Umstände wie z. B. die Androhung von Vollstreckungsmaßnahmen nicht vorlagen, war dem Antragsteller dieses Abwarten auch zuzumuten. Der Streitfall ist insoweit nicht mit dem Fall vergleichbar, den der Senat mit Beschluß vom 14. April 1967 IV B 23/66 (BFHE 88, 195, BStBl III 1967, 321) entschieden hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 71094

BStBl II 1975, 386

BFHE 1975, 526

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