Leitsatz (amtlich)

1. Eine Divergenz i. S. des § 11 Abs. 3 FGO liegt auch dann vor, wenn der vorlegende Senat von einer Entscheidung eines Senats abweichen will, von der ein anderer Senat bereits abgewichen ist, der vorlegende Senat aber dem abgewichenen Senat folgen will.

2. § 9 Abs. 2 VwZG, der die Heilung eines Zustellungsmangels nach § 9 Abs. 1 VwZG ausschließt, gilt nicht, soweit mit der Zustellung die Einspruchsfrist (§ 236 Abs. 1 AO) in Lauf gesetzt wird.

 

Normenkette

AO §§ 229, 236; FGO § 11 Abs. 3, §§ 45, 47 Abs. 1; VwZG § 9

 

Tatbestand

I.

Der VI. Senat des BFH hat durch Beschluß vom 19. Januar 1976 VI R 108/73 (BFHE 117, 436, BStBl II 1976, 219) dem Großen Senat gemäß § 11 Abs. 3 und 4 FGO folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

Gilt § 9 Abs. 2 VwZG, der die Heilung eines Zustellungsmangels nach § 9 Abs. 1 VwZG ausschließt, auch, wenn mit der Zustellung die Einspruchsfrist (§ 236 Abs. 1 AO) in Lauf gesetzt werden soll?

Der Revision, über die der VI. Senat zu entscheiden hat, liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) wurde der Einkommensteuerbescheid 1970 am 23. Juli 1971 an Amtsstelle ausgehändigt. Ein schriftliches Empfangsbekenntnis gab sie nicht ab Die Sachbearbeiterin vermerkte lediglich in den Steuerakten die Übergabe des Steuerbescheides. Gegen den Steuerbescheid legte die Klägerin wegen der Nichtanerkennung von Werbungskosten Einspruch ein, der am 24. August 1971 beim Beklagten und Revisionskläger (FA) einging.

Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig, da er verspätet eingelegt worden sei. Der Zustellungsmangel, der dadurch entstanden sei, daß die Klägerin anläßlich der Übergabe des Einkommensteuerbescheides kein Empfangsbekenntnis nach § 5 Abs. 1 VwZG abgegeben habe, sei geheilt worden; denn der Klägerin sei der Steuerbescheid unstreitig am 23. Juli 1971 ausgehändigt worden. Nachsichtsgründe seien nicht gegeben.

Das FG gab der Klage statt. Es war der Auffassung, daß die Einspruchsfrist wegen des Zustellungsmangels nicht zu laufen begonnen habe. Der Zustellungsmangel sei nicht durch die Aushändigung des Einkommensteuerbescheids an die Klägerin geheilt worden, denn § 9 Abs. 2 VwZG schließe die Anwendung des § 9 Abs. 1 VwZG aus, wenn mit der Zustellung eine Frist für die Erhebung der Klage beginne. Nach der Zustellung eines Steuerbescheides beginne nicht nur die Frist für die Einlegung des Einspruchs, sondern gleichzeitig auch die für die Einlegung der Sprungklage (§ 47 Abs. 1 Satz 1 FGO).

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des FA.

Der VI. Senat beabsichtigt, der Revision des FA stattzugeben und unter Aufhebung der Vorentscheidung die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über die Frage der Nachsichtgewährung an das FG zurückzuverweisen. Der VI. Senat ist mit dem FA der Auffassung, daß bei der Zustellung durch Aushändigung an die Klägerin die zwingenden Zustellungsvorschriften der §§ 5 Abs. 1 und 10 VwZG verletzt worden seien, im Streitfall aber dieser Zustellungsmangel dadurch geheilt worden sei, daß die Zustellungsadressatin den Steuerbescheid unstreitig am 23. Juli 1971 erhalten habe. Die Vorschrift des § 9 Abs. 2 VwZG, die eine Heilung von Zustellungsmängeln ausschließt, wenn mit der Zustellung u. a. eine Frist für die Erhebung der Klage beginnt, hält der VI. Senat nicht für anwendbar.

In der Auslegung des § 9 Abs. 2 VwZG stimmt der VI. Senat ausdrücklich der Auffassung des VIII. Senats in dem Urteil vom 8. Februar 1972 VIII R 14/68 (BFHE 105, 85, BStBl II 1972, 506), dem im Anschluß daran ergangenen Urteil vom 8. Februar 1974 III R 27/73 (BFHE 111, 453, BStBl II 1974, 367) und dem Beschluß vom 15. Mai 1973 VII B 112/72 (nicht veröffentlicht) zu.

Der VI. Senat glaubt sich an der beabsichtigten Entscheidung gehindert durch die Urteile vom 27. März 1968 I 195/64 (nicht veröffentlicht), vom 16. Juli 1968 II R 57/66 (BFHE 93, 129, BStBl II 1968, 728) und vom 20. Januar 1972 IV R 128/67 (nicht veröffentlicht).

Der VI. Senat sieht in der Abweichung von den Entscheidungen dieser Senate trotz Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des VIII., III. und VII. Senats eine Abweichung i. S. des § 11 Abs. 3 FGO, die es gebiete, den Großen Senat anzurufen.

Unabhängig von der Frage der Divergenz sei die Vorlage an den Großen Senat jedenfalls nach § 11 Abs. 4 FGO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig und geboten. Denn über die Anwendung des § 9 Abs. 2 VwZG auf Einspruchsfristen bestünden Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Senate des BFH.

Der VI. Senat des BFH begründet seine Auffassung, daß § 9 Abs. 2 VwZG auf Einspruchsfristen nicht anzuwenden sei, mit dem seiner Ansicht nach eindeutigen Wortlaut dieser Vorschrift. Daraus ergebe sich, daß deren Wirkungsbereich sich nicht auf das Verwaltungsvorverfahren erstrecke. Gesichtspunkte des Rechtsschutzes und der Rechtssicherheit könnten die über den Wortlaut hinausgehende Anwendung nicht rechtfertigen. Vielmehr werde gerade die Rechtssicherheit durch eine vom eindeutigen Gesetzeswortlaut abweichende Auslegung in hohem Maße beeinträchtigt. Der Rechtsschutz werde dadurch, daß § 9 Abs. 1 VwZG die Heilung eines Zustellungsmangels zulasse, nicht verkürzt. § 9 Abs. 1 VwZG greife nur ein, wenn feststehe, daß der Empfänger das zuzustellende Schriftstück tatsächlich erhalten habe. Es könne schließlich daraus, daß mit der Zustellung eines Steuerbescheides auch die Frist zur Erhebung der Sprungklage beginne, nicht gefolgert werden, § 9 Abs. 2 VwZG müsse auch auf das Vorverfahren angewendet werden. Es sei allerdings nicht zu verkennen, daß damit letzten Endes die Wirksamkeit der Zustellung davon abhänge, ob Einspruch oder Sprungklage eingelegt werde.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Entscheidung des Großen Senats

1. Die Anrufung nach § 11 Abs. 3 FGO

a) Die Divergenz

Der Große Senat ist mit dem vorlegenden Senat der Auffassung, daß eine Abweichung von den Urteilen I 195/64, II R 57/66 und IV R 128/67 vorliegt.

Zwar ist bereits der VIII. Senat von der in diesen Urteilen vertretenen Rechtsauffassung abgewichen. Der Große Senat ist aber gleichwohl der Auffassung - unbeschadet des Umstands, daß der VIII. Senat sich ausführlich mit der in den angeführten Urteilen übernommenen Rechtsauffassung auseinandergesetzt hat und zwei weitere Senate der Rechtsprechung des VIII. Senats in der Zwischenzeit gefolgt sind -, daß die vom VI. Senat beabsichtigte Entscheidung eine Abweichung i. S. des § 11 Abs. 3 FGO darstellt. Denn nach dem Wortlaut dieser Vorschrift kommt es nur darauf an, daß ein Senat von einer Entscheidung eines anderen Senats abzuweichen beabsichtigt. Es ist also in jedem Fall der Abweichung dem Großen Senat vorzulegen, ohne Rücksicht darauf, ob bereits ein Senat ohne Vorlage an den Großen Senat abgewichen ist und der nunmehr zur Abweichung entschlossene Senat dem bereits abgewichenen Senat folgen will. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck der Regelung des § 11 Abs. 3 FGO, der nach übereinstimmender Meinung darin besteht, widersprechende Entscheidungen zu vermeiden. Dieser Zweck wird dadurch erreicht, daß, soweit nicht der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, der Abweichung zustimmt, dem Großen Senat vorzulegen ist, der die Abweichung billigt oder nicht billigt. Jede Abweichung von einer Entscheidung eines anderen Senats muß daher entweder durch die Zustimmung dieses Senats oder durch die Entscheidung des Großen Senats abgedeckt sein. Ist ein Senat ohne Vorlage an den Großen Senat abgewichen, gleichgültig aus welchen Gründen, so ist die in der unberücksichtigten Entscheidung vertretene Rechtsauffassung nicht auf verfahrensgerechte Weise durch eine andere Rechtsauffassung ersetzt worden. Sie bleibt weiterhin für die Frage einer etwaigen Abweichung rechtserheblich. Es bleiben in einem solchen Fall zwei unterschiedliche Rechtsauffassungen zu derselben Rechtsfrage existent. Gerade dieser Zustand soll durch die Vorlagepflicht des § 11 Abs. 3 FGO vermieden werden.

Der Auffassung des Großen Senats steht nicht die Entscheidung des Großen Senats des BGH für Strafsachen vom 7. November 1955 GSSt 2/55 (BGHSt 10, 94) entgegen. Denn nach dieser Entscheidung ist der Große Senat anzurufen, wenn ein Senat von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen will, der seinerseits von der Entscheidung eines anderen Senats abgewichen ist, ohne den Großen Senat anzurufen. Dieser Fall liegt hier nicht vor. Der anrufende VI. Senat will von der Entscheidung des VIII. Senats, der seinerseits von den Entscheidungen des I., II. und IV. Senats abgewichen war, ohne den Großen Senat anzurufen, nicht abweichen. Der anrufende Senat will dem VIII. Senat folgen.

Aus der Entscheidung des BGH GSSt 2/55 läßt sich auch nicht der Umkehrschluß ziehen, daß dann, wenn der anrufende Senat dem abgewichenen Senat folgen will, eine Vorlagepflicht nicht bestehe.

Da der Große Senat eine Abweichung bejaht, braucht nicht mehr darauf eingegangen zu werden, ob die vorgelegte Rechtsfrage auch grundsätzliche Bedeutung hat (§ 11 Abs. 4 FGO). Zwar hat der VI. Senat den Großen Senat "nach § 11 Abs. 3 und 4 der FGO" angerufen. Aus den Gründen des Vorlagebeschlusses ergibt sich aber, daß der VI. Senat die Vorlage auf § 11 Abs. 4 FGO nur für den Fall gestützt hat, daß eine Divergenz verneint würde.

b) Die Besetzung des Großen Senats

Nach § 11 Abs. 2 Satz 2 FGO kann in den Fällen der Divergenzanrufung jeder beteiligte Senat einen weiteren Richter zu den Sitzungen des Großen Senats entsenden. Beteiligte in diesem Sinne sind der vorlegende Senat und die Senate, von deren Entscheidung abgewichen werden soll, das sind der I., II. und IV. Senat. Es konnten daher alle diese Senate einen weiteren Richter in den Großen Senat entsenden. § 11 FGO enthält keine dem § 4 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (BGBl I, 661) vergleichbare Regelung, daß, wenn von den Entscheidungen mehrerer Senate abgewichen wird, nur der Senat beteiligt ist, der als letzter entschieden hat (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 6. Februar 1973 GmS-OGB 1/72, BFHE 109, 206).

2. Die vom Großen Senat zu entscheidende Frage hängt allein mit der Regelung der AO und der FGO zusammen, daß gegen Verwaltungsakte der in § 229 AO bezeichneten Art entweder der Einspruch (§ 229 AO) oder unmittelbar die Anfechtungsklage (Sprungklage) gegeben ist (§ 45 Abs. 1 FGO). Es werden demnach mit der Zustellung eines Verwaltungsaktes der in § 229 AO bezeichneten Art verschiedene Fristen in Lauf gesetzt, nämlich eine Einspruchsfrist (§ 236 Abs. 1 AO) oder eine (Sprung-) Klagefrist (§ 47 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dieser Eigentümlichkeit hat auch die Auslegung des § 9 VwZG Rechnung zu tragen.

Wortlaut, Zweck und Sinnzusammenhang des § 9 VwZG führen dabei zu dem Ergebnis, daß § 9 Abs. 1 VwZG entgegen der Auffassung des BFH-Urteils II R 57/66 für den Lauf der Einspruchsfrist auch in den Fällen anzuwenden ist, in denen mit der Zustellung eines Verwaltungsaktes auch die Frist für die Erhebung einer Sprungklage beginnt (§ 9 Abs. 2 VwZG).

a) Nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 2 VwZG ist die Zustellungsfiktion des § 9 Abs. 1 VwZG ausgeschlossen, wenn mit der Zustellung die Frist für die Erhebung der Klage beginnt. Dieser Wortlaut ist eindeutig. § 9 Abs. 2 VwZG sagt nach seinem Wortlaut nichts darüber aus, wie es sich verhält, wenn mit dem Beginn der Klagefrist gleichzeitig die Frist für einen Einspruch zu laufen beginnt (vgl. §§ 229, 236 Abs. 1 AO). Der eindeutige Wortlaut der Vorschrift rechtfertigt es nicht, sie auch auf den Fall auszudehnen, daß mit der Zustellung neben der Klagefrist auch eine Einspruchsfrist zu laufen beginnt. Eine solche Auffassung widerspräche insbesondere dem Sinn und Zweck des § 9 VwZG.

b) Für den Sinn des § 9 VwZG insgesamt ist der Hinweis in der Begründung zu der dem § 9 VwZG entsprechenden Vorschrift des § 10 des Entwurfs eines VwZG von entscheidender Bedeutung, daß die Bestimmung den bisherigen Rechtsgrundsätzen, wie sie auch in § 187 ZPO ausgesprochen seien, entspreche (Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode, Drucksache Nr. 2963). Ebenso wie nach § 187 ZPO tritt auch nach § 9 Abs. 1 VwZG hinsichtlich eines Zustellungsmangels eine Heilung ein. Nach beiden Vorschriften gilt bei Verletzung von zwingenden Zustellungsvorschriften die Fiktion, daß in dem Zeitpunkt des tatsächlichen Empfangs durch den Empfangsberechtigten ein Schriftstück als zugestellt gilt. Damit soll dem mit der Zustellung notwendigerweise verbundenen Formalismus abgeholfen werden. Einer solchen Abhilfe kommt besondere Bedeutung bei der Zustellung der massenhaft ergehenden Verwaltungsakte nach § 229 AO zu. Dem Sinn des § 9 VwZG im Bereich seiner Geltung für das Zustellungsverfahren der Finanzbehörden würde es widersprechen, Mängel bei der Zustellung von Verwaltungsakten, die die Finanzbehörden in sehr großer Anzahl - wie z. B. die in § 229 AO angeführten Steuerbescheide - erlassen, nicht heilen zu lassen, weil mit der Zustellung eines solchen Verwaltungsaktes gleichzeitig die Frist für eine Klage beginnt. Wollte man in diesen Fällen die Fiktion des § 9 Abs. 1 VwZG ausschließen, dann käme eine Heilung von Zustellungsmängeln nur mehr bei Zustellung der anderen als der in § 229 AO aufgeführten Verwaltungsakte (vgl. § 230 Abs. 1 AO) in Betracht, die in erheblich geringerer Zahl erlassen werden. Die Heilung von Zustellungsmängeln nach § 9 Abs. 1 VwZG hätte daher für die Finanzverwaltung nur untergeordnete Bedeutung.

c) Der Sinn des § 9 Abs. 2 VwZG, soweit er sich auf die Frist für die Erhebung der Klage bezieht, besteht darin, dem Gericht die Überprüfung, ob die Klagefrist eingehalten und damit eine Prozeßvoraussetzung gegeben ist, zu erleichtern. Dafür sollen allein die Formalitäten der Zustellung ausschlaggebend sein (vgl. Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 6. Aufl., § 56 Tz. 21; Redeker-von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl., § 56 Anm. 12). Wenn auch der Kreis der Fristen, bei denen nach § 9 Abs. 2 VwZG die Heilung von Zustellungsmängeln ausgeschlossen ist, nicht abschließend aufgezählt sein mag, so kann es sich bei § 9 Abs. 2 VwZG doch nur um die typischen Fälle der Fristen handeln, in denen nach Sachlage im Interesse einer eindeutigen Klarheit und des Schutzes der Betroffenen eine Heilung von Zustellungsmängeln nicht in Betracht kommen sollte (Beschluß des BVerwG vom 16. Dezember 1965 VIII B 65.65, BVerwGE 23, 89). Soweit mit der Zustellung eines Verwaltungsaktes gleichzeitig zwei Fristen, nämlich die Einspruchs- und die Klagefrist, zu laufen beginnen, trifft der Sinn und Zweck des § 9 Abs. 2 VwZG nur auf die Klagefrist zu.

d) Die Auffassung, daß § 9 Abs. 1 VwZG dann nicht anzuwenden ist, wenn mit der Zustellung auch die Frist für die Erhebung der Klage beginnt, läßt sich auch nicht in Einklang bringen mit dem Sinnzusammenhang zwischen § 9 Abs. 1 und Abs. 2 VwZG. Die beiden Vorschriften stehen zueinander im Verhältnis von Grundsatz (Absatz 1) und Ausnahme (Absatz 2). In dem Bereich der Anwendung der Vorschrift für das Zustellungsverfahren der Finanzbehörden würde das Verhältnis von Grundsatz und Ausnahme eine Umkehrung dadurch erfahren, daß die Ausnahme für die weit größere Anzahl von Zustellungen zum Grundsatz und der Grundsatz für eine erheblich kleinere Anzahl von Zustellungen zur Ausnahme würden.

3. Bei der Auslegung des § 9 VwZG kann aber auch der Zusammenhang mit der Regelung über die Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte der Finanzbehörden nicht außer Betracht gelassen werden. Wie bereits dargetan, ist gegen die in § 229 AO bezeichneten Verwaltungsakte entweder der Einspruch oder die (Sprung-) Klage gegeben (§ 45 FGO). Das hat zur Folge, daß die Frist für den nicht eingelegten Rechtsbehelf rechtlich ohne Bedeutung ist. Es wird demnach durch die Einlegung des Rechtsbehelfs bestimmt, welche Frist rechtlich von Bedeutung ist, die Einspruchs- oder die Klagefrist. Nach der so bestimmten Frist richtet sich, ob § 9 Abs. 1 oder Abs. 2 VwZG anzuwenden ist. Wird Einspruch eingelegt, ist § 9 Abs. 1 VwZG anzuwenden mit der Folge, daß Zustellungsmängel geheilt werden und der nicht fristgerecht eingelegte Einspruch als verspätet anzusehen ist. Wird Sprungklage erhoben, ist § 9 Abs. 2 VwZG anzuwenden mit der Folge, daß die Fiktion des § 9 Abs. 1 VwZG ausgeschlossen ist, so daß Zustellungsmängel nicht geheilt werden und demnach die Rechtsbehelfsfrist noch nicht zu laufen begonnen hat. Im Fall der Erhebung der Sprungklage hat allerdings die Behörde die Möglichkeit, die Zustimmung zu versagen, so daß dann die Klage als Einspruch zu behandeln ist. Der Große Senat ist der Auffassung, daß dadurch eine Änderung des Charakters der Frist nicht eintritt, die Frist nicht wieder zur Einspruchsfrist mit der weiteren Folge wird, daß auch § 9 Abs. 1 VwZG anzuwenden ist. Denn die einzige Rechtsfolge der versagten Zustimmung der Behörde ist die Behandlung als Einspruch. Darüber hinaus ist eine gesetzliche Regelung nicht feststellbar, wonach die mit der Erhebung der Sprungklage eingetretene Rechtsfolge des § 9 Abs. 2 VwZG wieder rückgängig gemacht würde.

Diese Auslegung wird auch dem Interesse des Steuerpflichtigen gerecht. Die Sprungklage kann, da wegen der fehlerhaften Zustellung die Rechtsbehelfsfrist noch nicht zu laufen begonnen hat, infolge des Ausschlusses der Fiktion des § 9 Abs. 1 VwZG nicht als verspätet zurückgewiesen werden. Dieser verfahrensrechtliche Vorteil muß dem Steuerpflichtigen erhalten bleiben, auch wenn die Behörde die Zustimmung zur Sprungklage versagt. Andernfalls hätte sie es durch die Versagung ihrer Zustimmung jeweils in der Hand, den Rechtsbehelf als unzulässig verwerfen zu können. Im Fall der Erhebung der Sprungklage bleibt demnach die Frist eine Klagefrist mit der Folge, daß die Fiktion hinsichtlich des Zeitpunkts der Zustellung nach § 9 Abs. 1 VwZG ausgeschlossen ist (§ 9 Abs. 2 VwZG).

Zusammenfassend ist demnach festzustellen, daß § 9 Abs. 2 VwZG in den Fällen nicht anzuwenden ist, in denen mit der Zustellung neben der Klage- eine Einspruchsfrist in Lauf gesetzt und durch die Einlegung des Einspruchs die Frist als Einspruchsfrist i. S. des § 9 Abs. 1 VwZG endgültig bestimmt wird.

III.

Aus den dargelegten Gründen entscheidet der Große Senat die vorgelegte Rechtsfrage wie folgt:

§ 9 Abs. 2 VwZG, der die Heilung eines Zustellungsmangels nach § 9 Abs. 1 VwZG ausschließt, gilt nicht, soweit mit der Zustellung die Einspruchsfrist (§ 236 Abs. 1 AO) in Lauf gesetzt wird.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72041

BStBl II 1977, 247

BFHE 121, 9

BFHE 1977, 9

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