Leitsatz (amtlich)

1. Der Erlaß des Veranlagungsbescheides erledigt einen um Vorauszahlungen geführten Rechtsstreit nicht in der Hauptsache.

2. Im Falle einer Klage ohne Vorverfahren nach § 46 FGO muß die Behörde in jedem Verfahrensstadium prüfen, ob noch zureichende Gründe für eine Verzögerung der außergerichtlichen Rechtsbehelfsentscheidung vorliegen.

 

Normenkette

FGO § 46 Abs. 1, § 138 Abs. 1

 

Tatbestand

Streitig ist, wer die Kosten einer nach § 46 FGO ohne Vorverfahren erhobenen und in der Hauptsache erledigten Anfechtungsklage zu tragen hat.

Das FA - Beklagter, Beschwerdegegner - erließ gegen den Steuerpflichtigen (Kläger, Beschwerdeführer) sechs Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide für Januar bis Juni 1969, in denen es die Umsätze des blinden Steuerpflichtigen der Umsatzsteuer unterwarf. Der Steuerpflichtige legte gegen die Vorauszahlungsbescheide mit Schriftsätzen vom 9. Juli 1969 (Umsatzsteuer Januar bis April 1969) und vom 15. August 1969 (Umsatzsteuer Mai bis Juni 1969) Beschwerden zur OFD ein, mit denen er Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 19a des Umsatzsteuergesetzes - Mehrwertsteuer - 1967 (UStG 1967) geltend machte. Das FA kündigte am 14. Juli und 15. August 1969 dem Steuerpflichtigen an, es werde die Entscheidung über die Beschwerden bis zur Entscheidung über das gleichgelagerte, beim FG anhängige Verfahren in der Umsatzsteuersache 1968 zurückstellen. Der Steuerpflichtige erklärte sich damit einverstanden. Nach Ergehen des Beschlusses des BFH V B 115-116/69 vom 22. Dezember 1969 (BFH 97, 240, BStBl II 1970, 127), der die Vollziehungsaussetzungssachen Umsatzsteuer 1968 und Umsatzsteuer Januar bis Juni 1969 des Steuerpflichtigen betraf, wandte sich der Steuerpflichtige mit Schriftsatz vom 6. Februar 1970 an das FA. Er machte geltend: Nach dem BFH-Beschluß bestünden keine Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Vorauszahlungsbescheide; er bitte die OFD, bis zum 16. Februar 1970 über die Beschwerden zu entscheiden. Der Steuerpflichtige erklärte weiterhin mit Schriftsatz vom 16. Februar 1970, er werde "finanzgerichtliche Klage erheben, wenn bis zum 2.3.1970 keine Entscheidung vorliegen sollte". Das FA legte die Akten der OFD vor. Die OFD wies den Steuerpflichtigen in einem Schreiben vom 26. Februar 1970 darauf hin, daß sie den Finanzminister des Landes N unmittelbar nach Bekanntgabe des o. a. BFH-Beschlusses um Weisung gebeten habe; diese stehe noch aus; im übrigen befänden sich die Steuerakten beim FG. Der Steuerpflichtige antwortete, er könne diese Gründe nicht anerkennen und kündigte an, er werde Untätigkeitsklage erheben, wenn nicht bis zum 10. März 1970 über seine Beschwerden entschieden worden sei.

Der Steuerpflichtige erhob am 19. März 1970 Anfechtungsklage gemäß § 46 FGO. Am 8. Mai 1970 erließ das FA einen vorläufigen Umsatzsteuerbescheid für 1969, der die in den angegriffenen Vorauszahlungsbescheiden festgesetzten Umsatzsteuerbeträge unverändert übernahm. Die Beteiligten erklärten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt (Schriftsätze des FA vom 8. Mai 1970 und des Steuerpflichtigen vom 1. Juli 1970). Das FG hat die Kosten gemäß § 138 Abs. 1 FGO dem Steuerpflichtigen auferlegt und dazu ausgeführt: Die Klage sei im Zeitpunkt der Hauptsacheerledigung unzulässig gewesen. Sollte die grundsätzlich einzuhaltende Neunmonatsfrist schon verstrichen gewesen sein, seien dem Steuerpflichtigen jedenfalls in dem Schreiben der OFD vom 26. Februar 1970 zureichende Gründe für die Verzögerung der Beschwerdeentscheidung mitgeteilt worden.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde des Steuerpflichtigen, der geltend macht: Die Neunmonatsfrist sei bei Eintritt des erledigenden Ereignisses, der Erhebung der Klage gegen den vorläufigen Umsatzsteuerbescheid 1969, schon abgelaufen gewesen. Ein zureichender Grund für eine darüber hinausgehende Verzögerung der Beschwerdeentscheidung sei nicht zu erkennen. Eine Behörde könne sich nicht unbegrenzte Zeit darauf berufen, sie müsse noch Weisungen der vorgesetzten Behörden abwarten. Die entsprechende Weisung des Finanzministers des Landes N sei überdies bereits am 14. April 1970 ergangen. Die Steuerakten hätten nach der Entscheidung des FG in der Umsatzsteuersache 1968 am 28. April 1970 wieder zur Verfügung gestanden. Der OFD sei auch der Sachverhalt bekannt gewesen, so daß sie die Steuerakten nicht benötigt hätte. Die Untätigkeitsvereinbarung, die im August 1969 zwischen ihm und dem FA zustande gekommen sei, sei nach Ablauf der Neunmonatsfrist wirkungslos geworden.

Das FA hält die Beschwerde für unbegründet.

Es führt aus: Die OFD habe zureichende Gründe für die Verzögerung der Beschwerdeentscheidung gehabt. Sie habe nach Eingang des Erlasses des Finanzministers des Landes N vom 14. April 1970 das FA am 28. April 1970 fernmündlich angewiesen, die Umsatzsteuerveranlagung 1969 vorläufig durchzuführen und den zu erwartenden Einspruch alsbald zurückzuweisen. Danach sei verfahren worden. Der vorläufige Umsatzsteuerbescheid 1969 sei am 8. Mai 1970 ergangen, der am 25. Mai 1970 eingelegte Einspruch schon am 10. Juni 1970 zurückgewiesen worden.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Beschwerde ist begründet.

Zutreffend hat das FG angenommen, daß sich die Klage in der Umsatzsteuer-Vorauszahlungssache Januar bis Juni 1969 in der Hauptsache erledigt hat. Das FG hält es für möglich, daß die Hauptsacheerledigung schon durch den Erlaß des vorläufigen Umsatzsteuerbescheids für 1969 vom 8. Mai 1970 eingetreten ist. Dem kann nicht gefolgt werden. Der Erlaß eines Steuerbescheides erledigt nicht den Streit um Vorauszahlungen. Der BFH hat hinsichtlich der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer dargelegt, daß die Durchführung der Veranlagung nicht den Streit um einen Vorauszahlungsbescheid in der Hauptsache erledigt (BFH-Urteile IV 9/64 vom 14. Januar 1965, HFR 1965, 334, StRK, Reichsabgabenordnung, § 237, Rechtsspruch 42; I 65/64 vom 5. Juli 1966, BFH 86, 646, BStBl III 1966, 605, a. A. Zehendner, BB 1971, 469). Diese Ausführungen gelten auch für die Umsatzsteuer. Ein Vorauszahlungsbescheid, der nach Erlaß des Steuerbescheids nicht mehr aufgehoben oder eingeschränkt werden könnte, kann ungünstige Auswirkungen auf die Berechnung von Säumniszuschlägen haben. Die verfahrensmäßigen Voraussetzungen für den Erlaß eines Vorauszahlungsbescheids und eines Steuerbescheids sind teilweise unterschiedlich. Ein Vorauszahlungsbescheid kann aufgrund eines nur vorläufig ermittelten Sachverhalts ergehen. Die Erhebung der Klage gegen den vorläufigen Umsatzsteuerbescheid 1969 hat aus den vorgenannten Gründen ebenfalls nicht die Hauptsacheerledigung bewirkt. Diese ist vielmehr erst durch die Abgabe der übereinstimmenden Erledigungserklärungen beider Prozeßbeteiligter eingetreten. Das war am 2. Juli 1970, als der Schriftsatz des Steuerpflichtigen vom 1. Juli 1970 einging, in dem sich der Steuerpflichtige der Erledigungserklärung des FA anschloß. Der Schriftsatz des Steuerpflcihtigen vom 19. Mai 1970 enthielt nur eine bedingte Erledigungserklärung, die prozessual unbeachtlich war.

Zutreffend ist das FG weiterhin davon ausgegangen, daß die Kostenentscheidung gemäß § 138 Abs. 1 FGO nach den Erfolgsaussichten der Klage im Zeitpunkt der Hauptsacheerledigung zu treffen ist (BFH-Beschlüsse VI B 19/67 vom 22. September 1967, BFH 90, 274, BStBl II 1968, 61; I B 48/67 vom 9. April 1968, BFH 92, 170, BStBl II 1968, 471). Die Kosten sind entgegen der Auffassung des FG dem FA aufzuerlegen, weil die Klage im Zeitpunkt der Hauptsacheerledigung am 2. Juli 1970 zulässig und begründet war.

Die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 46 FGO für eine Klage ohne Vorverfahren lagen vor. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO kann diese Klage nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs erhoben werden, es sei denn, daß wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist. An die Stelle der Sechsmonatsfrist tritt für die Zeit bis zum 31. Dezember 1968 eine Frist von neun Monaten (§ 158 Abs. 1 Satz 1 FGO). Diese Regelung gilt gemäß der Verordnung zur Verlängerung der Übergangsregelung des § 158 Abs. 1 Satz 1 FGO vom 19. Dezember 1968 (BGBl I 1968, 1062, BStBl II 1969, 2) für weitere zwei Jahre bis zum 31. Dezember 1970. Die Neunmonatsfrist ist gewahrt. Der Steuerpflichtige hatte die außergerichtlichen Rechtsbehelfe gegen die Vorauszahlungsbescheide am 9. Juli und 15. August 1969 eingelegt. Im Zeitpunkt der Hauptsacheerledigung am 2. Juli 1970 waren selbst im Falle der zuletzt eingelegten Beschwerde mehr als neun Monate vergangen.

Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO ist für eine Klage ohne Vorverfahren weiterhin erforderlich, daß über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Auch diese Voraussetzungen waren am 2. Juli 1970 gegeben.

Soweit sich der Steuerpflichtige im August 1969 auf Anregung des FA mit einer Zurückstellung der Beschwerdeentscheidungen "bis zur Entscheidung des FG ... in der Umsatzsteuer-Hauptsache 1968" einverstanden erklärt hatte, braucht nicht entschieden zu werden, ob eine solche Absprache - wie der Steuerpflichtige geltend macht - ungeeignet ist, die Fristen des § 46 FGO abzuändern (dazu Modest, DB 1969, 98). Die Berufung des FA auf diese Absprache scheitert schon daran, daß die zur Entscheidung befugte OFD sich in dem Schreiben vom 26. Februar 1970 und in späteren Schreiben an den Steuerpflichtigen nicht auf diesen Grund bezogen hat, obwohl das FA noch in seinem Schreiben vom 13. Februar 1970 an den Steuerpflichtigen auf die Absprache hingewiesen hatte. Die OFD hat lediglich auf die fehlende Anweisung des Finanzministers des Landes N. und auf das Fehlen der Steuerakten abgestellt. Nur diese beiden Gründe sind mitgeteilt im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO. Es kommt hinzu, daß das FG schon am 28. April 1970 in der Umsatzsteuer-Hauptsache 1968 entschieden hatte. Das Urteil ist dem FA am 22. Mai 1970 zugestellt worden. Bis zum 2. Juli 1970 war ausreichend Zeit für das FA, das Urteil an die OFD weiterzuleiten, und für die OFD, das Vorverfahren abzuschließen.

Fehlende Verwaltungsanweisungen können ein zureichender Grund für eine Verzögerung der Entscheidung sein (BFH-Beschluß VI B 19/67 vom 22. September 1967, a. a. O.). So mußte auch hier den Verwaltungsspitzen Zeit gelassen werden, sich auf den BFH-Beschluß V B 115-116/69 vom 22. Dezember 1969 (a. a. O.) einzustellen. Es braucht nicht entschieden zu werden, wie dieser Zeitraum im vorliegenden Fall zu bemessen war. Dem FG mag zugegeben werden, daß diese Frist bei Klageerhebung nicht abgelaufen war. Es kommt jedoch, wie das FG an anderer Stelle selbst betont hat, nicht darauf an, daß die Klage bei ihrer Erhebung zulässig war. Vielmehr ist auf den Zeitpunkt der Hauptsacheerledigung abzustellen. In diesem Zeitpunkt aber hatte der Finanzminister des Landes N. längst Stellung bezogen. Nach dem bei den Steuerakten befindlichen Erlaß des Finanzministers des Landes N. vom 14. April 1970 war trotz des o. a. BFH-Beschlusses unter Bezugnahme auf die Erlasse des BdF vom 5. Februar 1969 und 4. März 1969 "blinden Unternehmern weiterhin die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 19a UStG zu versagen, wenn die Zahl der von ihnen beschäftigten Arbeitnehmer und Agenten einschließlich deren Arbeitnehmer mehr als zwei beträgt". Der OFD war der Erlaß am 20. April 1970 zugegangen. Sie hatte von da an bis zum 2. Juli 1970 mehr als zwei Monate Zeit, über die Beschwerden zu entscheiden.

Der OFD standen allerdings die Steuerakten auch nach der Zustellung des FG-Urteils vom 28. April 1970 nicht zur Verfügung. Das FG hat ausweislich der FG-Akte die Umsatzsteuer-Akten zu einer anderen FG-Akte genommen. Die OFD hat sich aber auch nicht, wie bei Anhängigkeit einer Klage nach § 46 FGO erforderlich, um die Steuerakten bemüht. Das FG hatte der OFD am 7. April 1970 mitgeteilt, daß die Umsatzsteuer-Akten "z. Z. nicht entbehrlich" seien; das Gericht werde "voraussichtlich in einer seiner nächsten Sitzungen in der Sache entscheiden". Als diese angekündigte Entscheidung am 22. Mai 1970 zugestellt war, bestand für die OFD erneut Anlaß, die Akten anzufordern. Das ist nicht geschehen. Die Ungewißheit, ob ein erneutes Übersendungsersuchen erfolreich gewesen wäre, geht zu Lasten der Finanzbehörde, die nach Anhängigkeit einer Klage gemäß § 46 FGO alle Möglichkeiten eines Abschlusses des Vorverfahrens ausschöpfen muß. Es ist überdies nicht von der Hand zu weisen, daß die OFD - wie der Steuerpflichtige geltend macht - im vorliegenden Fall ohne Steuerakten entscheiden konnte. Der Sachverhalt war in dem o. a. BFH-Beschluß vom 22. Dezember 1969 und in dem FG-Urteil vom 28. April 1970 ausführlich wiedergegeben.

Die im Zeitpunkt der Hauptsacheerledigung zulässige Klage war auch begründet. Es wird auf das Urteil des Senats V R 86/70 vom 4. Februar 1971 (BFH 101, 562, BStBl II 1971, 430), das in der Umsatzsteuersache 1968 des Steuerpflichtigen ergangen ist, verwiesen. Die Verhältnisse lagen 1969 wie 1968.

Danach sind die Kosten des Verfahrens in Abänderung des FG-Beschlusses dem FA aufzuerlegen. Die Kosten der Beschwerde trägt das FA (§ 135 Abs. 1 FGO). Der Streitwert beträgt für die Beschwerde 9 268 DM. Dieser Wert bemißt sich nach dem Interesse, das der Steuerpflichtige an der Beseitigung der Kostenentscheidung des FG hat. Dabei ist das nicht abgeschlossene Vorverfahren kostenrechtlich als besondere Verfahrensstufe anzusehen (BFH-Beschluß III B 23/68 vom 6. Juni 1969, BFH 95, 431, BStBl II 1969, 438). Der Steuerpflichtige hätte nach der Entscheidung des FG eine halbe Gerichtsgebühr für das Vorerfahren (§ 250 AO) und eine halbe Gerichtsgebühr (Prozeßgebühr) für das gerichtliche Verfahren (§ 141 Satz 2 FGO) tragen müssen, außerdem hätte er die Aufwendungen für seinen Bevollmächtigten nicht geltend machen können. Diese Aufwendungen bestehen - einen Ausspruch nach § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO unterstellt - aus einer 7,5/10 Gebühr für das Vorverfahren (§ 118 Abs. 1 Nr. 1 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte - BRAGebO -) und einer Prozeßgebühr für das gerichtliche Verfahren (§ 31 Nr. 1 BRAGebO) zuzüglich der Auslagenpauschale nebst Umsatzsteuer.

 

Fundstellen

BStBl II 1971, 492

BFHE 1971, 31

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