Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtigkeitsantrag wegen vorschriftswidriger Besetzung des Gerichts

 

Leitsatz (NV)

1. Das Wiederaufnahmeverfahren nach § 134 FGO in Verbindung mit der ZPO gilt auch für verfahrensabschließende Beschlüsse.

2. Zur Zulässigkeit eines Nichtigkeitsantrags gehört die schlüssige Behauptung eines Wiederaufnahmegrundes. Wird die nicht ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts geltend gemacht (§ 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), müssen die vorgetragenen Tatsachen eine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ergeben. Bezieht sich das Vorbringen auf einen Mangel der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung, muß es sich mit den für den Streitzeitraum konkret geltenden Regelungen auseinandersetzen (Anschluß an BFH-Beschluß vom 26. Mai 1992 VII S 17/92, BFH/NV 1993, 305).

 

Normenkette

FGO §§ 134, 142; ZPO § 579 Abs. 1 Nr. 1, § 586 Abs. 1-2; GG Art. 101 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Antragsteller beabsichtigt -- in den Verfahren IV S 4 und 5/92 gemeinsam mit seiner Ehefrau (Antragstellerin) --, im Wege einer Nichtigkeitsklage die Wiederaufnahme folgender rechtskräftig vor dem Bundesfinanzhof (BFH) abgeschlossener Verfahren zu erreichen: ...

Zu diesem Zweck begehren die Antragsteller die Gewährung von Prozeßkostenhilfe (PKH). Sie tragen vor, sie seien in den genannten Verfahren ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden. In den Jahren 1990 und 1991 sei der erkennende Senat mit sechs Richtern, ergänzt um zwei regelmäßige Vertreter, besetzt gewesen. Dadurch seien Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) und § 21 g des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) verletzt worden. Denn nach der Geschäftsverteilungspraxis des BFH erfolge das Ausscheiden der überzähligen Richter durch ad hoc getroffene Einzelentscheidungen des Vorsitzenden. Zwar liege bei Urteilen das Ausscheiden des sechsten Richters je nach Kalenderwoche oder Sitzung im voraus fest. Im Hinblick auf die völlig freie Terminierung könne der Vorsitzende jedoch das sechste Mitglied gezielt ausschalten. Wenn es drei etatfreundliche und drei bürgerfreundliche Richter im Senat gebe, könne der Vorsitzende die Weichen für die von ihm gewollte Entscheidungsfindung stellen. Bei Beschlüssen wirke sich die Manipulation durch den Vorsitzenden noch stärker aus: Die Besetzung mit drei Richtern nehme der Vorsitzende "völlig nach seinem Gusto" vor und könne sich der jeweils von ihm erhofften Entscheidung sicher sein.

Von der Geschäftsverteilung hätten sie, die Antragsteller, und ihr Anwalt erst nach Zusendung der Geschäftsverteilungspläne durch den Präsidenten des BFH am 16. Februar 1992 erfahren. Nach der Lebenserfahrung hätten sie nicht von der Verletzung des GVG ausgehen müssen.

Die Antragsteller haben eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt und beantragen, ihnen unter Beiordnung des Rechtsanwalts X PKH zu gewähren.

Der Antragsgegner (das Finanzamt -- FA --) hat keine Stellungnahme zu diesem Antrag abgegeben.

In dem Verfahren IV S 2/92 hat er jedoch die Hauptsache für erledigt erklärt, weil sämtliche Steuerforderungen 1972 bis 1978 einschließlich aller Nebenabgaben verjährt seien und keine Sollstellungen mehr bestünden.

Der Antragsteller hat hierauf erklärt, er werde sich dieser Rechtsauffassung anschließen, wenn der BFH dem FA die Kosten in den Verfahren ... und ... vor dem BFH und dem Verfahren ... vor dem FG auferlege. Anderenfalls müsse das hiesige Verfahren fortgesetzt werden.

 

Entscheidungsgründe

Die Anträge auf Bewilligung von PKH, die der Senat zur gemeinsamen Entscheidung verbindet, sind nicht begründet und deshalb abzulehnen.

1. Das Verfahren IV S 2/92 ist nicht durch Hauptsacheerledigung beendet worden. Zwar führt eine übereinstimmende Erledigungserklärung der Beteiligten dazu, daß das Gericht ohne weitere Prüfung davon ausgeht, daß die Rechtshängigkeit der Hauptsache beendet ist (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl. 1996, § 138 FGO Tz. 30, m. w. N.). Dieses Ergebnis tritt jedoch nur ein, wenn tatsächlich zwei prozessual wirksame Erledigungserklärungen vorliegen. Zu einer Prüfung dieser Voraussetzungen ist das Gericht verpflichtet.

Vorliegend fehlt es an einer wirksamen Erledigungserklärung des Antragstellers, denn er hat die Erledigung nur unter einer Bedingung erklärt. Die Erledigungserklärung ist eine Prozeßbewirkungshandlung (BFH-Urteil vom 22. Mai 1984 VIII R 60/79, BFHE 141, 211, BStBl II 1984, 697, 701) und muß deshalb wie jede Prozeßhandlung klar, eindeutig und vorbehaltlos vorgenommen werden (vgl. BFH-Urteil vom 5. November 1991 VII R 64/90, BFHE 166, 415, BStBl II 1992, 425, 426). Diesen Voraussetzungen werden die Äußerungen des Antragstellers in den Schriftsätzen vom 18. April 1992 und vom 13. August 1993 nicht gerecht. Ihnen entnimmt der Senat, daß der Antragsteller das angestrebte Wiederaufnahmeverfahren und damit das hier zu beurteilende PKH-Verfahren nur dann für verzichtbar hält, wenn verschiedene Kostenentscheidungen zu seinen Gunsten getroffen werden. Unabhängig davon, daß der Senat solche Entscheidungen mangels Rechtshängigkeit nicht treffen kann, ist die Erledigungserklärung des Antragstellers bereits deshalb unwirksam, weil sie von dem Eintritt eines weiteren Umstands abhängig gemacht worden ist.

2. Den Antragstellern kann PKH für die Stellung von Nichtigkeitsanträgen nicht gewährt werden, denn diese Anträge bieten keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Nach § 142 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i. V. m. § 114 Satz 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) erhält ein Prozeßbeteiligter bei Vorliegen bestimmter persönlicher Voraussetzungen PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussichten liegen dann vor, wenn bei summarischer Prüfung eine gewisse Wahrscheinlichkeit für den Eintritt des Erfolges spricht (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl. 1993, § 142 Rz. 7 m. w. N.). Eine derartige Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg der beabsichtigten Nichtigkeitsanträge besteht nicht. Die Nichtigkeitsanträge mit der von den Antragstellern hier vorgelegten Begründung wären unzulässig.

a) Zwar sind Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens auch dann statthaft, wenn sie sich gegen Beschlüsse über die Ablehnung eines PKH-Gesuchs oder einer Nichtzulassungsbeschwerde richten, denn auch für alle verfahrensabschließenden Beschlüsse gelten die Grundsätze des Wiederaufnahmeverfahrens nach § 134 FGO i. V. m. der ZPO (BFH-Beschluß vom 29. Januar 1992 VIII K 4/91, BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252; Gräber/von Groll, a.a.O., § 134 Rz. 2, m. w. N.).

b) Der Senat hat bereits Zweifel, ob die Anträge nicht schon wegen Versäumung der Frist des § 586 Abs. 1 und 2 ZPO als unzulässig zu verwerfen wären, wenn sie nach Bewilligung der PKH gestellt würden. Zwar ist einem nicht postulationsfähigen Antragsteller Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen einer versäumten Klagefrist bzw. Rechtsmittelfrist zu gewähren, wenn das PKH-Gesuch innerhalb der versäumten Frist gestellt worden ist (vgl. BFH- Beschluß vom 26. Februar 1985 VII S 1/85, BFH/NV 1986, 354). Indessen ist zweifelhaft, ob die PKH-Gesuche der Antragsteller innerhalb der von § 586 Abs. 1 ZPO bestimmten Monatsfrist seit Kenntnis von dem Nichtigkeitsgrund gestellt worden sind. Die Antragsteller stützen sich für ihr Vorbringen ausschließlich auf die Geschäftsverteilung des BFH im Hinblick auf die Zuweisung der Richter zu den einzelnen Senaten, insbesondere auf die Zuweisung von sechs Richtern nebst zwei regelmäßigen Vertretern zu dem IV. Senat. Die senatsinternen Geschäftsverteilungspläne haben sie sich nämlich nicht beschafft und tragen insoweit nur Vermutungen vor. Die externe Geschäftsverteilung mag den Antragstellern zwar im Zeitpunkt der Entscheidungen in den Verfahren, deren Wiederaufnahme beantragt werden soll, nicht bekannt gewesen sein. Sie bzw. ihr damaliger Verfahrensbevollmächtigter hätten sie jedoch kennen können und müssen, denn die Geschäftsverteilung war -- wie jedes Jahr -- in der amtlichen Entscheidungssammlung des BFH und im BStBl II veröffentlicht worden.

Zu einer Versäumung der Frist mit der Folge der Unzulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags könnte es insoweit allerdings nur kommen, wenn für die Frist des § 586 Abs. 1 ZPO entgegen dem Wortlaut von Abs. 2 dieser Vorschrift nicht nur positive Kenntnis, sondern auch ein Kennenmüssen der Gründe für eine Nichtigkeit nach § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ausreicht. Dafür kann der aus §§ 579 Abs. 2, 582 ZPO abzuleitende Rechtsgedanke sprechen, daß eine Wiederaufnahme nur dann stattfinden soll, wenn der Prozeßbeteiligte keine Möglichkeit hatte, die zur Wiederaufnahme berechtigenden Gründe in dem eigentlichen Prozeßverfahren geltend zu machen.

c) Letztlich kann diese Frage aber unentschieden bleiben, denn die Nichtigkeitsanträge wären jedenfalls aus einem weiteren Grund unzulässig. Zur Zulässigkeit des Nichtigkeitsantrags nach § 134 FGO i. V. m. § 579 ZPO gehört die schlüssige Behauptung eines nach § 579 ZPO erheblichen Wiederaufnahmegrundes (vgl. BFH- Beschluß in BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252, m. w. N.). Im Streitfall ergeben die von den Antragstellern vorgetragenen Tatsachen -- ihre Richtigkeit unterstellt -- keinen der in § 579 Abs. 1 ZPO aufgeführten Wiederaufnahmegründe.

Die von den Antragstellern vorgetragenen Tatsachen erfüllen insbesondere nicht die Voraussetzungen für den Nichtigkeitsgrund der nicht ordnungsgemäßen Besetzung des Gerichts (§ 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Wie der BFH entschieden hat (Beschluß in BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252, 253), ist ein auf diese Vorschrift gestützter Wiederaufnahmeantrag nur zulässig, wenn die zur Begründung des Mangels vorgetragenen Tatsachen eine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ergeben. Bezieht sich das Vorbringen auf einen Mangel der senatsinternen Geschäftsverteilung, so muß für die Zulässigkeit des Nichtigkeitsantrags nach dem BFH-Beschluß vom 26. Mai 1992 VII S 17/92 (BFH/NV 1993, 305) -- ergangen in einem Fall, in dem offensichtlich eine wörtlich identische Begründung wie im Streitfall vorgetragen worden ist -- darüber hinaus verlangt werden, daß sich der Antragsteller auch konkret mit dem für den Streitraum geltenden internen Geschäftsverteilungsplan des jeweiligen Senats auseinandersetzt. Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an.

Im Streitfall lassen die Ausführungen der Antragsteller eine Auseinandersetzung mit der seinerzeit gültigen Geschäftsverteilung des Senats vollkommen vermissen. Die angeführten Vermutungen weisen keinen Bezug zu den konkreten Verhältnissen des Senats auf. Den Antragstellern wäre zuzumuten gewesen, sich den Senats-Geschäftsverteilungsplan zu beschaffen, um substantiierte Einwendungen erheben zu können.

Ein Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters ist auch nicht offensichtlich. Der BFH hat in ständiger Rechtsprechung die Besetzung der Senate mit sechs Mitgliedern für zulässig gehalten und ggf. vorliegende Mängel des Geschäftsverteilungsplans gemäß § 21 g Abs. 2 GVG für ver fassungsrechtlich unbedenklich erachtet (Beschluß in BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252, 253, m. w. N.; Urteil vom 11. Dezember 1991 II R 49/89, BFHE 165, 492, BStBl II 1992, 260, sowie Beschlüsse vom 19. Mai 1992 VII S 5-6/92, BFH/NV 1993, 302; vom 29. Mai 1992 VIII K 1/92, BFH/NV 1992, 538, und vom 22. März 1994 X R 66/93, BFH/NV 1994, 499). Der Senat hält daran auch in Kenntnis des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 10. August 1995 1 BvR 1644/94 (Steuerrechtsprechung in Karteiform, Grundgesetz, Art. 101, Rechtsspruch 17, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1995, 667, Neue Juristische Wochenschrift 1995, 2703) fest.

 

Fundstellen

Haufe-Index 421987

BFH/NV 1997, 301

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