Entscheidungsstichwort (Thema)

Grobes Verschulden bezüglich nicht bereits im Einspruchsverfahren geltend gemachter neuer günstiger Tatsachen

 

Leitsatz (NV)

1. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein grobes Verschulden anzunehmen, wenn ein beratener Steuerpflichtiger es versäumt, den Sachverhalt der Finanzbehörde noch im Rahmen eines gegen den zu ändernden Steuerbescheid anhängig gewesenen Einspruchsverfahrens zu unterbreiten.

2. Als zur Zulassung der Revision führende Verfahrensmängel kommen nur solche des Finanzgerichts, nicht hingegen solche der Finanzbehörde in Betracht.

3. Materiell-rechtliche Rügen können nur im Rahmen der zugelassenen Revision erhoben werden. Sie können jedoch nicht zur Zulassung der Revision aufgrund einer Beschwerde führen. Die Zulassungsgründe sind in §115 Abs. 2 Nrn. 1--3 FGO abschließend geregelt.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 1; FGO § 115 Abs. 1 Nr. 1-3, Abs. 3 S. 3, § 118 Abs. 1 S. 1

 

Gründe

Die Beschwerde ist unzulässig und war durch Beschluß zu verwerfen (§132 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

Die Beschwerde hat innerhalb der Beschwerdefrist keine Zulassungsgründe entsprechend den gesetzlichen Anforderungen hinreichend substantiiert geltend gemacht (§115 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3, Abs. 3 Satz 1 und 3 FGO).

1. a) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung i. S. von §115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, an deren Beantwortung ein allgemeines Interesse besteht, weil ihre Klärung das Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Fortentwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Es muß sich um eine aus rechtssystematischen Gründen bedeutsame und auch für die einheitliche Rechtsanwendung wichtige Frage handeln (Beschluß des erkennenden Senats vom 31. August 1995 VIII B 21/93, BFHE 178, 379, BStBl II 1995, 890, 892, ständige Rechtsprechung). Eine durch den Bundesfinanzhof (BFH) geklärte Rechtsfrage ist regelmäßig nicht mehr klärungsbedürftig und kann somit keine grundsätzliche Bedeutung mehr haben. Eine Ausnahme von dieser Regel gilt dann, wenn gewichtige neue rechtliche Gesichtspunkte in der Rechtsprechung oder in der Literatur vorgetragen sind, die der BFH noch nicht geprüft hat. In diesem Fall hat die Beschwerde allerdings in der Begründung substantiiert darzulegen, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung dieser (bereits entschiedenen) Rechtsfrage umstritten und inwiefern sie im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig geblieben oder erneut geworden ist. Dazu ist es erforderlich, daß der Kläger ausgehend von der Entscheidung des BFH im einzelnen in der Beschwerdeschrift konkret darlegt, welche neuen gewichtigen rechtlichen Gesichtspunkte zu der aufgezeigten Rechtsfrage in welcher Entscheidung der Finanzgerichte (FG) und/oder dem Schrifttum vorgetragen werden, die der BFH bisher noch nicht geprüft hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 27. November 1995 VIII B 16/95, BFH/NV 1996, 406, 407, und vom 20. Dezember 1995 VIII B 83/95, BFH/NV 1996, 468, m. w. N.).

b) Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.

Der BFH hat seit seinem Urteil vom 25. November 1983 VI R 8/82 (BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256) unter Berufung auf die ausführliche Begründung von Buchheister (Deutsche Steuer-Zeitung -- DStZ -- 1980, 446, 447) in ständiger Rechtsprechung erkannt, daß ein grobes Verschulden hinsichtlich der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache anzunehmen sei, wenn der steuerlich beratene Steuerpflichtige es versäumt habe, den Sachverhalt der Finanzbehörde noch im Rahmen eines Einspruchs zu unterbreiten (vgl. BFH-Urteile vom 5. November 1985 VIII R 258/82, BFH/NV 1986, 443, 444; vom 7. Mai 1987 IV R 33/85, BFH/NV 1987, 775, 777; vom 20. Januar 1988 I R 1/84, Steuerrechtsprechung in Karteiform -- StRK --, Abgabenordnung, §173 Abs. 1 Nr. 2, Rechtsspruch 28; vom 9. März 1990 VI R 19/85, BFH/NV 1990, 619, 620 betreffend Schätzungsbescheide; vom 21. Februar 1991 V R 25/87, BFHE 164, 1, BStBl II 1991, 496, 497 -- bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung --; vom 4. Februar 1993 III R 78/91, BFH/NV 1993, 641, 642; vom 2. August 1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264, 267; zustimmend Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 5. Aufl., §173 Bem. 14 a; Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 8. Aufl., S. 98; Domann, Betriebs-Berater -- BB -- 1979, 516, 518; ferner umfassende Nachweise zur neueren zustimmenden FG-Rechtsprechung bei Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, §173 Rz. 81). Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist damit der vornehmlich vor Ergehen der BFH-Rechtsprechung vielfach im Schrifttum vertretenen gegenteiligen Auffassung nicht gefolgt (vgl. ausführliche Nachweise bei Frotscher, a.a.O.; von Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., 1986, §173 AO 1977 Rz. 44 d; Späth, DStZ 1981, 280, 281 -- allenfalls Rechtsmißbrauch --; Eggesiecker, Deutsches Steuerrecht -- DStR -- 1980, 161; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., §173 AO 1977 Tz. 26 und 31 a, m. w. N.; von Wedelstädt in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, §173 AO 1977 Rz. 103, m. w. N.; Szymczak in Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 5. Aufl., §173 Rz. 24). Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) hat im sog. Anwendungserlaß zur AO 1977 i. d. F. vom 24. September 1987 (BStBl I 1987, 664, 700) Erläuterungen zu §173 AO 1977 Ziff. 4, den Rechtsbegriff des groben Verschuldens unter Bezugnahme auf die bereits ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung erläutert, indessen bezüglich der hier aufgeworfenen Rechtsfrage keine abweichende oder zumindest tendenziell einschränkende Auffassung vertreten.

Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) haben nicht dargetan, welche beachtlichen Einwendungen vom BFH in seiner ständigen Rechtsprechung noch nicht bedacht worden sein sollen. Ebenso fehlt eine ausführliche Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Auffassungen im Schrifttum.

Soweit die Beschwerde unter Hinweis auf einzelne verwaltungsinterne Regelungen einen zu strengen Verschuldensmaßstab rügt, berücksichtigt die Beschwerde nicht, daß diese Interpretationen sich erklärtermaßen auf den rechtsunkundigen, ungewandten, nicht aber auf einen rechtskundig vertretenen Steuerpflichtigen beziehen, dem das Verschulden seines Beraters im Rahmen des §173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zuzurechnen ist (vgl. BFH in BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256, ständige Rechtsprechung).

2. Die Kläger rügen ferner eine Divergenz zu dem Vorlagebeschluß des VI. Senats des BFH vom 7. Mai 1986 VI R 172/82 (BFHE 146, 496, BStBl II 1986, 707, 710).

Der erkennende Senat kann dahingestellt lassen, ob eine Abweichung von einem Vorlagebeschluß überhaupt zu einer Zulassung der Revision wegen Divergenz führen könnte (vgl. Offerhaus in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., §115 FGO Rz. 51, m. w. N.; Ruban/Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., §115 Rz. 19, m. w. N.).

Der Große Senat hat die Rechtsfragen in dem Vorlagebeschluß zu Ziff. 2 und 3 wegen fehlender Entscheidungserheblichkeit nicht entschieden (vgl. BFH-Beschluß vom 23. November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180, 183). Indessen hatte der VI. Senat des BFH in seinem Vorlagebeschluß zu der streitgegenständlichen Rechtsfrage gar keine Ausführungen gemacht, sondern lediglich entsprechend dem Gegenstand der Vorlage eine Klärung der Frage begehrt, ob und unter welchen Voraussetzungen Tatsachen und Beweismittel erst nachträglich zu berücksichtigen seien, deren Rechtserheblichkeit seinerzeit nicht gegeben gewesen sei. Hinsichtlich des Verschuldensmaßstabes selbst knüpft der VI. Senat an die Sorgfaltspflichten an, wie sie in der dort zitierten Rechtsprechung bereits bis dahin definiert worden und auch im Rahmen der hier interessierenden Streitfrage der ständigen Rechtsprechung zugrunde liegen (vgl. BFH in BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264, 266, m. w. N.).

3. Die Rüge, das FG habe infolge der "nicht gesetzeskonformen Anwendung des §173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977" weder die Rechtsfrage des "groben Verschuldens" geklärt noch insoweit entgegen §176 Abs. 1 Satz 1 FGO den entscheidungserheblichen Sachverhalt festgestellt, stellt sich in Wirklichkeit nicht als Verfahrensrüge, sondern als materiell-rechtliche Rüge dar, die freilich nicht zur Zulassung der Revision zu führen vermag.

a) Bei der Prüfung, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, ist nach ständiger Rechtsprechung von dem materiell-rechtlichen Standpunkt der Vorinstanz auszugehen, soweit nicht in bezug auf diesen zulässige und begründete Rügen erhoben worden sind (vgl. BFH-Beschluß vom 22. September 1993 VIII B 38/93, BFH/NV 1994, 387; ferner zur Maßgeblichkeit des materiell-rechtlichen Standpunkts z. B. BFH-Beschluß vom 9. März 1995 V B 85/94, BFH/NV 1995, 949, 950, sowie zu den weiteren Anforderungen an eine Rüge der Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach §76 Abs. 1 Satz 1 FGO BFH-Beschluß vom 9. Februar 1996 X B 199/95, BFH/NV 1996, 620).

b) Die Beschwerde formuliert darüber hinaus mißverständlich, der Beschwerdegegner habe den Sachverhalt nicht ausreichend festgestellt. Beschwerdegegner ist der Beklagte (das Finanzamt -- FA --). Als Verfahrensmängel kommen indessen nur solche des FG, nicht auch solche des FA in Betracht (vgl. BFH-Beschluß vom 10. November 1987 V B 20/85, BFH/NV 1988, 448).

c) Indessen macht die Beschwerde mit ihrer Behauptung, die Änderungsnorm des §173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sei nicht "gesetzeskonform" angewendet worden, deutlich, daß sie Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift letztlich durch das FG beanstanden will und damit im Ergebnis eine rechtsfehlerhafte Entscheidung rügt. Materiell- rechtliche Rügen können indessen nur im Rahmen der zugelassenen Revision (vgl. §118 Abs. 1 Satz 1 FGO) erhoben werden. Sie können hingegen nicht zur Zulassung der Revision aufgrund einer Beschwerde führen. Die Zulassungsgründe sind in §115 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 FGO abschließend geregelt (vgl. BFH-Beschluß vom 7. November 1994 VIII B 34/94, BFH/NV 1995, 618, ständige Rechtsprechung).

Der erkennende Senat sieht von einer weiteren Begründung nach Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ab.

 

Fundstellen

Haufe-Index 67427

BFH/NV 1998, 1063

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