Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde; zur Rechtsstaatswidrigkeit von DDR-Steuerbescheiden

 

Leitsatz (NV)

1. Bei der Prüfung, ob eine Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, ist der Zeitpunkt der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde maßgebend.

2. Bei einer bewußt sachfremden Besteuerung durch die DDR-Steuerbehörden ist die Steuerfestsetzung nach Art. 19 Satz 2 EinigVtr als rechtsstaatswidrig aufzuheben. Die Frage, ob Art. 19 Satz 2 EinigVtr dem FA Ermessen einräumt, ist in einem solchen Fall nicht klärungsfähig.

 

Normenkette

EinigVtr Art. 19 S. 2; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1

 

Gründe

Die Beschwerde ist nicht begründet.

Bei der Prüfung, ob eine Rechtssache grundsätzliche Bedeutung i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hat, ist von den Verhältnissen im Zeitpunkt der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde auszugehen (Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 19. Dezember 1973 VI B 105/73, BFHE 111, 396, BStBl II 1974, 321). Unabhängig davon, ob der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt -- FA --) zunächst eine die Zulassung der Revision rechtfertigende Begründung abgegeben hat, führt dies im Streitfall dazu, daß die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen ist.

In dem Urteil vom 25. Januar 1995 X R 146/93 (BFHE 177, 317, BStBl II 1995, 686) hat der BFH grundlegend zur Anwendung des Art. 19 Satz 2 des Einigungsvertrages (EinigVtr) auf vor dem Wirksamwerden des Beitritts der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland ergangene Steuer bescheide der früheren DDR-Steuerbehörden Stellung genommen. Danach sind mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar jedenfalls Verwaltungsakte, die einen Bezug zu einer alltäglichen sozialistischen "Gesetzlichkeit" nicht mehr erkennen lassen, weil sie in verfahrens- wie materiell-rechtlicher Hinsicht das Willkürverbot verletzen und/oder gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Dies ist vor allem dann anzunehmen, wenn ein Verwaltungsakt an schwerwiegenden Rechtsfehlern leidet und konkrete Umstände des Einzelfalles die Annahme einer politisch-sachwidrigen Motivation der DDR-Behörden nahelegen, mithin auf einen Mißbrauch des Steuerrechts zu sachwidrigen Zwecken schließen lassen. Unter diesen Voraussetzungen obliegt es nicht dem Steuerpflichtigen nachzuweisen, daß eine vor allem politisch motivierte Willkür tatsächlich ursächlich für eine gesetzwidrige Besteuerung war. Enthält ein Steuerbescheid eine eindeutig gesetzwidrige Steuerfestsetzung, ist eine politische Willkürmaßnahme hinreichend indiziert.

Der BFH ließ in der genannten Entscheidung offen, ob Art. 19 Satz 2 EinigVtr zu einer Ermessensausübung ermächtigt, oder ob durch die Verwendung des Wortes "kann" der Verwaltung eine Zuständigkeit zugewiesen wird, die sie bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen wahrnehmen muß. Die Frage brauchte nicht abschließend geklärt zu werden, da der BFH, auch wenn Art. 19 Satz 2 EinigVtr einen Ermessensspielraum einräumen sollte, in dem entschiedenen Fall eine "Reduzierung des Ermessens auf Null" angenommen hat.

Hiervon ausgehend sind die vom FA als grundsätzlich bedeutsam angesehenen Fragen, ob Art. 19 Satz 2 EinigVtr zu einer Ermessensausübung ermächtigt und ob ggf. bei einer bewußt falschen Rechtsanwendung das Ermessen auf Null reduziert ist, nicht klärungsfähig bzw. nicht klärungsbedürftig.

Das Finanzgericht (FG) hat zutreffend dargelegt, daß der Kläger und Beschwerdegegner für die Streitjahre 1978 und 1979 wegen Nichtbeachtung der Vorschriften über die Verjährung zu Unrecht zur Einkommensteuer herangezogen worden ist. Hierbei handelt es sich um einen gravierenden Rechtsfehler, da die Verlängerung der regulären Verjährungsfrist von zwei Jahren nur unter den besonderen Voraussetzungen einer vorsätzlichen Steuerverkürzung in Betracht kam, deren Vorliegen vom Prüfer ausdrücklich abgelehnt worden ist. Die anhand der Gesamtumstände des Falles vorgenommene Wertung des FG, daß die Außerachtlassung der Verjährungsfrist von den seinerzeit zuständigen Stellen bewußt und unter Verfolgung sachfremder Ziele geschehen ist, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach dem Urteil des BFH X R 146/93 kann bei einer solchen Fallgestaltung offenbleiben, ob Art. 19 Satz 2 EinigVtr die Verwaltung zu einer Ermessensentscheidung ermächtigt. Es kann sonach nicht erwartet werden, daß diese erste vom FA als grundsätzlich bedeutsam angesehene Rechtsfrage in dem erstrebten Revisionsverfahren zur Entscheidung kommen wird (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 115 Anm. 11).

Aus dem gleichen Grunde erweist sich aber auch die zweite vom FA herausgestellte Rechtsfrage, ob bei einer bewußt falschen Besteuerung der Ermessensspielraum nicht besteht, als nicht -- mehr -- klärungsbedürftig. Der BFH hat entschieden, daß bei einer eindeutig gesetzwidrigen Besteuerung in der Absicht, zu einem vorgefaßten Ergebnis zu gelangen, die Steuerfestsetzung auch dann, wenn Art. 19 Satz 2 EinigVtr ein Ermessen einräumen sollte, aufzuheben ist, da in einem solchen Fall das Ermessen auf Null reduziert wäre. Im vorliegenden Fall liegt nach der -- revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden -- Würdigung des FG ein solcher Sachverhalt vor.

Im übrigen ergeht die Entscheidung gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs i. d. F. des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 20. Dezember 1993 (BGBl I 1993, 2236) ohne Angabe von Gründen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420834

BFH/NV 1996, 299

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