Rz. 171

Der Grundsatz der Wesentlichkeit sieht die Berücksichtigung und Offenlegung aller Sachverhalte vor, die für die Jahresabschlussadressaten von Relevanz, d. h. für diese zwecks der Beurteilung der tatsächlichen Vermögens-, Finanz- und Ertragslage wesentlich, sind. Im Umkehrschluss ergibt sich die Möglichkeit zur Außerachtlassung der nicht wesentlichen Tatbestände.[1]

 

Rz. 172

Der Materiality-Grundsatz ist impliziter Bestandteil des True-and-fair-view-Prinzips und damit impliziter Bestandteil des Regelungsgefüges der EU-Bilanzrichtlinie.[2] Er ist dem HGB in der Generalnorm des § 264 Abs. 2 HGB ebenfalls implizit inhärent. Ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage erfordert nach h. M. stets dessen Berücksichtigung.[3] Wenngleich nicht immer unter expliziter Verwendung der Begriffe "wesentlich" oder "Wesentlichkeit" stellen einige Paragrafen/GoB zudem explizit auf das Kriterium der Wesentlichkeit ab, so etwa:

  • § 240 Abs. 3 HGB gestattet unter der Voraussetzung des nachrangigen Gesamtwerts für das Unt i. V. m. weiteren Kriterien den Festwertansatz von VG des Sachanlagevermögens sowie RHB.
  • § 285 Nr. 3 HGB verlangt Angaben über nicht in der Bilanz enthaltene Geschäfte, soweit diese für die Beurteilung der Finanzlage wesentlich sind.
  • § 286 Abs. 3 Nr. 1 HGB sieht den möglichen Verzicht auf die gem. § 285 Nr. 11 und 11b HGB geforderten Angaben unter der Voraussetzung deren untergeordneter Bedeutung für die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage vor.
  • § 289 Abs. 1 Satz 3 HGB schreibt die Einbeziehung der für die Geschäftstätigkeit bedeutsamsten finanziellen Leistungsindikatoren in die Analyse des Geschäftsverlaufs und der Lage der Ges. vor.
  • § 303 Abs. 2 HGB gestattet die Nichtanwendung von Abs. 1, wenn die wegzulassenden Beträge i. R. d. SchuldenKons für die Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Konzerns nur von untergeordneter Bedeutung sind.
  • § 304 Abs. 2 HGB sieht die Nichtanwendung des Abs. 1 betreffend die Zwischenergebniseliminierung bei untergeordneter Bedeutung für die Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Konzerns vor.
  • § 305 Abs. 2 HGB bietet die Option zum Verzicht auf die Weglassung von Aufwendungen und Erträge gem. Abs. 1 im Falle einer untergeordneten Bedeutung der Beträge für die Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Konzerns.
  • Die steuerrechtlichen Vorschriften zur Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter in § 6 Abs. 2 und Abs. 2a EStG gelten als Ausprägung des Grundsatzes der Wesentlichkeit und sind als faktische Wahlrechte für entsprechende Vermögensgegenstände anerkannt.

    Mit dem Jahressteuergesetz 2022[4] wurde diese Regelung mit dem Hinweis auf den Bürokratieabbau steuerlich mit § 5 Abs. 5 Satz 2 EStG auch auf Rechnungsabgrenzungsposten übertragen,[5] was die bisherige Rechtsprechung, die auch eine Bildung bei geringfügigen Beträgen für geboten hielt,[6] korrigiert. Konsequenterweise muss diese Ausprägung des Grundsatzes der Wesentlichkeit dann auch für die handelsrechtlichen Rechnungsabgrenzungsposten nach § 250 HGB gelten,[7] auch wenn der Gesetzgeber selber hier keine Festlegung vorgenommen hat.[8]

 

Rz. 173

Eine darüber hinausgehende Integration als übergreifendes Konzept hat der Gesetzgeber im Zuge des BilRUG allerdings nicht vorgenommen, obgleich Art. 6 Abs. 1 Buchst. j Bilanzrichtlinie 2013/34/EU die Pflicht zur (expliziten) Umsetzung des Wesentlichkeitsgrundsatzes – zunächst[9] sowohl für Ansatz, Bewertung, Darstellung, Offenlegung und Konsolidierung – in nationales Recht vorsieht. Allenfalls lässt sich aus deutscher Perspektive argumentieren, dass sich die allumfassende Gültigkeit des Wesentlichkeitsprinzips nach h. M. aus den GoB ergibt.

Anders als in der internationalen Rechnungslegung, für deren Normsystem der Grundsatz der Materiality von großer Bedeutung ist,[10] ist der Grundsatz im HGB durch das Schrifttum und die Rechtspraxis allerdings in relativ enge Grenzen gesetzt. Aus Art. 6 Abs. 1 Buchst. j Bilanzrichtlinie 2013/34/EU ergibt sich nicht zuletzt deshalb u. E. wohl das Erfordernis einer weiteren Auslegung. Allerdings ist die Generalnorm des § 264 HGB weiterhin nicht als overriding principle ausgestaltet, weshalb die handelsrechtlichen Normen-Rangfolge (Rz 18) zu beachten ist.

Die vereinzelt im Schrifttum vertretene Ansicht, in Abhängigkeit der betroffenen Posten vier "fixe" quantitative Schwellenwerte von 0,25 % (gemessen am Grundkapital), 1 % (bei direkter Beeinflussung der GuV), 5 % (bei Posten mit erheblicher Aussage- und Ertragskraft) sowie 10 % (bei Fehlern und Fortlassungen)[11] festlegen zu können ist u. E. (auch weiterhin) abzulehnen.[12] Dies ändert sich auch nicht vor dem Hintergrund der Berücksichtigung des durchaus gewichtigen Arguments des information overload.[13] Dies l...

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