Rz. 40

Nach § 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB sind "Schulden … zum Abschlussstichtag … zu bewerten". Das darin zum Ausdruck kommende Stichtagsprinzip verlangt nach überwiegender Ansicht eine Wertbemessung nach den (objektiven) Verhältnissen am Abschlussstichtag. Wie hoch die ungewisse Verbindlichkeit tatsächlich ist, zeigen vielfach erst die stichtagsnachgelagerten Entwicklungen. Inwieweit diese bei der Bewertung zu berücksichtigen sind, ist umstritten.

 

Rz. 41

Nach der hier vertretenen Auffassung ist zu differenzieren: Soweit es um das Bestehen oder Nichtbestehen einer Schuld geht, ist zwischen (berücksichtigungspflichtigen) ansatzerhellenden und (bilanziell unbeachtlichen) ansatzbegründenden Umständen zu unterscheiden. Während ansatzerhellende Informationen bessere Erkenntnisse über die objektiven Vermögensverhältnisse am Abschlussstichtag vermitteln, sind ansatzbegründende Informationen Ausdruck einer nachträglichen Änderung des Schuldenstands (§ 252 Rz 160). Letztere liegen vor, wenn durch Entwicklungen nach dem Stichtag neue Verpflichtungen begründet werden oder ursprünglich vorhandene Schulden wegfallen. Ein Beispiel für den erstgenannten Fall stellt die fortgesetzte Abbautätigkeit eines Gewinnungsbetriebs dar, durch die nach dem Abschlussstichtag zusätzliche Rekultivierungs(teil)verpflichtungen wirtschaftlich verursacht werden. Ein Ereignis, das zum nachträglichen Wegfall einer am Abschlussstichtag bestehenden Schuld führt, liegt in der Aufhebung eines zulasten des Bilanzierenden unausgewogenen Vertrags.[1] Entsprechendes gilt, wenn eine streitbefangene Verbindlichkeit nach dem Abschlussstichtag durch ein rechtskräftiges Urteil, durch den Verzicht des Gläubigers auf die Einlegung von Rechtsmitteln oder wegen eines mit dem Gläubiger geschlossenen Vergleichs wegfällt.[2]

 

Rz. 42

Eine andere Beurteilung ergibt sich, soweit die Bemessung der Rückstellungshöhe eine subjektive Schätzung des Bilanzierenden erfordert. Sie hat nach den Erkenntnismöglichkeiten am Abschlussstichtag zu erfolgen. Eine Rückbeziehung bis zum Tag der Abschlusserstellung gewonnener Erkenntnisse unter dem Aspekt der Wertaufhellung kommt in Betracht, wenn die stichtagsnachgelagerte Entwicklung am Abschlussstichtag bei angemessener Sorgfalt abzusehen war.[3] Im Übrigen wird eine zum Abschlussstichtag geforderte subjektive Wertschätzung durch Einbeziehung später erlangter Informationen nicht "richtiger". Vielmehr verschiebt sich der Bewertungszeitpunkt – entgegen der Anweisung des § 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB – in die Zukunft. Die vom Großen Senat des BFH erfolgte Aufgabe des subjektiven Fehlerbegriffs[4] bezieht sich nur auf die Anwendung von Rechtsfragen, nicht aber auf tatsächliche Beurteilungen.[5] Soweit die Würdigung eines Sachverhalts nach den am Abschlussstichtag erkennbaren Umständen zu einer vertretbaren Bewertung der anzusetzenden Rückstellung geführt hat, vermag der nachträgliche Geschehensverlauf daran nichts zu ändern.

 

Rz. 43

Ob die vom Bilanzierenden der Rückstellungsbewertung zugrunde gelegte Einschätzung vertretbar war, kann gleichwohl nicht losgelöst vom weiteren Geschehensverlauf beurteilt werden. Diesem kommt vielmehr die Funktion eines Beweisanzeichens für die aus Sicht des Stichtags gebotene Beurteilung zu. Sieht sich die Einschätzung durch die tatsächliche Entwicklung nach dem Abschlussstichtag bestätigt, spricht das für die Angemessenheit der Rückstellungsbewertung. Entwickeln sich die Dinge anders als vom Bilanzierenden erwartet, hat er darzulegen, warum der tatsächliche Geschehensverlauf aus der Perspektive des Abschlussstichtags nicht als überwiegend wahrscheinliches Szenario zu erwarten war. Dieser Beurteilungsansatz dient der Bilanzobjektivierung und begrenzt das subjektive Ermessen des Bilanzierenden.

 
Praxis-Beispiel

Automobilhersteller A hat Erkenntnisse über Probleme mit der Hinterachse des neuen Mittelklassemodells. Nach den bisherigen Erfahrungen zeigen sich bei 15 % der ausgelieferten Fahrzeuge nach einer gewissen Zeit Ermüdungserscheinungen in der Aufhängung. Bei hoher Beanspruchung treten die Mängel innerhalb des Gewährleistungszeitraums auf, in der Mehrzahl der Fälle erst später. Im ersten Fall trägt A sämtliche Kosten der Reparatur, im zweiten Fall übernimmt er aus Kulanz die Materialkosten. Auf dieser Basis rechnet A aus Sicht des Abschlussstichtags (31.12.01) mit künftigen Aufwendungen für Gewährleistung von 300 Mio. EUR.

Nachdem das Kraftfahrtbundesamt im Januar 02 eine Untersuchung des Vorgangs eingeleitet hat, fordert es A im März 02 zu einer Rückrufaktion auf. Die zusätzlichen Kosten der Rückrufaktion veranschlagt A mit 50 Mio. EUR. Zudem erwartet A einen Anstieg der Gewährleistungsaufwendungen für Instandsetzungen von Hinterachsaufhängungen wegen eines steigenden Entdeckungsrisikos innerhalb des Gewährleistungszeitraums.

Da die Verpflichtung zur Durchführung einer Rückrufaktion objektiv nach dem Abschlussstichtag entstanden ist, sind die Aufwendungen zum 31.12.01 nicht rückstellungsfähig. Die Gewährleistungsrückstell...

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