Leitsatz

1. Für ein arbeitsloses, behindertes Kind besteht ein Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG, wenn die Behinderung in erheblichem Umfang mitursächlich dafür ist, dass es keine Arbeit findet und deshalb außerstande ist, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Entscheidung, ob eine erhebliche Mitursächlichkeit gegeben ist, hat das FG unter Würdigung der Umstände des einzelnen Falls zu treffen (Bestätigung des Senatsurteils vom 19.11.2008, III R 105/07, BFH/NV 2009, 638, BFH/PR 2009, 220).

2. Ist keine erhebliche Mitursächlichkeit anzunehmen, besteht ein Anspruch auf Kindergeld auch dann, wenn die Einkünfte, die das Kind aus einer – trotz der Behinderung möglichen – Erwerbstätigkeit erzielen könnte, nicht ausreichen würden, seinen gesamten Lebensbedarf (existenziellen Grundbedarf und behinderungsbedingten Mehrbedarf) zu decken.

 

Normenkette

§ 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG

 

Sachverhalt

Die 1978 geborene Tochter (T) des Klägers ist seit 1986 zu 50 % behindert. Nach dem Besuch des Wirtschaftsgymnasiums wurde sie zur staatlich geprüften Gestaltungstechnischen Assistentin ausgebildet. Seit Juni 2001 war sie arbeitslos, ohne Arbeitslosengeld oder andere Leistungen zu erhalten. Im Februar 2003 heiratete sie. Die Familienkasse lehnte den Antrag auf Kindergeld bis Dezember 2003 ab.

Das FG (FG Köln, Urteil vom 16.02.2006, 2 K 2675/04, Haufe-Index 1807681) wies die Klage nach Einholung eines Gutachtens ab, weil T trotz ihrer Behinderung imstande war, wenigstens 20 Stunden in der Woche zu arbeiten. Dadurch hätte sie ihren gesamten notwendigen Lebensunterhalt decken können. Ab Februar 2003 sei zudem wegen der Heirat kein Kindergeld mehr zu gewähren.

 

Entscheidung

Der BFH hat das FG-Urteil aufgehoben. Im zweiten Rechtsgang ist nach den Kriterien unter 3. zu prüfen, ob T wegen ihrer Behinderung keine Arbeit gefunden hat. Anderenfalls müsste ermittelt werden, ob der gesamte Lebensbedarf – einschließlich Mehrbedarf – mit einer Tätigkeit von 20 Wochenstunden finanziert werden konnte. War T danach zu berücksichtigen, wäre weiter zu prüfen, ob die Heirat den Kindergeldanspruch wegen hinlänglicher Einkünfte des Ehemanns beendete.

 

Hinweis

1. Für ein volljähriges Kind besteht ein Anspruch auf Kindergeld bzw. Freibeträge gem. § 32 Abs. 6 EStG, wenn es behinderungsbedingt außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, d.h. mit den ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln seinen gesamten notwendigen Lebensunterhalt zu bestreiten. Dieser besteht aus dem Grundbedarf (= Jahresgrenzbetrag, § 32 Abs. 4 S. 2 EStG) zuzüglich dem behinderungsbedingten Mehrbedarf, der einzeln nachgewiesen oder mit dem Pauschbetrag nach § 33b Abs. 1 bis 3 EStG angesetzt werden kann.

2. Die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt kann neben der Behinderung auch andere Ursachen haben, z.B. ein ungünstiger Arbeitsmarkt oder die mangelnde Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung. Tatsächlich werden häufig mehrere Gründe zusammenkommen. Ob die Arbeitslosigkeit auf der Behinderung beruht, ist bedeutsam, weil aus anderen Gründen arbeitslose Kinder nur bis zum 21. Lebensjahr berücksichtigt werden.

3. Die Behinderung ist für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt in erheblichem Umfang mitursächlich, wenn das Kind nicht in der Lage ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarkts auszuüben oder wenn es dazu zwar imstande wäre, aber behinderungsbedingt keine Stelle erhält. Dies beurteilt der III. Senat nach folgenden Indizien:

  • Bei einem Grad der Behinderung (GdB) von weniger als 50 fehlt die Ursächlichkeit regelmäßig.
  • Bei einem GdB von 50 oder mehr müssen besondere Umstände hinzutreten, die eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts als ausgeschlossen erscheinen lassen.
  • Das Merkmal "H" (hilflos) indiziert eine Ursächlichkeit.
  • Eine nicht behinderungsspezifische Berufsausbildung indiziert die Vermittelbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
  • Kann die Agentur für Arbeit in einem mittelfristigen Zeitraum keine Stellenangebote benennen, spricht dies gegen die Vermittelbarkeit und damit für die erhebliche Mitursächlichkeit.
  • Ebenso wenn sich das behinderte Kind mehrfach erfolglos beworben hat. Dieses Kriterium ist allerdings zweifelhaft, weil es auf nicht behinderte arbeitslose Kinder in gleicher Weise zutrifft.

4. Die Eheschließung begründet Unterhaltsansprüche gegen den Gatten, die denen gegen die Eltern vorgehen. Nach einer Heirat steht den Eltern deshalb Kindergeld regelmäßig nicht mehr zu. Das wurde bisher mit dem Fehlen einer "typischen Unterhaltssituation" begründet. Wenn dieses im Gesetzeswortlaut nicht enthaltene Merkmal in der künftigen Rechtsprechung entfallen sollte – der III. Senat hat Zweifel angedeutet –, lässt sich das Ergebnis gleichwohl aufrechterhalten, wenn der Ehegattenunterhalt als Bezug des Kinds angesehen werden kann. Das Kind wird aber weiterhin bei den Eltern berücksichtigt, wenn die Einkünfte seines Ehepartners für seinen vollständigen Unterhalt nicht ausreichen ("Mangelfall").

 

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