Leitsatz

1. Übernimmt der Jugendhilfeträger die Kosten des notwendigen Unterhalts für das – gegen den Willen des Kindergeldberechtigten – in einer betreuten Wohnform lebende volljährige Kind, sind die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 S. 1 und 4 EStG für eine Abzweigung des Kindergelds an den Jugendhilfeträger dem Grunde nach erfüllt, wenn der Kindergeldberechtigte es ablehnt, sich an diesen Kosten zu beteiligen.

2. Bei der Ermessensentscheidung über die Höhe der Abzweigung sind aber andere zum Unterhalt rechnende Aufwendungen des Kindergeldberechtigten für das Kind wie z.B. Schulgeld zu berücksichtigen.

 

Normenkette

§ 74 Abs. 1 S. 1 und 4 EStG, § 102 FGO, § 10 Abs. 2, § 34, § 39, § 41, § 91 Abs. 1 Nr. 5, § 92 Abs. 1 Nr. 5, § 94 Abs. 3 SGB VIII, § 5 AO

 

Sachverhalt

Die im März 1987 geborene Tochter lebte zeitweise in einer Wohnform des betreuten Wohnens. Die Kosten hierfür übernahm der beigeladene Jugendhilfeträger, der im März 2006 beantragte, das Kindergeld an ihn abzuzweigen, weil die Klägerin sich weigere, Barunterhalt für die Tochter zu leisten.

Die Familienkasse zweigte das Kindergeld ab April 2006 in voller Höhe an den Jugendhilfeträger ab. Mit ihrem Einspruch machte die Klägerin geltend, sie sei nicht damit einverstanden, dass der Jugendhilfeträger ihrer Tochter das Wohnen außerhalb des Elternhauses ermögliche, und habe ihm mitgeteilt, dass der Tochter ein eigenes Zimmer im Elternhaus zur Verfügung stehe und ansonsten der Unterhalt innerhalb der Familie gewährt werde. Ein Anspruch auf Barunterhalt bestehe nicht.

Das FG (FG München vom 14.10.2008, 12 K 2884/06, Haufe-Index 2288199, EFG 2010, 575) gab der Klage statt. Die Klägerin sei ihrer Unterhaltspflicht durch das Anbieten von Naturalunterhalt nachgekommen. Diese Bestimmung über die Art der Unterhaltsgewährung sei gegenüber der Tochter wirksam getroffen worden und gelte, weil sie nicht missbräuchlich sei, auch gegenüber Dritten.

 

Entscheidung

Der BFH hat das FG-Urteil aufgehoben und zurückverwiesen. Die Familienkasse hatte ihre Abzweigungsentscheidung allein auf den nicht geleisteten Barunterhalt für Unterkunft und Verpflegung gestützt und nicht geprüft, ob die Klägerin andere Zahlungen wie das von ihr behauptete Schulgeld erbracht hatte, die bei der Entscheidung über die Abzweigung des Kindergelds zu berücksichtigen sind. Ob die Klägerin derartige Zahlungen erbracht hat und welche Auswirkungen dies auf die Ermessensentscheidung hat, ist im zweiten Rechtsgang zu prüfen.

 

Hinweis

1. Kommt der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltspflicht gem. §§ 1601 ff. BGB nicht nach, dann kann das Kindergeld an die Person oder Stelle abgezweigt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt. Können die Eltern ihre Unterhaltspflicht verletzen, wenn sie Unterkunft und Verpflegung in ihrem Haushalt (Naturalunterhalt) anbieten, den das Kind nicht in Anspruch nimmt?

Eine zivilrechtliche Unterhaltspflicht der Eltern bleibt auch insoweit bestehen, als ein Träger von Jugendhilfeleistungen für den Unterhalt und die Unterbringung eines Kindes sorgt. Jugendhilfeleistungen dienen dem Ausgleich eines Erziehungsdefizits und sind daher mit Unterhaltsleistungen nicht "kongruent". Unterhaltspflichtige Eltern werden aber an den Kosten beteiligt (§ 10 Abs. 2 S. 1, § 91 Abs. 1 Nr. 5, § 92 Abs. 1 Nr. 5, § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII). Verweigern Eltern die Zahlung des Kostenbeitrags, dann kommen sie ihrer Unterhaltspflicht i.S.d. § 74 Abs. 1 S. 1 EStG objektiv und dauerhaft nicht nach; auf die Gründe kommt es nicht an.

2. Sind die Voraussetzungen einer Abzweigung wegen der Unterhaltspflichtverletzung erfüllt, hat die Familienkasse im nächsten Schritt nach sachgerechtem Ermessen über die Höhe der Abzweigung zu entscheiden; dies kann gerichtlich nur auf Ermessensfehler überprüft werden (§ 102 FGO). Die maßgeblichen Kriterien sind durch die Rechtsprechung des BFH geklärt:

  • Trägt der Kindergeldberechtigte überhaupt keine Unterhaltsaufwendungen, dann ist unter Berücksichtigung des nach § 5 AO maßgeblichen Zwecks des § 74 Abs. 1 EStG das gesamte Kindergeld abzuzweigen.
  • Geringe Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten sind bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen; auch ohne genaue Bewertung der Unterhaltsleistungen kann dann insbesondere eine teilweise – z.B. hälftige – Abzweigung des Kindergelds ermessensgerecht sein (BFH, Urteil vom 23.02.2006, III R 65/04, BFH/NV 2006, 1575, BFH/PR 2006, 356).
  • Entstehen dem Kindergeldberechtigten Unterhaltsaufwendungen mindestens in Höhe des Kindergelds, so ist auch dann, wenn diese nur einen geringen Bruchteil der z.B. von der öffentlichen Hand übernommenen Kosten ausmachen, allein die Auszahlung des vollen Kindergelds an den Kindergeldberechtigten ermessensgerecht (BFH, Urteil vom 09.02.2009, III R 37/07, BFH/NV 2009, 1015, BFH/PR 2009, 298).

3. Eine Abzweigung (§ 74 Abs. 1 EStG) des vollen Kindergelds an einen Sozialleistungsträger kann nicht darauf gestützt werden, dass diesem ein sozialrechtlicher Erstattungsanspruch (§ 74 Abs. 2 EStG, hier i.V.m. § 94 Abs. 3 S. 2 S...

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