Leitsatz

1. Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO wird in einem gesonderten Verwaltungsverfahren getroffen.

2. Eine gesetzliche Frist, nach deren Ablauf eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO nicht mehr beantragt werden kann, bestand vor Inkrafttreten des § 171 Abs. 10 Satz 2 AO nicht.

3. Die Ermessensentscheidung nach § 163 AO darf jedoch ein Zeitmoment berücksichtigen.

4. Gerichte haben Verwaltungsanweisungen nicht selbst auszulegen, sondern nur darauf zu überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist.

 

Normenkette

§ 163, § 157 Abs. 2, § 169 Abs. 2 Nr. 2, § 171 Abs. 10, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 179, § 181, § 228 Satz 2, § 347 Abs. 1 Satz 2 AO, Art. 97, § 10 Abs. 12 EGAO, § 46, § 102 Satz 1, § 110 Abs. 1 Satz 1, § 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO

 

Sachverhalt

Die Kläger betrieben 1995 – zumindest nach den Kriterien des Großen Senats des BFH (BFH, Beschluss vom 10.12.2001, GrS 1/98, BStBl II 2002, 29, BFH/NV 2002, 587) – einen gewerblichen Grundstückshandel. Sie vertraten jedoch die Auffassung, das FA dürfe wegen des BMF-Schreibens in BStBl I 2003, 171, das eine Billigkeitsregelung für Altfälle enthält, diese Rechtsprechung nicht auf ihre Grundstücksaktivitäten anwenden. Vor dem FG kündigte der Prozessbevollmächtigte ausdrücklich einen Erlassantrag an, ohne ihn jedoch zu stellen. 2003 wies das FG die Klage ab mit Hinweis darauf, dass über eine Billigkeitsmaßnahme in einem gesonderten Verfahren zu entscheiden sei. Im Jahr 2010 haben die Kläger die Finanzverwaltung um die Prüfung einer Erlassmöglichkeit gebeten. Das FA lehnte die abweichende Festsetzung ab, da der Veranlagungszeitraum 15 Jahre und der Abschluss des Klageverfahrens mehr als sieben Jahre zurücklagen. Das FG hat der Klage stattgegeben (FG Münster, Urteil vom 8.5.2013, 3 K 3461/11 AO, Haufe-Index 6746759, EFG 2014, 972).

 

Entscheidung

Die Revision des FA war begründet. Der BFH hob das Urteil aus den unter den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen auf und wies die Klage ab.

 

Hinweis

1. Die Voraussetzungen der Billigkeitsmaßnahmen nach §§ 163, 227 AO sind gesetzlich nicht näher konkretisiert worden, vielmehr liegt die Billigkeitsentscheidung im Ermessen der Finanzbehörden. Zur Vereinheitlichung der Anwendung von Billigkeitsregeln kann wiederum das BMF Verwaltungsvorschriften erlassen, die die entscheidenden Ermessenserwägungen der Finanzbehörden festschreiben.

2. Verfahrensrechtlich wird die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO, die keines Antrags bedarf, in einem gesonderten Verwaltungsverfahren getroffen. Sie ist nach der ständigen BFH-Rechtsprechung ein für die Festsetzung einer Steuer bindender Verwaltungsakt und damit Grundlagenbescheid für die Steuerfestsetzung i.S.d. § 171 Abs. 10 AO, die folglich nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO anzupassen ist.

3. Bereits vor der Anwendbarkeit des § 171 Abs. 10 Satz 2 AO n.F. durfte bei der Ermessensausübung im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO ein Zeitmoment berücksichtigt werden. Zwar war eine abweichende Festsetzung nach § 163 AO nach hergebrachter Rechtsprechung auch möglich, wenn diese bereits bestandskräftig war, und zwar selbst dann, wenn für diesen Bescheid bereits Festsetzungsverjährung eingetreten war. Es stellte aber eine dem Grunde nach zulässige Ausübung des Ermessens dar, einen verhältnismäßig spät gestellten Erlassantrag im Hinblick auf den Zeitablauf zwischen Zahlung und Antragstellung abzulehnen und sich dabei an den zu Rechtsverlusten führenden gesetzlichen Fristen zu orientieren.

4. Auch wenn die Finanzverwaltung ohne förmlichen Antrag gehalten ist, eine Billigkeitsentscheidung zu treffen, muss der Steuerpflichtige, wenn er erkennt, dass sie die Billigkeitsmaßnahme nicht erlassen will, insistieren und auf eine förmliche Bescheidung bestehen, ggf. im Wege des Untätigkeitseinspruchs nach § 347 Abs. 1 Satz 2 AO und der Untätigkeitsklage nach § 46 FGO.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 21.7.2016 – X R 11/14

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