Tz. 57

Stand: EL 44 – ET: 06/2021

Neben der Wahrscheinlichkeit hinsichtlich des Vorliegens einer gegenwärtigen Verpflichtung am Bilanzstichtag muss es darüber hinaus wahrscheinlich (probable) sein, dass diese Verpflichtung durch einen Abfluss von Ressourcen, die einen wirtschaftlichen Nutzen darstellen, beglichen wird. Die Form der Begleichung ist dabei nicht entscheidend, solange sie zu einer Belastung für das bilanzierende Unternehmen führt. ISd. F.4.17 (2010) ist die Begleichung durch zB Zahlung flüssiger Mittel, Übertragung anderer Vermögenswerte, Erbringung von Dienstleistungen denkbar (vgl. mit weiteren Beispielen ADS Int 2002, Abschn. 18, Tz. 42). Wenn zwar eine Verpflichtung besteht, aber nicht damit zu rechnen ist, dass der Gläubiger seine Ansprüche einfordert und somit keine Ressourcen abfließen, ist keine Rückstellung zu bilden. Damit wird auch für rechtliche Verpflichtungen die wirtschaftliche Betrachtungsweise berücksichtigt (vgl. Hachmeister/Zeyer, in: Thiele/von Keitz/Brücks (Hrsg.), IAS 37, Tz. 208). So ist zB für eine übernommene Bürgschaft keine Rückstellung zu bilden, sofern aufgrund der Finanzlage des Unternehmens, für das gebürgt wurde, nicht mit der Inanspruchnahme der Bürgschaft zu rechnen ist (vgl. IAS 37, Anh. C, Bsp. 9). Ggf. ist über diese indes als Eventualverbindlichkeit im Anhang zu berichten (vgl. Tz. 140 ff.). Die praktische Schwierigkeit bei diesem Fall liegt indes darin, die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit des Nutzenabflusses zu beurteilen (vgl. dazu Tz. 59).

Fraglich ist zudem, ob auch in solchen Fällen, in denen zwar eine rechtliche Verpflichtung besteht, der Anspruchsberechtigte bis zum Bilanzstichtag indes keine Kenntnis davon hat, keine Rückstellung zu bilden ist. Gem. IAS 37, Anh. C, Bsp. 6 ist der Ansatz einer Rückstellung für Strafzahlungen bei Verstößen gegen Umweltauflagen davon abhängig, wie konsequent die Nichteinhaltung von behördlichen Umweltauflagen von den jeweiligen Behörden verfolgt wird. Ist es wahrscheinlich, dass eine Behörde die Einhaltung überprüft und eine Nichteinhaltung konsequent geahndet wird, ist eine Rückstellung zu bilden. Gibt es hingegen zB Erfahrungswerte, dass eine Aufdeckung und Bestrafung der Nichteinhaltung der Umweltauflagen nicht konsequent verfolgt wird und somit der Ressourcenabfluss unwahrscheinlich ist, darf keine Rückstellung gebildet werden (aA Hachmeister/Zeyer, in: Thiele/von Keitz/Brücks (Hrsg.), IAS 37, Tz. 211, die bei Unkenntnis der Behörde pauschal einen Rückstellungansatz verneinen). Das Beispiel 6 aus IAS 37, Anh. C lässt sich auch auf andere Fälle übertragen. So ist zB im Fall einer Patentrechtsverletzung schon dann eine Rückstellung zu bilden, wenn der Inhaber des Patents zwar bis zum Bilanzstichtag noch keine Kenntnis über die Patentrechtsverletzung erlangt hat, es aber wahrscheinlich ist, dass er darüber früher oder später Kenntnis erlangt und sein Recht konsequent verfolgt (vgl. ähnlich Lüdenbach, PiR 2018, S. 196).

 

Tz. 58

Stand: EL 44 – ET: 06/2021

Bei der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit des Nutzenabflusses ist nicht zwingend auf eine einzelne Verpflichtung abzustellen. Vielmehr ist für ähnliche Verpflichtungen die Wahrscheinlichkeit für die gesamte Klasse der Verpflichtungen zu ermitteln (IAS 37.24; vgl. auch Rothoeft, 2004, S. 97). So ist zB für jede einzelne Gewährleistung eher unwahrscheinlich, dass diese in Anspruch genommen wird. Für die gesamten Gewährleistungen ist hingegen wahrscheinlich, dass hiervon zB 3 % in Anspruch genommen werden (vgl. IAS 37, Anh. C, Bsp. 1).

 

Tz. 59

Stand: EL 44 – ET: 06/2021

Der Interpretation bzw. Konkretisierung des Begriffs "Wahrscheinlichkeit" kommt bei der Rückstellungspassivierung eine zentrale Bedeutung zu. Denn nicht nur bei diesem zweiten Ansatzkriterium "Wahrscheinlichkeit des Nutzenabflusses", sondern bereits beim ersten Ansatzkriterium "Vorliegen einer Verpflichtung" spielt die Wahrscheinlichkeit eine Rolle, da zwar unsichere, aber wahrscheinliche Verpflichtungen definitionsgemäß auch zu Rückstellungen zählen (vgl. Tz. 38). Auch wenn der Wahrscheinlichkeitsbegriff hier zwei unterschiedliche Ebenen bzw. Fragestellungen betrifft, sollte dieser in beiden Fällen einheitlich interpretiert werden (vgl. Hachmeister/Zeyer, in: Thiele/von Keitz/Brücks (Hrsg.), IAS 37, Tz. 212). Ab wann das Vorliegen einer Verpflichtung und der Nutzenabfluss für eine Passivierungsfähigkeit hinreichend wahrscheinlich sind, wird im framework 2010 nicht bestimmt. So bleibt im framework 2010 offen und damit im Ermessensspielraum des Bilanzierenden, ob bei einer 51 % oder erst bei einer zB 70 % Wahrscheinlichkeit das Kriterium erfüllt ist. Die Erläuterungen des framework 2010s geben hierzu keine hilfreichen Hinweise.

 

Tz. 60

Stand: EL 44 – ET: 06/2021

In IAS 37 hat sich der IASB sowohl hinsichtlich der erforderlichen Höhe der Wahrscheinlichkeit (probability) des Vorliegens der Verpflichtung als auch des Nutzenabflusses für die Ansatzpflicht indes festgelegt. So ist eine für die Passivierung hi...

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