Bei Arbeitsunfällen wird durch die Regelungen der gesetzlichen Unfallversicherung nicht nur die Haftung des Arbeitgebers eingeschränkt, sondern auch die eines sonstigen Schädigers. Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Arbeitsunfall von Mitarbeitern desselben Betriebs verursachen, sind den geschädigten Kollegen oder deren Hinterbliebenen nur dann zum Ersatz des Personenschadens verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt haben (§ 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII).

Die Haftungsbeschränkung des im selben Betrieb Tätigen entfällt aber nur dann wegen Vorsatzes,

  • wenn der Schädiger den Arbeitsunfall bewusst und gewollt herbeigeführt hat (dolus directus) oder
  • wenn er ihn für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat (dolus eventualis = bedingter Vorsatz).

Für den Wegfall des Haftungsausschlusses genügt es nicht, dass der Schädiger ein bestimmtes Handeln, das für den Unfall ursächlich war, gewollt und gebilligt hat, wenn der Unfall selbst nicht gewollt und nicht gebilligt wurde. Der Vorsatz des Schädigers muss daher nicht nur die Verletzungshandlung, sondern auch den Verletzungserfolg umfassen (BAG, Urteil v. 19.2.2009, 8 AZR 188/08).[1]

 
Praxis-Beispiel

Gabelstaplerunfall

Ein Lagerist fuhr mit dem Gabelstapler aus dem Materiallager für Maschinen durch eine Verbindungstür in die Maschinenhalle. Hinter der Durchfahrt befand sich im vorderen Bereich der Maschinenhalle an der Decke ein Spiegel in Form einer Halbkugel, der allen Personen eine Rundumsicht ermöglichen sollte. Der Lagerist konnte auf seinem Weg wegen der geringen Höhe der Durchfahrt in die Maschinenhalle und wegen des Vorbaus des Gabelstaplers erst sehr spät mithilfe des Spiegels einen vollständigen Rundumblick über den Türbereich der Maschinenhalle erlangen. Als er die Tür durchfuhr, näherte sich aus der Fahrtrichtung von links ein als Schlosser angestellter Kollege. Der Staplerfahrer fuhr mit dem linken Vorderrad des Gabelstaplers über den rechten Fuß des Schlossers; dieser erlitt trotz Sicherheitsschuhen einen dreifachen Bruch des rechten Mittelfußes. Die Berufsgenossenschaft hat den Unfall als Arbeitsunfall anerkannt.

Das Gericht (LAG Schleswig-Holstein, Urteil v. 31.5.2017, 6 Sa 307/16) unterstellte zugunsten des Klägers, dass der Beklagte pflichtwidrig gehandelt hat, indem er mit überhöhter Geschwindigkeit in die Maschinenhalle eingefahren ist und nicht hinreichend sorgfältig in den Deckenspiegel geschaut hat, ob sich ein Fußgänger im Kreuzungsbereich befindet. Allerdings verneinte es eine vorsätzliche Unfallverursachung, insbesondere ergebe sich aus der Pflichtverletzung nicht, dass der Beklagte auch die Unfallfolgen, hier die Verletzungen des Klägers, billigend in Kauf genommen habe.

Fazit: In der Praxis ist bei "klassischen" Arbeitsunfällen in typischen Routinesituationen auch bei vorsätzlicher Nichtbeachtung von Arbeitsschutzvorschriften eine vorsätzliche Herbeiführung eines Versicherungsfalls regelmäßig nicht gegeben.

Außerdem ist ein Haftungsausschluss aufgrund einer Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte möglich (§ 106 Abs. 3 SGB VII). Ein solcher kommt in Betracht, wenn betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen vorliegen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen. Es reicht aus, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend erfolgt (BAG, Urteil v. 12.12.2002, 8 AZR 94/02).

 
Praxis-Beispiel

Unfall beim Rangieren

Ein Lkw-Fahrer hatte im Auftrag seines Arbeitgebers auf dem Betriebshof einer dritten Firma Gasflaschen angeliefert. Während er hinter dem Lkw stand und diesen entlud, kam ein Lkw-Fahrer einer weiteren Firma ebenfalls auf das Firmengelände. Er wollte dort im Auftrag des Arbeitgebers Waren anliefern oder abholen. Der Lkw fuhr auf das stehende Fahrzeug des ersten Fahrers auf, der zwischen beiden Fahrzeugen eingeklemmt und schwer verletzt wurde.

Eine "gemeinsame Betriebsstätte" kann nicht ohne ein Zusammenwirken der Beteiligten vorliegen. Die vom Gesetz geforderte "gemeinsame" Betriebsstätte setzt mehr voraus als "dieselbe" Betriebsstätte. Der Gesetzgeber hat nämlich mit dem Postulat der gemeinsamen Betriebsstätte offensichtlich bezweckt, den Kreis der Schadensfälle einzuschränken, in denen eine Haftungsbefreiung einsetzen soll, wenn das Zusammentreffen der Risikosphären mehrerer Betriebe zum Schadensfall führt. Ein rein zufälliges Aufeinandertreffen genügt nicht, weil hier ein bewusstes und gewolltes Ineinandergreifen der Tätigkeiten der Beteiligten fehlt. Allein der Umstand, dass die Tätigkeiten der Beteiligten der Abwicklung des geschäftlichen Warenaustausches der dritten Firma dienen sollten, ist nicht geeignet, die beiderseitigen Aktivitäten in der erforderlichen Weise miteinander zu verknüpfen (BAG, Urteil v. 12.12.2002, 8 AZR 94/02).

[1] DB 2009, 1134, Rn. 50.

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