Korrekte Berechnung des Schwangerschaftsbeginns

Der Sonderkündigungsschutz für schwangere Arbeitnehmerinnen nach § 17 Abs. 1 Nr. 1 MuSchG knüpft am tatsächlichen Vorliegen einer Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung an. Will die Arbeitnehmerin das Vorliegen der Schwangerschaft über eine statistische Wahrscheinlichkeit herleiten, ist dieses über einen Anscheinsbeweis möglich, der aber nur bei typischen Geschehensabläufen greifen kann.

Ausgehend von einem typischen Geschehensablauf können nach Ansicht des LAG Baden-Württemberg zur Ermittlung des Zeitpunkts der Konzeption vom ärztlich festgestellten voraussichtlichen Entbindungstermin nur 266 Tage zurückgerechnet werden. Damit stellt sich das Gericht gegen die vom BAG in ständiger Rechtsprechung angewandte Rückrechnung um 280 Tage, da dies zu Ergebnissen führe, die mit typischen Schwangerschaftsverläufen nicht in Deckung zu bringen seien.

Der Fall: War die Gekündigte bereits im Mutterschutz?

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin und über Weiterbeschäftigung.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin mit Schreiben vom 6.11.2020 zum 23.11.2020, hilfsweise zum nächstmöglichen Termin. Der Betriebsrat wurde vor der Kündigung angehört. Er gab am 5.11.2020 eine abschließende Stellungnahme ab, gegen die Kündigung keine Bedenken zu haben.

Gegen diese Kündigung richtet sich die Kündigungsschutzklage der Klägerin, die am 12.11.2020 beim Arbeitsgericht einging. Mit Schriftsatz des Klägervertreters vom 2.12.2020 teilte die Klägerin unter Beifügung einer „Schwangerschaftsbestätigung“ ihrer Frauenärztin vom 26.11.2020 mit, schwanger zu sein und sich in der sechsten Schwangerschaftswoche zu befinden. Die Klägerin hielt die Kündigung wegen Verstoßes gegen das Kündigungsverbot des § 17 Abs. 1 MuSchG für unwirksam. Sie behauptete, zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs bereits schwanger gewesen zu sein.

Das Arbeitsgericht kam zu dem Schluss (Urteil vom 15.04.2021, Az. 8 Ca 327/20), dass es entscheidungserheblich sei, wieviele Tage vom voraussichtlichen Entbindungstermin zurückzurechnen sei, wenn das Verfahren von diesem Anscheinsbeweis abhängig sei. Gegen die Rechtsprechung des BAG, das 280 Tage zurückrechnet, war es jedoch nur bereit, 266 Tage zurückzurechnen, so dass die Gekündigte zum Kündigungszeitpunkt nicht dem gesetzlichen Mutterschutz unterstand. Dagegen legte die Arbeitnehmerin Berufung ein.

LAG: Der Schutzzeitraum wird vom BAG in einer nicht gebotenen Weise überdehnt

Auch das LAG stellt sich mit seinem Urteil vom 1.12.2021 (Az. 4 Sa 32/21) gegen die Rechtsprechung des BAG (z.B. Urteil vom 26.3.2015, Az. 2 AZR 237/14), das beim Wahrscheinlichkeitsbeweis 280 Tage vom voraussichtlichen Entbindungstermin zurückrechnet. Die Rechtsprechung des BAG vermenge - so das LAG - die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Kündigungsschutzes (also die Existenz der Schwangerschaft) mit der prozessualen Frage des Nachweises der Schwangerschaft und überdehne dadurch zugleich den Schutzzeitraum in einer vom Normzweck nicht gebotenen Weise.

Vom Normzweck soll nur die tatsächlich Schwangere geschützt werden. Die Darlegungs- und Beweislast trägt die Arbeitnehmerin. Wird die Darlegung und der Beweis über statistische Wahrscheinlichkeiten hergeleitet, sei dies allenfalls über einen Anscheinsbeweis möglich. Dieser erleichtert einen Beweis aber nur bei typischen Geschehensabläufen. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung muss ein bestimmter feststehender Sachverhalt auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweisen.

Eine solche typische Wahrscheinlichkeitsbeurteilung könne aber nur für einen Zeitraum von 266 Tagen vor der (voraussichtlichen) Entbindung getroffen werden. Die - letztlich fiktive - Vorverlegung des Schwangerschaftsbeginns auf den ersten Tag der letzten Regelblutung bezieht den Kündigungsschutz auf einen Zeitpunkt, zu dem eine Schwangerschaft nicht nur wenig wahrscheinlich, sondern extrem unwahrscheinlich und praktisch fast ausgeschlossen sei.

Praxistipp: Für die betriebliche Praxis von immenser Bedeutung

Für die betriebliche Praxis ist die Entscheidung von immenser Bedeutung, verkürzt das LAG doch den bisher von der Rechtsprechung angenommenen Kündigungsschutz um immerhin 14 Tage. Das LAG beruft sich dabei auf wichtige Stimmen in der arbeitsrechtlichen Literatur, hat aber gleichwohl die Revision zum BAG zugelassen. Wird diese eingelegt, wird man abwarten müssen, ob das BAG seiner Rechtsprechung treu bleibt. Bis dahin sollten solche Kündigungen unter dem Gesichtspunkt einer gewissen Rechtsunsicherheit mit Vorsicht betrachtet werden.